Читать книгу Reni - Lise Gast - Страница 5
Frau Jahnecke bekommt einen Brief, und Erika schmiedet einen Plan
Оглавление„Liebe Mutter! Ich schreibe Dir, weil es jetzt so traurig bei uns ist. Der Onkel Doktor ist fort und kommt so bald nicht wieder. Er ist nämlich krank. Wenn er nicht da ist, ist hier gar nichts los. Außerdem haben wir gerade Pause, da ist es nie schön. Tante Mumme hat aber Hobelspäne gebacken. Ich esse sie sehr gern. Tante Mumme ist auch lieb, aber der Onkel Doktor noch viel mehr. Ich hab einen neuen Luftanzug bekommen, blau mit weißen Sternchen, er ist sehr hübsch. Ich bin schon sehr braun gebrannt. Tante Mumme wird nie braun, nur rot. Wie geht es Dir? Mir geht es gut, ich meine mit der Gesundheit. Sonst bin ich immer noch traurig.
Viele Grüße Deine Reni.“
Seufzend steckte Frau Jahnecke den Brief in die Tasche ihrer Reithose. Sie hatte ihn schon mehrmals gelesen, aber immer wieder fand sie ihn betrüblich. Obwohl sie sich einzureden versuchte, daß Kinder oft in einer augenblicklichen trüben Stimmung schreiben, dann den Brief in den Kasten werfen und fröhlich pfeifend zum nächsten Spiel springen ... Es brauchte wirklich nichts Ernstes zu sein.
Aber es bedrückte sie. Sollte sie denn nie aus den Bedrückungen herauskommen? — fast schien es ihr heute so. Nun hatte sie doch endlich eine Stellung gefunden, in der es ihr gefiel, die ihr durch die nette Behandlung der Gutsleute und vor allem durch die geliebten Pferde innerlich etwas gab — die nicht nur einzig und allein ihr und Reni den Lebensunterhalt sicherte.
Und nun kam dies, daß Reni so traurig schrieb.
Es war ja wohl kein Wunder. Die Mutter ersetzt niemand, sagt man immer, und Reni wuchs eben ohne Mutter auf. Immer hatte sie gedacht, Kinder müßten mit Kindern aufwachsen, deshalb hatte sie Reni im Heim gelassen, wo immer Kinder waren — sie hatte sich selbst früher mehr Kinder als nur ein einziges gewünscht. Nun aber dachte sie, daß es doch vielleicht falsch war — daß auch gleichaltrige Kameraden und Gespielen nicht so wichtig sind wie die Mutter. Sie liebte ihr kleines Mädel, liebte es umsomehr, da es ja ihr einziger Besitz war — nur um Renis willen hatte sie auf ein Zusammenleben verzichtet.
Draußen schien die Sonne, es war ein wolkenloser, herrlicher Tag, aber ihr Herz war schwer. Schließlich schob sie ihre Rechnungen zusammen, schloß den Rollschreibtisch ab und stand auf. Sie hatte noch draußen im Vorwerk zu tun, vielleicht kam sie auf andere Gedanken, wenn sie das jetzt sofort erledigte.
Wirklich fühlte sie sich gleich ein bißchen besser, als sie den Pallasch auf den Hof hinausführte — er hob den Kopf und schnoberte in den wunderbaren Morgen hinaus. Sie saß auf; ach, nichts kam dem gleich, wenn der Sattel knarrte, wenn man das Pferd lebendig und geschmeidig unter sich fühlte. Reni müßte reiten lernen ... Sie trabte an. ‚Das höchste Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde‘, hieß es — ja, das war wohl nicht übertrieben. Es war, als streifte der Frühwind alle trüben Gedanken von ihr ab.
An der Parkecke machte der Pallasch einen erschrockenen Sprung, es kläffte um seine Beine. Max und Moritz, die beiden kleinen Schnauzer, waren auf ihn losgefahren — Frau Jahnecke sah sich um und entdeckte Erika drüben am Zaun. Sie parierte und wartete, bis das kleine Mädel herübergekommen war.
„Sind sie dir wieder mal ausgerissen?“ fragte sie freundlich.
„Ja, sie hören nicht“, sagte Erika ärgerlich, „ich kann pfeifen und rufen, soviel ich will ...“
„Sie werden es schon lernen, sie sind ja noch jung“, tröstete Frau Jahnecke, saß ab und versuchte, Erika zu helfen. Sie haschten nach den Hunden, die sich überkugelten, nach ihren Händen schnappten und sich um nichts in der Welt anleinen lassen wollten. „Jugend hat keine Tugend, Erika!“
„Ach, das sagt Fräulein Sonneson auch immer“, sagte Erika und lachte trübe, „als ob man was dafür könnte, daß man noch nicht älter ist!“
Frau Jahnecke sah in das hübsche, helle Mädchengesicht unter dem dunklen Haar, das jetzt mürrisch und verdrossen aussah — — nein, eigentlich mehr traurig. Sie mußte sofort wieder an ihr kleines Mädel denken. Zwölf Jahre alt war Erika Niethammer, ein Jahr älter als Reni ...
„Nein, dafür kann man nichts“, sagte sie lustig, mit dem Willen, ein bißchen zu trösten und aufzumuntern. „Aber es ist doch manchmal auch gut, wenn man noch klein ist ...“
„Wieso?“ fragte Erika mißtrauisch.
„Zum Beispiel, weil einen die Frau Jahnecke da mitnehmen kann auf dem Pallasch, was sonst nicht ginge — wenn man nämlich schon größer wäre“, lachte sie und nahm Erika mit einem Schwung vor sich auf den Sattel. „So, nun wollen wir uns mal tüchtig tummeln, du sollst mal sehen, wie einem da die schwarzen Gedanken vergehen.“
Sie trabte an. Erika strahlte — sie war nicht verwöhnt mit solchen Freuden. Und die Hunde kugelten hinter ihnen her, überpurzelten sich vor Eifer und jappten und kläfften — es war wirklich lustig. Frau Jahnecke sah mit Vergnügen, daß Erikas Gesicht sich autgehellt hatte. „Na, kann man auch mal wieder lachen?“ fragte sie freundlich.
„Ach, Sie sind immer so lieb zu mir“, sagte Erika dankbar, „mit Ihnen bin ich gern zusammen. Aber Sie haben ja auch niemals Zeit für mich — jedenfalls fast nie — höchstens mal abends, oder so wie jetzt.“
„Im Winter hab ich wieder mehr“, tröstete Frau Jahnecke. Es tat ihr selbst leid für das Kind — das wuchs so allein zwischen all den Erwachsenen auf, hatte kränkliche, überängstliche Eltern, eine freundliche, aber doch ziemlich strenge und sehr gewissenhafte Hauslehrerin ...
„Du müßtest eine Freundin haben, Erika, weil du doch keine Geschwister hast“, sagte sie herzlich, „Reni hat immer schrecklich viel Freundinnen und Freunde. Ihr Poesiealbum ist schon voll, sie wünscht sich zum Geburtstag ein neues!“
Sie brach ab. Renis Brief war ihr eingefallen — der klang ja nun nicht gerade übermäßig lustig. Erika konnte das natürlich nicht wissen, sie fuhr in dem leise betrübten Ton fort, der so viel schlimmer ist als Verdrossenheit und Nörgelei:
„Ja, Reni hat’s gut! Immer mit andern Kindern zusammen sein dürfen — das denke ich mir himmlisch. Wieviel sind da immer im Heim? Fünfzig? Da muß man doch herrlich spielen können. Und der Spaß abends im Schlafsaal!“
„Du hast doch dafür immer deine Mutter da“, sagte Frau Jahnecke leise. Erika wandte den Kopf nach ihr und sah sie an, nur einen Augenblick. Sie, ein Kind, das nur mit Erwachsenen zusammenkam, hatte eine viel feinere Witterung für die Stimmung der andern um sie her als sonst vielleicht ein zwölfjähriges Kind.
„Bangt sich Reni nach Ihnen, Frau Jahnecke?“ fragte sie still. Die Frau antwortete nicht gleich. Sie lenkte das Pferd in einen Feldweg und ließ es in Schritt fallen, klopfte ihm den Hals. Dann schwang sie sich vom Sattel und fing Erika auf, die auch herunterrutschte.
„Willst du hier auf mich warten, Erika? Mit dem Pallasch? Dann spring’ ich schnell über die Koppel zum Inspektor hinüber und sprech’ mit ihm, und du kannst rückzu wieder mitreiten. Willst du inzwischen Renis Brief lesen? Ich bekam ihn heute früh.“
Sie gab ihn dem Kind und nickte ihm zu, freundlich und herzlich. Dann kroch sie durch den Koppelzaun und ging über das kurze, federnde Gras hinüber nach dem Vorwerk, wo sie die Gestalt des Inspektors erkannt hatte.
Erika hatte den kurzen Brief sogleich überflogen. Sie sah ihn, im Gras sitzend und die Hunde, die immerfort mit ihr spielen wollten, abwehrend, noch einmal langsam durch, genau und sehr aufmerksam. Sie wußte seit vielen Jahren von Reni, es war ja klar, daß Frau Jahnecke oft mit ihr von der Tochter sprach. Gesehen hatte sie Reni noch nie, aber sie kannte alle Bilder, die Tante Mumme schickte. Als Reni sich Zöpfe wachsen ließ, wollte auch Erika welche haben und daß Renis Zöpfe hell waren wie verblaßtes Gold und ihre dunkelbraun, fast schwarz, das hatte sie oft gewurmt — sie fand nun einmal blondes Haar schöner. Frau Jahnecke tröstete sie — „Es ist Schneewittchenhaar“, hatte der Doktor einmal gesagt, als Reni ihm ein Bild von Erika zeigte, „wunderschön — bei einem Mädel wie dir hätte die Frau Königin sagen müssen: Ach hätt ich doch ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so goldig wie ein Bilderrahmen!“ Erika mußte lachen, als sie daran dachte.
Dann aber wurde sie wieder ernst. Reni tat ihr leid, aber eigentlich war es doch ein bißchen kläglich, so zu jammern. Eine solche Pause dauerte doch wohl nicht länger als einige Tage, und dann kamen wieder neue Kinder. Und der Doktor würde ja auch einmal wiederkommen — sie konnte sich nicht vorstellen, daß man sich nach einem Erwachsenen ernstlich bangen könnte. Sie, die immerzu mit Erwachsenen zusammen und noch keinen einzigen Tag von den Eltern getrennt gewesen war ...
Sie saß und sann. Erika hatte schon manches ausgebrütet, wenn sie so allein da hockte, die Hände um die Knie gefaltet, und ins Weite guckte. Sie fuhr zusammen, als Frau Jahnecke, auf dem weichen Boden unhörbar ausschreitend, hinter sie getreten war und ihr die Augen zuhielt. „Wer ist’s? Schwer zu raten, was?“
„Frau Jahnecke, ich hab’ mir was ausgedacht, was Wunderschönes — aber die wunderschönen Sachen werden fast nie wirklich“, sagte sie, als sie wieder zusammen auf dem Pallasch saßen und sich vorwärts wiegen ließen, „soll ich es Ihnen verraten? Es ist etwas für meinen Geburtstag, jedenfalls wünsch’ ich es mir dazu!“
„Ja? Dann sag’s nur, alle Wünsche kann man nicht erraten“, ermunterte Frau Jahnecke. Erika zögerte.
„Aber bitte nicht sofort wieder nein sagen“, bat sie ängstlich, „meistens heißt es sofort nein, wenn ich mir was ausgedacht hab’!“
„Armes Kind“, bedauerte Frau Jahnecke sie lachend und ein bißchen spottend, „bekommt keinen einzigen Wunsch erfüllt! Jetzt erst wieder die beiden Hunde, voriges Jahr das Pony ...“
„Ja, aber drauf reiten darf ich nicht, und kutschieren auch nicht, wenigstens fast nie“, rief Erika, „und nicht mal radfahren darf ich — Vater denkt, ich fall’ runter oder komm’ unter ein Auto, und Mutter meint, ich überanstreng’ mich — hier, wo alles eben ist und nirgends ein Berg!“
„Und keins von den Büchern, die man sich wünscht, bekommt man“, neckte Frau Jahnecke; sie wußte, daß gerade vorige Woche ein großes Bücherpaket gekommen war: Erika las viel und konnte davon nie genug bekommen.
„Ach, Sie lachen mich ja doch bloß aus“, schmollte Erika, „nein, ich wünsch’ mir diesmal etwas ganz anderes. Was Schönes, nicht nur für mich ...“
„Also schieß los, ich bin gespannt!“
„Passen Sie auf: Reni müßte herkommen. Für immer, für ganz. Sie müßte immer mit in meinem Zimmer schlafen und mit mir Zusammensein, beim Lernen und beim Schularbeiten machen und nachmittags, wenn wir frei haben. Und sie müßte auch ein Pony bekommen und Hunde — oder einen von meinen — und wir wären dann immer zu zweien — denn es gefällt Reni doch dort gar nicht mehr, sie schreibt doch ganz traurig. Finden Sie das nicht? Vielleicht ist die Tante Mumme gar nicht mehr nett zu ihr, es gibt doch Leute, die große Kinder nicht leiden mögen, bloß kleine. Im Dorf die Frau vom Lehrer — die war immer so nett zu mir und schenkte mir immer was, wenn ich hinkam, aber jetzt sieht sie mich gar nicht mehr an. Da hab ich die Marie gefragt, die älteste von dort, und die sagte: Mutter ist so. Die Kleinen frißt sie auf vor Liebe, aber auf uns schilt sie ...“
„Kindskopf du“, lachte Frau Jahnecke, „ihr Großen ärgert uns eben mehr als die Kleinen!“
„Aber wir würden Sie gar nicht ärgern, Reni und ich“, versprach Erika eifrig und mit ganz glühenden Backen — sie war sonst meist ziemlich blaß und farblos. Jetzt aber sah sie entzückend aus in ihrer Begeisterung, lebendig und munter. „Wir würden uns sicher herrlich verstehen, ach, und es müßte so wunderschön sein, nicht immer allein sein zu müssen.“
„Ja, das wäre schön für dich“, meinte Frau Jahnecke leise. „Dir wäre es schon zu gönnen!“
„Würden Sie denn wollen? Daß Reni wirklich ...“
Erika vermochte gar nicht zu Ende zu sprechen, so aufgeregt war sie. Frau Jahnecke war am Ende wirklich dafür, vielleicht sprach sie sogar mit den Eltern ...
„Können Sie nicht — ich meine, vielleicht könnten Sie mit Mutti sprechen und ihr sagen ...“
„Ach, Kind, ich! Ich kann doch nicht zu deiner Mutter gehen und ihr sagen: Ich möchte gern, daß meine Reni herkommt und es hier wie eine Prinzessin hat. Daß sie ein Pony bekommt und zwei Hunde, ein wunderschönes rosa überzogenes Bett, vierzehn Puppen ...“
„Frau Jahnecke, Sie machen Unsinn“, maulte Erika lachend, „außerdem hab ich nur dreizehn Puppen. Und Reni spielt doch gar nicht so gern mit Puppen, sagten Sie mal, — na ja, wenn sie auch immer Freundinnen da hat, braucht sie ja auch keine —!“ Das klang so bitter, daß Frau Jahnecke Erbarmen fühlte. Sie wurde ernst.
„Erika, du bist doch gar nicht mehr so klein, du kannst schon vieles verstehen, was Reni noch nicht kapiert“, sagte sie freundlich. „Glaubst du nicht, daß ich Reni sehr gern hier hätte? Daß das schon immer mein heißester Wunsch war — aber manche Wünsche erfüllen sich eben nicht!“
„Warum denn nicht? Es würde doch herrlich gehen“, meinte Erika, hartnäckig an ihrem Plan festhaltend. „Warum soll ich denn immer allein bleiben? Wenn ich schon keine Geschwister hab’, will ich wenigstens eine Freundin haben dürfen!“
„Schön wäre es freilich“, sagte Frau Jahnecke leise, „vor allem für dich.“ Sie hatte schon immer diesen geheimen Wunsch mit sich herumgetragen, aber noch mit niemandem darüber gesprochen, da es Reni im Heim so gut zu gefallen schien. Immer hatte sie gedacht: Das Glück des Kindes ist wichtiger als mein eigenes. Nun aber, da Reni so betrübt geschrieben hatte ...
Sie stieg ab, denn sie waren am Park angekommen, und half auch Erika aus dem Sattel.
„Danke“, sagte Erika und sah zu ihr auf, merkwürdig forschend und fragend. „Möchten Sie — möchten Sie, daß Reni lieber nicht herkommt?“ fragte sie jetzt leise und seltsam eindringlich. Frau Jahnecke erschrak.
„Aber warum denn nicht? Natürlich möchte ich es, natürlich wäre es für mich das Allerschönste ...“
„Aber?“ fragte Erika.
„Aber ich kann doch nie und nimmer deine Eltern um einen solchen großen Gefallen bitten, das ginge denn doch zu weit“, schloß Frau Jahnecke freundlich, aber bestimmt. Erika sah sie noch rasch aus den Augenwinkeln an. Dann sagte sie ganz leise, so daß Frau Jahnecke es nicht mehr hören konnte, aber sie sagte es und nickte dazu mit ihrem eigensinnigsten Gesicht, einem Gesicht, das nicht mehr wie zwölf, sondern wie mindestens zwanzig Jahre aussah, also sehr erwachsen und sehr zielbewußt: „Sie nicht. Aber ich.“
Sie wanderte durch den Park dem Gutshaus zu, hatte alles Interesse an den Hunden verloren. Wenn sie sich ausmalte, daß sie hier nicht mehr allein gehen würde — es war kaum auszudenken! Einem andern Kind alles zu zeigen, die Ställe, die Scheunen, ihr eigenes Zimmer, die Bücher — und die Puppen auch. Sie, Erika, liebte nämlich die Puppen noch sehr, obwohl sie schon zwölf Jahre alt war. Sie hatte so viel Freude an allen Handarbeiten, und da war es natürlich schön, viele Puppen zu haben, die man anziehen konnte. Ihr Puppenbaby hatte einen ganz richtigen, in buntem Muster gestrickten Strampelanzug, rosa und hellblau, mit Knöpfen auf den Schultern und richtigen Füßlingen, alles so echt, wie es sonst nur für kleine Kinder gemacht wird. Und die Dorle, die größte Puppe, besaß einen Hut, den sie, Erika, ganz ohne Vorlage selbst gemacht hatte — ob Reni das auch konnte? Sicher hatte Reni nur immer keine Zeit gehabt, sich mit Puppen abzugeben, das war ja erklärlich, wenn man immerfort neue Gesichter um sich hatte. Vielleicht lernt sie es hier bei ihr und wird noch eine ganz richtige, eifrige Puppenmutter .. Was sie zu ihrem Puppenhaus sagen würde! Ein richtiges Puppenhaus mit aneinanderzuhängenden Wänden, die so hoch waren, daß man gerade noch darüber weggucken konnte — so eins hatte Reni bestimmt noch nie gesehen! Es hatte in der einen Wand ein Fenster mit Glas und Gardinen, und in der andern eine Tür — und Tapete — sie würden es dann, wenn solches Wetter war wie heute, in den Garten stellen, am Schaukelplatz, oder etwas mehr in die Büsche, damit nicht jeder es gleich sah. Und dann machten sie sich Bänke und Tische und Stühle aus Ziegelsteinen mit Brettern, die man drüberlegte, und mit dem kleinen Spirituskocher konnten sie kochen. Im Freien durften sie das bestimmt, da konnte ja nichts anbrennen, oder — sie fragten ganz einfach nicht erst ...
Und Reni mußte natürlich mit in ihrem Zimmer schlafen. Einmal war eine Kusine von ihr dagewesen, vierzehn Tage lang, die hatte auch in ihrem Zimmer gewohnt, das war unbeschreiblich und unvergeßlich schön gewesen. Sie hatten sich abends vor dem Einschlafen immer so viel erzählt — dabei war die Susi noch ein paar Jahre älter als sie, wieviel schöner mußte das mit einem gleichaltrigen Mädel sein! Und ...
„Aber Erika? Wo steckst du denn? Ich warte und warte!“
Erika fuhr aus ihren Träumen auf und sah erschrocken in Fräulein Sonnesons vorwurfsvolles Gesicht.
„Ich wollte nur ...“
„Es ist längst elf, und du kommst nicht“, schalt Fräulein Sonneson halblaut, nicht bissig und wütend, sondern mehr müde — sie war keine böse Sieben, diese ihre langjährige Hauslehrerin. Sie war freundlich und gutmütig und auch geschickt, einem etwas beizubringen; Erika lernte bei ihr eigentlich ohne große Mühe viel. Aber sie war doch eben nicht jung ...
Erika bat um Entschuldigung, jagte die Hunde in den Hof und ging ins Lernzimmer hinauf. Ihr Schulranzen lag auf dem Tisch mit der grünen Decke — sie sah auf einmal zwei Schulranzen dort liegen. Zwei Stühle hinter dem Lerntisch, zwei aufgeschlagene Lesebücher, zwei gelangweilte oder vor unterdrücktem Lachen fast platzende Mädelgesichter ...
„Heute wollen wir mal ein Gedicht besprechen und dann auch lernen“, begann Fräulein Sonneson freundlich. „Du magst doch Gedichte gern, nicht wahr? Ich hab es auch gelernt, als ich so alt war wie du — ich ging damals noch in die Dorfschule.“
„Hoffentlich nicht ‚Die alte Waschfrau‘“, dachte Erika, während sie ihr Lesebuch aufschlug, aber Fräulein Sonneson sagte eine andere Seitenzahl an.
„Ich lese es dir erst einmal vor”, sagte sie, und Erika guckte auf die Sonnenkringel, die durch das dichte Weinlaub am Fenster hereinfielen. Dabei hörte sie zu, wie ihre Lehrerin begann:
„Der Mensch hat nichts so eigen,
So wohl steht ihm nichts an,
Als daß er Treu erzeigen,
Und Freundschaft halten kann.
Wenn er mit seinesgleichen
Soll treten in ein Band,
Verspricht sich, nicht zu weichen
Mit Herzen, Mund und Hand ...“
Ach, wie schön, dachte Erika entzückt, das ist doch, als ob der liebe Gott es gehört hat, was ich mir ausgedacht habe — schon ehe ich es ihm richtig gesagt und ihn darum gebeten habe. Er sieht einem eben ins Herz. Soll treten in ein Band ... ein Freundschaftsband. Dazu gehört eigentlich, daß wir uns auch ein äußeres Freundschaftsabzeichen ausdenken, etwas gegenseitig schenken, vielleicht eine Halskette? Mit den gleichen Anhängern ... oder einen Freundschaftsring ...
„Ja, ich kann das Gedicht schon, wenigstens den Anfang“, sagte sie zu Fräulein Sonneson, als diese danach fragte. „Ja, ich habe es einmal in einem Poesiealbum gelesen.“
In Renis Album schreib’ ich dann auch, vielleicht in das neue — oder ich schenk’ ihr eins — ich muß nur erst mit Frau Jahnecke sprechen. Das alte ist schon ganz voll, sagte sie — sie fühlte eine leise bohrende Eifersucht, beruhigte sich aber sofort wieder. Die Mädels, die nur sechs Wochen im Kinderheim gewesen waren, waren ja gar keine richtigen Freundinnen, nein, das konnten sie gar nicht sein. Aber wir, wir sind dann immer beisammen, immer, im Sommer und im Winter und in den Ferien und in der Schulzeit — und sonntags und wochentags. —
Ja, es war sicher ein Zeichen vom lieben Gott, daß er einverstanden war mit ihrem Plan, daß er sie gerade heute dies Gedicht lernen ließ. Wie gut, daß man Geburtstage hat, zu denen man sich etwas wünschen darf — und daß der Wunschzettel dies Jahr noch nicht geschrieben war. Sicher war Mutti einverstanden — sonst mußte sie es eben beim Vater versuchen, mit allen Mitteln ... wenn sie ihn bat, bat und bettelte: „Vater, ich will auch schrecklich folgsam und vernünftig sein — und fleißig in der Schule und artig zu Hause — Vater, ich möchte doch auch mal eine Freundin haben dürfen, bitte, bitte, Vater ...!“
Und vielleicht tat er es auch Frau Jahnecke zuliebe, dachte sie, wenn sie verzagt werden wollte — denn, daß das ein großer Geburtstagswunsch war, fühlte sie deutlich. Er hatte Frau Jahnecke doch gern — sie war so tüchtig und nett. Ja, schon ihr zuliebe würde Vater nicht nein sagen!