Читать книгу Anja, Petra und die Pferde - Lise Gast - Страница 8

... gibt es manchmal dunkle Stunden

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Am Nachmittag hielt es Vater nicht mehr aus. Er rief im Krankenhaus an. Anja wagte nicht, mit ihm ans Telefon zu gehen und mitzuhören. Sie stand im Flur und wartete, die Daumen in die Fäuste eingeschlagen. Als er zurückkam, war keinerlei Erleichterung in seinem Gesicht zu sehen. Er merkte auch gar nicht, wie Anja zu ihm aufblickte.

„Vater?“ fragte sie schließlich halblaut.

„Ach, Anja, du. Ja, ich fahre hin. Die geben einem ja keine Auskunft –“ Er riß seine Jacke vom Haken und wollte an Anja vorbeihasten. Im letzten Augenblick hielt er inne, sah sie an – und dann strich er ihr zärtlich über den Kopf.

„Anja, Kleines! Paß mir gut auf die Jungen auf! Und halt die Ohren steif. Du bist ja gar kein Kleines mehr, du bist groß – und tapfer!“ Er nickte ihr zu, gleich darauf war er hinaus.

Anja lauschte seinen Schritten, solange sie sie hören konnte. Sie stand wie erstarrt. Dann, als sie das Gartentürchen zufallen hörte, rannte sie ins Zimmer und ans Telefon. Wählte mit fliegenden Fingern: Petra! Sie mußte mit Petra sprechen. Petra mußte herkommen, sofort, und bei ihr bleiben, bis Vater wiederkam, damit sie nicht allein mit dieser entsetzlichen Angst war. Petra sah immer und überall das Gute, das Hoffnungsvolle. Sie würde auch jetzt etwas wissen, was tröstete, vor allem aber würde sie bei ihr sein. Anja sehnte sich nach ihr wie noch nie, so meinte sie, in ihrem ganzen Leben.

Hoffentlich war die Leitung nicht besetzt. Nein, es tutete. Und dann hörte sie eine Stimme, aber nicht Petras Stimme: „Hier bei Hartwig, guten Tag.“

Eine von Petras Schwestern oder die Hausangestellte. Hartwigs hatten eine Haushilfe, Anja wußte das.

„Hier ist Anja. Kann ich Petra sprechen? Es ist dringend.“

„Petra? Nein, bedauere. Petra ist nicht im Haus.“ Anjas Herz sank.

„Und wo? Wo kann sie denn sein?“

„Im Reitverein, nehme ich an. Kann ich etwas ausrichten?“

„Nein, danke.“ Anja brachte die Worte kaum heraus. Sie legte auf. Und dann setzte sie sich auf die Couch neben dem Telefon, verbarg das Gesicht in der Armbeuge und blieb lange so sitzen, regungslos. Sie hatte das Gefühl, als würde es nie wieder hell um sie werden, als sei sie von Gott und allen Menschen verlassen.

Wie lange sie so saß, wußte sie nicht. Als sie einen Bums aus dem Kinderzimmer hörte, raffte sie sich auf und schlich hinüber. Sie sollte ja auf die Jungen achtgeben! Vater hatte sie extra gebeten.

Nein, es war keiner aus dem Bett gefallen, wie sie einen Augenblick lang befürchtet hatte. Mutter und Vater setzten die beiden, wenn sie einen Augenblick sich selbst überlassen bleiben mußten, meist in ihre Bettchen, die hohe Holzgitter hatten, damit sie nicht herausfallen konnten. Was aber bringen kleine Kinder um den ersten Geburtstag herum nicht alles fertig!

Der eine, Volker, hatte seinen Holzkasper hinausgeworfen, das war der Bums gewesen. Anja hob ihn geistesabwesend auf, gab ihn ihm zurück und half Reinhold, der aufstehen wollte und sich dauernd mit einem Fuß auf den anderen trat, in die richtige Lage. Dann setzte sie sich und blieb regungslos sitzen und starrte die Jungen an.

Petra im Reitverein. Petra fort, einfach so, ohne sie. Sonst kam sie immer hier vorbei, warum heute nicht? Warum ausgerechnet heute nicht, da sie, Anja, so grenzenlos und schrecklich allein war? O Petra, ist das Freundschaft, ist das Treue? Anja hatte das Gefühl, erst jetzt, aber jetzt wirklich, in die tiefste Dunkelheit der Angst und Sorge hinuntergerutscht zu sein. Wie sollte sie je wieder daraus hervorkommen?

Nach einer Weile merkte sie, daß die beiden Kleinen brüllten. Volker hatte damit angefangen, er lag auf dem Bauch, halb auf seinem Kasper, der ihn wahrscheinlich drückte. Und als er seine Stimme erhob, stimmte Reinhold ein. Anja wurde es erst jetzt bewußt. Schwerfällig stand sie auf, rückte den Kleinen zurecht und schlich in die Küche, um eine Banane zu holen. Sie schälte sie, brach sie in der Mitte durch und gab jedem der Jungen eine Hälfte in die Hand. Und dann putzte sie sich die Nase und begann einzusammeln, was die Jungen aus dem Bettchen geworfen hatten.

Wenn Mutter nicht wiederkam! Wenn sie nicht wieder gesund wurde! So etwas gab es doch. Wenn sie Vater und sie und die kleinen Jungen allein ließ!

O nein, o nein! Bitte, bitte nicht, lieber Gott! Anja, von Angst gepeinigt, sah sich um – was konnte man tun, was unternehmen? Nur dasitzen und auf die Jungen aufpassen machte einen verrückt, vollkommen verrückt.

Ihr Blick blieb am Spielzeugregal hängen. Alles war wüst hineingestopft, Bausteine und Brummkreisel und Schlaftiere. Ruckartig sprang sie hoch, warf – nun aber entschlossen, ganze Arbeit zu machen – alles, was in dem Regal lag, erst einmal auf die Erde. Und dann fing sie an zu sortieren: die Bausteine in den Baukasten, die Schlaftiere auf den Wickeltisch –

„Ja, ja, ich bin ja da“, sagte sie, und setzte Reinhold richtig hin und gab ihm den Rest der Banane aufs neue in die Hand. „Jetzt sind wir mal alle drei ganz tüchtig. Ihr eßt eure Banane, und Anja räumt auf, aber fein, ganz fein, wie Mutter es gern hat.“

Sie bückte sich, stapelte, sortierte. Merkwürdig, jetzt gingen alle Spielsachen ins Regal hinein, es blieb sogar noch Platz frei. Anja legte die Bilderbücher aufeinander, fand eine alte Klapper, die Volker früher so geliebt hatte, daß er ohne sie nicht spazierenfahren und einschlafen konnte, und gab sie ihm in die Hand. Er strahlte auf. Anja lachte ihn an.

„Nicht wahr, das ist fein? Da freust du dich.“

Sie hatte gar nicht gemerkt, daß sie lachte. Gerade kam Vater herein. Vorhin hatte sie immerzu nur gelauscht, ob sie nicht Schritte und das Umdrehen des Schlüssels hören würde. Jetzt stand er, ohne daß sie ihn hatte kommen hören, in der Tür.

„Vater –!“

„Anja! Nein, bist du tüchtig!“

Vaters Gesicht war verändert, sie hatte es sofort gesehen. War –

„Geht es Mutter besser?“ fragte sie atemlos. Er nahm sie in die Arme und drückte sie.

„Ja. Ein bißchen besser. O Anja, bin ich froh –“

Kann die Sonne aufgehen, auch wenn es schon Nachmittag ist?

„Hör mal, Tochter“, sagte Vater nach einer Weile, „du hast dich so wacker geschlagen, nicht nur die Jungen gut gehütet, sondern auch so schön aufgeräumt. Wie steht es, hast du noch Schularbeiten zu machen oder sonst etwas vor? Ich könnte dich jetzt gut einmal ablösen. Lauf, wenn du magst. Oder möchtest du vielleicht auf einen Sprung in den Reitverein?“

„O nein, Vater, danke. Aber –“

„Aber?“

„Ich möchte Petra noch mal anrufen.“

„Noch mal? Hast du es denn schon einmal versucht?“

„Ja, aber sie war nicht zu Hause. Ich möchte –“ in diesem Augenblick schellte es an der Tür. Anja sprang auf und flitzte wie der Wind in den Flur. Es war, als wüßte sie, wer kam. Sie riß die Tür auf – wahrhaftig!

„Petra! Und ich dachte, du wärst ...“

„Im Reitverein? Pustekuchen! Mutter war gestern abend so sauer, daß ich so spät angetanzt bin, da hab’ ich heute Tausenderlei für sie in der Stadt besorgen müssen. Und ich wollte doch zu dir!“

„Wolltest du?“ In Anjas Herz ging die Sonne auf, das zweite Mal heute. Petra hatte sie nicht verlassen! Sie war nicht ohne sie zum Reitverein gefahren. Ihr erster Weg, nachdem sie zu Hause gut Wetter gemacht hatte, führte zu ihr! Anja fühlte es heiß in ihrem Herzen aufsteigen vor Glück: Petra war treu. Gleichzeitig aber schämte sie sich auch und gab das ehrlich vor sich zu. Ein einziges Mal war Petra nicht dagewesen, als sie anrief, und schon glaubte sie, sie habe sie vergessen.

„Ach, weißt du, es war so schrecklich. Die Angst um Mutter – und Vater weg und du nicht zu erreichen. Jemand am Telefon bei euch sagte, du wärst im Reitverein. Das stimmte also gar nicht.“

„Nein. Hille war das sicherlich, Hille, unsere Perle. Sie ist sonst sehr nett, aber daß ich dauernd weg bin, das ärgert sie. Wir verstehen uns nämlich sonst sehr gut, nicht so gut wie du und ich, aber Spaß haben wir auch miteinander. Sie reitet nicht, weißt du.“

„Ach so. Und da beneidet sie dich.“ Das konnte Anja verstehen.

„Aber davon abgesehen ist sie sehr nett und tüchtig! Und lustig! Meine Mutter sagt immer, die würde auch mit sieben Kindern fertig, spielend. Und –“

„Wer wird spielend mit sieben Kindern fertig?“ fragte Vater jetzt sachte dazwischen. Er hatte Petras temperamentvolle Äußerung mitgehört.

„Hille, unsere Staubsauger-Fee. So nennt Mutter sie manchmal. Oder Hausmütterchens rechte Hand. Wenn was weg ist, heißt es: ‚Nicht verzagen, Hille fragen.‘ Bei uns ist nämlich oft was weg, vor allem bei Martina. Die ist einmalig liederlich. ‚Wer ordentlich ist, ist nur zu faul zum Suchen‘, sagt sie. Na ja, pingelig ordentlich bin ich auch nicht.“

Vater lachte.

„Das war mir auch noch nicht aufgefallen. Außer beim Reiten. Da geht doch bei dir alles wie am Schnürchen, oder? Ich meine, da bist du ordentlich beim Putzen und Satteln und Aufzäumen und dem allen –“

Petra sah zu ihm auf.

„Das muß aber auch sein“, sagte sie ernsthaft. „Das Pferd kann doch nicht sagen, wenn etwas nicht stimmt. Wenn etwas kneift oder schabt oder sonstwie unangenehm ist. Wenn es Satteldruck hat oder das Kopfstück nicht richtig sitzt oder – das ist so ähnlich, wie wenn bei uns meinetwegen ein Nagel im Schuh ist oder der Gürtel oder irgendein Gummizug zu eng sind. Schon eine falsch sitzende Naht kann einen beim Reiten zur Verzweiflung bringen. Wir können das ändern, das Pferd aber nicht. Deshalb muß man das alles ganz genau und ordentlich machen.“

Anja hörte aufmerksam zu. Ihr war das noch nie ganz klargeworden. Aber sie sah es ein. Petra konnte so was gut erklären. Später kam Vater noch einmal auf Hille zurück, auf die tüchtige Haushilfe bei Hartwigs.

„Wenn wir so eine hätten, jedenfalls für die Zeit, in der Mutter im Krankenhaus ist“, sagte er sehnsüchtig.

„Ja, da wär’ Hille genau richtig“, sagte Petra, „Sie müssen doch vormittags in die Schule, und Anja auch. Was soll dann mit den beiden kleinen Jungen werden?“

„Das ist es ja“, sagte Vater. Es klang ziemlich verzagt. Da hatte Petra wieder einmal eine ihrer zündenden Ideen.

„Hille müßte herkommen, wenigstens den Vormittag über“, sagte sie, „vielleicht tut sie es, wenn Sie sie bitten und meine Mutter einverstanden ist? Mutter würde schon nicht nein sagen, sie weiß ja, daß Sie Zwillinge haben. Und gerade welche im schlimmsten Alter.“ Petra hatte manchmal mit Anja zusammen die kleine Rasselbande hüten müssen und wußte, wie mühsam das ist. „Das wäre doch eine Art von Nachbarschaftshilfe. Bei einer Familie, die näher bei uns wohnt, hat Hille schon einmal so ausgeholfen, als die Mutter im Krankenhaus lag.“

„Wirklich? O Petra, das ist ein toller Gedanke! Aber sie hat doch bei euch zu tun.“

„Freilich, aber das kann man doch einrichten. Damals ging es auch. Dann steht sie eben eher auf – und manches, was man sonst vormittags tut, kann man ja nachmittags machen, vorbereiten – und Mutter ist ja auch noch da.“

„Ich würde sie natürlich gut bezahlen“, sagte Vater eifrig. Petra lachte.

„Eben. Sie spart nämlich auf den Führerschein. Deshalb wird sie sicherlich mitmachen, denke ich.“

„O Petra, würdest du sie mal fragen? Zuerst natürlich deine Mutter, die müßte ja einverstanden sein ...“

„Mutter? Lieber nicht“, sagte Petra und schnitt ein klägliches Gesicht, „jedenfalls nicht heute und morgen. Mutter ist sicher noch auf hundert wegen mir. Das müßten Sie schon selber machen.“

„Da hast du recht“, sagte Vater. „Am besten, ich fahre gleich mal zu euch, telefonisch geht so was schlecht. Bleibt ihr hier, ihr beiden hilfreichen Geister? Ich bin ja jetzt auf Hilfe von allen Seiten angewiesen –“

Sie nickten ihm zu. „Paß auf, das klappt“, sagte Petra, und Anja sah sie dankbar und bewundernd an.

„Und nachmittags bin ich da. Ach, Petra, und Mutter geht’s besser! Ich hatte Angst wie in meinem ganzen Leben noch nicht. Ich glaube, das vergess’ ich nie!“

Anja, Petra und die Pferde

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