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Neues vom alten Doktor Schon wieder geht etwas schief
ОглавлениеIn der Frühstückspause — Fräulein Sonneson war von ihren Ferien zurückgekehrt und unterrichtete die Mädel jetzt wieder — lief Reni ins Büro hinunter. „Sicher ist ein Brief für mich da“, hatte sie Erika zugerufen. Gleich darauf erschien sie wieder, einen weißen Umschlag schwenkend. „Ich hab’s ja gewußt! Hurra!“
Erst aber suchte sie sich doch noch mit genießerischer Ruhe eins von den Broten vom Teller, der immer, wunderbar in seiner verschwenderischen Auswahl, den Studierenden aus der Küche heraufgeschickt wurde. Katri, das Küchenmädel, machte ihn täglich fertig, und bei ihr hatten die Mädel „Stand“. Außer den Brotschnitten bekamen sie auch noch herrlich kalte Milch oder Buttermilch, manchmal auch, wenn es kühler war, eine Tasse Fleischbrühe. Fräulein Sonneson ging mit ihrem Frühstück meist auf den Balkon hinaus, während die Mädel im Lernzimmer blieben. Das Lernzimmer war überhaupt so gemütlich, mit dem großen Tisch und der niedrigen Decke und den vielen Bücherregalen ringsum.
Reni schlitzte den Brief mit dem Löffelstiel auf, gab Erika einen Zettel, der für sie eingelegt war — der Onkel Doktor dankte ihr für den schönen Brief, den sie unbekannterweise geschrieben hatte — und hockte sich dann mit dem ihren ans Fenster. Sie las, während sie aß, bald aber vergaß sie, zu beißen und zu kauen, Erika sah es deutlich. Sie wurde unruhig, mochte aber nicht fragen. Was hatte Reni denn? Reni las:
„Liebe Reni! Dein liebevoller Brief mit dem zweifellos vollendet gelungenen Portrait meiner schönen Figur auf der letzten Seite —“ Reni wußte erst gar nicht, was er meinte, bis sie sich an ihren verschönten Klecks erinnerte und lachen mußte — „hat mein Herz erwärmt. Trotzdem mußte ich ein bißchen weinen. Nicht in Wirklichkeit — sei beruhigt — aber im Innern. Ich erfuhr es schon durch Tante Mumme, daß der Vogel ausgeflogen sei. Treulose Du! Wer soll mir denn von nun an die Sorgenfalten von der Stirn streicheln, wie Du das bisher mit Deiner schlohengelweißen Hand so erfolgreich besorgtest? Hast Du denn gar nicht an Dein vornehmstes Amt gedacht???
Ich werde also von jetzt an rettungs- und hemmungslos verrunzeln. Nun, sei es drum, wenn Du nur glücklich bist! So sagt jeder, der seinen Nächsten mehr liebt als sich selbst. Bist Du glücklich? Wenn nicht, werde ich Dir postwendend Deinen besten Teil versohlen. Ein Kind, das endlich bei seiner Mutter gelandet ist, hat glücklich zu sein, verstanden?
Liebe kleine Reni, in Deinem Leben hat sich so ganz plötzlich viel geändert, in meinem tut es das auch. Ich wollte Dir das alles mündlich erklären, alles erzählen, wenn ich wiederkomme und wir am Kamin sitzen, und nun bist Du fort, so muß ich es also schreiben. Sicher weißt Du nicht, daß ich, ehe ich zu Tante Mumme ins Haus zog, verheiratet war, wir haben nie davon gesprochen. Meine Frau war sehr anders als ich und langweilte sich oft, weil ich immer und immer zu tun hatte und fortgeholt wurde. Da haben wir uns dann getrennt, schon vor vielen Jahren. Jetzt ist sie gestorben. Ich gehöre ja nun schon so lange dem Heim und Euch, Ihr kleinen, frechen, ungezogenen und geliebten Kerle, daß ich wohl traurig, aber nicht untröstlich bin wie vielleicht ein anderer Mann, dem die Frau genommen wird. Es ist etwas anderes, sehr Wichtiges, was sich nun in meinem Leben ändert: wir haben nämlich einen Sohn, einen großen Jungen, der bisher bei der Mutter war und nun zu mir kommen wird. Er ist schon fünfzehn Jahre alt, der Christian, und mir doch noch ganz fremd. Den will ich nun ins Heim nehmen, und da habe ich an sich mit Dir gerechnet und mit Deinem Beistand, kleine, liebe Reni, daß Du ihn liebgewinnen und ihm eine recht gute, tapfere kleine Freundin werden würdest.
Damit ist es nun nichts. Und jedes Kind gehört nun einmal zu seiner Mutter oder seinem Vater. Und Tante Mumme wird auch lieb zu Christian sein. Aber vielleicht schreibst Du ihm auch mal einen solch lieben und lustigen Brief wie mir neulich? Ich bin, offen gestanden, ein bißchen bange, wie er sich bei uns einrichtet. Wenn Du da wärst, wär das leichter.
Nun sieh zu, daß Du Deiner kleinen neuen Freundin ein rechter guter Kamerad durch dick und dünn wirst! Weißt Du, es kommt viel mehr darauf an, daß man Freude bringt, als daß man selbst welche erfährt. Und Erika braucht wohl eine Freundir, wie mir scheint. Daß Du Deine Mutter liebhaben und ihr keinen Kummer machen wirst, nehme ich selbstverständlich an. Grüße sie, an Erika liegt ein Zettel bei. Aber vergiß auch nicht und behalte fest in Deinem Herzen Deinen alten Doktoronkel.“
„Reni, was ist?“ fragte Erika scheu, als Reni sich gar nicht rührte. Sie hatte beide Hände in die Backen gestützt und die Ellenbogen aufgestemmt, so saß sie und starrte auf den Brief herunter. Schon viele Minuten ... Sie mußte doch fertig sein mit dem Lesen, oder?
„Ja“, sagte sie jetzt auffahrend, und Erika konnte ihr Gesicht erkennen — Tränen waren das nicht. Oder noch nicht? Auf jeden Fall sah Reni ganz verändert und sehr ernst aus.
„Geht es, ich meine, ist der Onkel Doktor vielleicht kränker geworden?“ fragte Erika, „oder hat er sonst was Trauriges geschrieben?“
„Traurig — nein, doch, ja, seine Frau ist gestorben. Aber sie war schon lange von ihm fort“, sagte Reni verwirrt. Dann kniffte sie den Brief hastig wieder zusammen, schob ihn in den Umschlag zurück und steckte ihn ins Lesebuch. „Fräulein Sonneson muß doch gleich wieder kommen, Frühstück ist wohl längst vorbei, oder nicht?“
„Aber du hast doch noch gar nichts gegessen“, sagte Erika ängstlich, „willst du nicht ...“
„Nein, danke ich hab’ keinen Hunger“, sagte Reni und schob den Teller mit den Broten fort, „auch keinen Durst, nein, danke wirklich. Was haben wir jetzt? Erdkunde?“
„Nein, Rechnen. Du weißt doch, die Aufgaben mit Prozent, die schweren ...“
„Ach ja.“ Reni beugte sich neben Erika über das Heft, und Erika sagte auch nichts mehr.
Am Nachmittag hatten sie die Erlaubnis bekommen, schwimmen zu gehen. Fräulein Sonneson wollte mitgehen — Mutter hatte keine Zeit. Es wäre natürlich viel schöner und lustiger gewesen, wenn Mutter mitgegangen wäre. Reni war ein bißchen verbockt, daß sie es nicht tat — sie sah nicht ein, daß Mutter sich nicht einmal eine Stunde für sie freimachen konnte. Schließlich saß sie doch abends nach Feierabend auch noch über den Gutsbüchern. Aus einem gewissen Trotz heraus hatte sie ihr deshalb auch noch nichts von dem Brief des Doktors erzählt ...
Der Fluß machte an der Stelle, an der der Mühlgraben abgeleitet wurde, eine Wendung, dadurch war er dort breiter und tiefer und ganz ruhig — auf der einen Seite fiel er über das Wehr hinunter, auf der andern schoß der schmale und reißende Mühlgraben in sein Bett. Bis dahin durfte man natürlich nicht schwimmen, denn da war die Strömung zu stark, aber ein Stück oberhalb war es herrlich und auch ganz ungefährlich. Man konnte sogar hineinspringen, mit einem flachen Hecht, der Grund war so weich und schlammig, daß es scheußlich war, hineinzugehen. Reni war glücklich, daß sie endlich wieder einmal schwimmen konnte, und tobte und lachte und schrie, und Erika ließ sich von ihr anstecken. Fräulein Sonneson hatte sich in den Schatten der am Ufer stehenden Weidenbüsche gesetzt und ließ die Mädel nicht aus den Augen, aber sie schalt weder, noch war sie überängstlich. So richtig beruhigt waren die beiden aber erst, als sie sahen, daß sie eine weiße Häkelei auspackte. Nun war sie untergebracht.
Weiter oberhalb lag ein Boot angekettet, das war natürlich eine willkommene Entdeckung. Es war alt, stand spannenhoch voll Wasser und man konnte es auch nicht losmachen, aber in dem Halbkreis, den die Kette zuließ, konnte man doch schön kahnfahren. Reni balancierte auf dem Rand und fiel dann ins Boot hinein, mitten in das darinstehende Schmutzwasser, und Erika lachte darüber so, daß sie auch das Gleichgewicht verlor. Aber sie waren ja schon naß, da schadete das nichts, nur ihre Haare tropften nun auch — sie hatten beide keine Bademützen und deshalb die Zöpfe hochgebunden gehabt, nun aber hingen sie wie nasse Schlangen um Hals und Schultern.
„Eklig — wollen wir sie uns nicht abschneiden?“ fragte Reni und lachte über Erikas Entsetzen. Dann verließen sie den Schauplatz ihrer Tätigkeit und schwammen zu Fräulein Sonneson hinunter.
„Wir wollen doch mal unters Wehr gehen“, schlug Reni vor, nachdem sie sich eine Zeitlang im Gras und in der Sonne geaalt hatten, „das denke ich mir herrlich, wenn es so auf einen runterhaut!“
„Daß euch aber nichts passiert — ich geh lieber mit!“ sagte Fräulein Sonneson und stand auf. Sie kletterten über den Hang hinunter, dorthin, wo das Wehr, das vielleicht drei Meter hoch herunterstürzte, auf die Steine aufschlug. Es riß da unten auch noch gewaltig, und die Steine waren naß und glitschig von Algen.
„Du kommst nicht bis ran!“ prophezeite Erika, die neben Reni stehengeblieben war, aber Reni versuchte es immer wieder. Sie stand in dem fußhohen, reißenden Wasser, das ihr bis an die Knie und manchmal bis an die Hüften hinaufschäumte, und schob sich immer näher heran, und dann — Erika schrie laut auf — verschwand sie auf einmal hinter dem dicken, gelblichen Wasservorhang. Sie war bis hineingekommen, nein, diese Reni!
Ein paarmal kam ihre Hand hervor, die aber von dem herabstürzenden Wasser sofort wieder heruntergerissen wurde, manchmal da, manchmal dort. Man mußte hinter dem Wehr hin und hergehen können, es war für die Zuschauer richtig spannend, wo sie nun auftauchen würde. Dann kam ein Fuß zutage — und dann auf einmal die ganze Reni, sie kam geschossen, auf dem Hosenboden sitzend, rutschte aus dem Wehr heraus, drehte sich um sich selber, fing sich wieder, rutschte von neuem weiter und kam dann lachend und triefend angekrochen, noch ganz taumelig und benommen. Erika sah ihr gespannt entgegen.
„Erzähl doch mal, kann man dahinter stehen?“
„Na, aber! Gut! Es ist wie hinter einem Vorhang, aber einen Krach macht das Wasser!“
„Ich will auch mal dahinter!“ zappelte Erika. „Komm, wir gehen miteinander!“
„Aber Kind, wenn dir was passiert!“
„Was soll mir denn passieren, Fräulein Sonneson? Reni ist doch auch nichts passiert, und sie ist ganzbeinig wieder rausgekommen, und meine Zöpfe sind sowieso schon naß. Oder ist da drin die Wassernixe?“ fragt Erika lachend, wenn auch trotz allem etwas ängstlich. Reni hatte sie schon an der Hand gepackt.
„Weder Wassernixe noch Wassermann, nur Wasser!“
Sie schoben sich, nebeneinander und fest angefaßt, wieder an das Wehr heran. Fräulein Sonneson sah ihnen mit ihren guten braunen Augen besorgt nach, mochte es aber nicht direkt verbieten. „Vorsicht!“ rief sie immer wieder. „Jaja!“ antwortete Reni dann, ohne den Kopf zu wenden, für sie beide. Sie mußten genau aufpassen jetzt.
Erika klammerte sich fest an Renis Hand und rutschte ein paarmal aus, aber sie blieben doch aufrecht. Immer näher kamen sie dem herunterstürzenden Schwall.
„Keine Angst! Einfach durch und rein!“ schrie Reni Erika durch das Tosen zu, und riß sie mit sich.
Erika war wie betäubt, man mußte schnell durch den Vorhang hindurch und dahinter, sie aber war nur hindurchgegangen und stand nun einen Augenblick, während ihr das Wasser auf Kopf und Schultern haute ...
„Du bist verrückt, hat’s weh getan?“ schrie Reni ihr ins Ohr. Erika schüttelte den Kopf, sie standen miteinander in der gelblichen, nassen Dämmerung, die hinter dem Wasservorhang herrschte, und es lief ihnen an den Gesichtern und Haaren herunter. Das ganze Wasser stürzte nämlich nicht im Bogen herab, sondern viel lief und spritzte auch daneben — es war jedenfalls ganz komisch und völlig neu hier. Wenn man sprach, bekam man es in den Mund, und in die Augen lief es einem auch dauernd. Reni steckte wieder die Faust in den Vorhang, da schlug ihr eine Sturzwelle an den Bauch — sie zog die Hand schnell wieder fort.
„Und wie kommt man wieder raus?“ fragte Erika schreiend. Reni schrie zurück: „Vorhin bin ich gerutscht, aber wir können auch im Stehen, wenn wir uns einander festhalten ...“
„Bloß noch einen Augenblick!“ Erika wollte noch nicht, teils, weil es ihr hier zu gut gefiel, teils, weil sie doch ein bißchen Angst hatte vor der Rückreise. Reni lachte und machte die Augen zu und den Mund auf, ließ das Wasser hinein und über die Zunge laufen. „Jetzt sind wir Wassernixen — ganz aus Wasser!“
„Los, wollen wir jetzt?“ fragte sie nach einer Weile. Erika klammerte sich fest an sie an, hier hinten war keine Strömung, da hatte sie allein und ganz sicher gestanden. Aber jetzt war es besser, sie vertraute sich der Freundin an ...
„Achtung jetzt!“ schrie Reni, sie fühlten beide das Wasser auf sich einprasseln, Reni schoß ein bißchen zu schnell heraus, zog Erika nach, verlor die Balance und wackelte, während sie nebeneinander auf den glatten Steinen entlangrutschten, bemüht, das Gleichgewicht zu halten. Einen Augenblick schien es, als gelänge es ihnen, aufrecht zu bleiben, aber man hatte auf den verflixt glatten Steinen keinen Halt. Erst fiel Reni, sie wollte Erika nicht mitreißen und sie deshalb loslassen, aber Erika klammerte sich ganz fest an sie an und wurde dadurch mitgerissen. Reni fiel leicht und seitlich, es war mehr ein Hinrutschen als ein Stürzen. Erika dagegen plumpste schwer und ungebremst auf den einen Arm. Sie schrien beide. Fräulein Sonneson am Ufer schrie auch.
Reni krabbelte sofort auf allen vieren zu Erika und wollte ihr aufhelfen, aber die winkte mit dem einen Arm ab.
„Es ist auch besser, wir bleiben unten, wir fallen sonst doch bloß wieder hin!“ lachte Reni und spuckte Wasser aus, „komm, dort rüber. So, jetzt sind wir gleich gerettet aus den Niagarafällen!“
Erika kam nach. Reni fiel es nicht weiter auf, daß sie still war und nicht mitsprudelte — so wie sie, die das Ganze sofort Fräulein Sonneson schilderte —; erst nach einer Weile merkte sie, daß Erika ganz still saß.
„Hast du dir wehgetan?“ fragte sie mitleidig.
„Ach, bissel. Am Arm“, sagte Erika, die sich nichts anmerken lassen wollte. Fräulein Sonneson konnte es nicht lassen, ein „Siehst du!“ dazuzugeben, aber sonst war sie nett und freundlich wie immer. „Wollt ihr euch nicht anziehen?“ fragte sie.
Als sie zu dem Platz, wo die Sachen lagen, zurückgingen, merkte auch Reni, daß es Erika nicht gutgehen mußte.
„Wo tut’s denn weh?“ fragte sie leise. Erika schüttelte den Kopf. Aber beim Abtrocknen biß sie die Zähne zusammen und gestand endlich kleinlaut, sie könne nicht allein in ihr Kleid. Der Arm täte so weh, sie könne ihn nicht heben.
„Welcher?“ fragte Fräulein Sonneson ahnungsvoll. Der rechte! Reni trocknete ihr die Haare, sie verstand sich darauf, die Zöpfe ins Frottiertuch zu wickeln und dann auszuwringen wie ein Wäschestück — und zog ihr hilfsbereit das Dirndlkleid über den Kopf.
„Es wird schon wieder besser!“
Es wurde aber immer schlimmer. Fräulein Sonneson hängte den Arm in eine Schlinge, die sie aus einem Halstuch machte, und dann gingen sie langsam und kleinlaut über die Wiesen nach Hause.
Erika war sehr tapfer und vernünftig, aber sie hatte ziemliche Schmerzen. Frau Niethammer erschrak sehr, als sie sie so kommen sah, und rief gleich den Doktor an. Er kam — es war eine scheußliche Wartezeit. Und dann stellte er, wenn auch zum Glück keinen Bruch, so doch ein angebrochenes Schlüsselbein fest.
„Der Arm muß ruhig liegen, weiter ist nichts nötig“, sagte er. „Na, Mädel, ich gratuliere, daß es der rechte ist. Da brauchst du keine Schularbeiten zu machen!“
Erika lächelte blaß. Ihr war Mutters entsetztes Gesicht viel schlimmer als die Schmerzen — die zu zeigen, war sie ein viel zu tapferer Kerl. Aber Mutters verzweifeltes Gesicht war ihr furchtbar — als hätte sie ihr etwas angetan, und mit Absicht! Als Frau Niethammer immer noch weiter jammerte, sagte der Doktor schließlich freundlich, aber doch ein bißchen barsch und verweisend:
„Frau Niethammer, hat das Mädel die Schmerzen oder Sie?“
„Aber es tut mir doch nur so leid!“
„Gewiß, und die Scherereien haben Sie, zugegeben“, sagte er lachend und ließ sich in einen der tiefen Verandastühle fallen — den Reni ihm auf einen Wink ihrer Mutter hingeschoben hatte — um hier noch eine gute Zigarre und etwas starken Kaffee zu genießen, wie das bei Niethammers üblich war, „anziehen und ausziehen müssen Sie Ihr Baby nun wieder, und Haaremachen ...“
„Oh, Frau Niethammer, das tu ich!“ rief Reni eifrig, „ich bin überhaupt schuld! Wenn ich nicht unters Wehr gegangen wäre ... aber ich helfe Erika ganz bestimmt! Ich wasch’ sie und kämm’ sie und zieh’ Erika an.“
„Dann mußt du aber auch bei mir schlafen!“ fiel Erika ein. „Ich wollte es sowieso immer so gern, darf sie, Mutti, ja?“
Beide Mädel sahen so gespannt und flehend zu Frau Niethammer auf, daß sie es nicht übers Herz brachte, „nein“ zu sagen. „Aber daß ihr mir nicht wieder etwas Neues ausheckt — seit — seit einiger Zeit ist bei uns der Teufel los, Herr Doktor“, klagte sie bekümmert, „immerfort passiert was, ich komme aus der Angst nicht raus!“
„Vielleicht ist nicht der Teufel, sondern nur ein unternehmungslustiges, kleines Mädel los, das eigentlich von Rechts wegen ein Junge hätte werden sollen“, sagte der Doktor und blinzelte Reni zu, die dunkelrot wurde. „Ich glaube, niemals wäre Erika von allein auf den Gedanken gekommen, unter ein Wehr zu kriechen!“
„Ach, ja. Ach, nein! Ich hätte sowieso — ich wäre sicher auch allein ...“ stotterte Erika, aber der Doktor tätschelte liebevoll ihren gesunden Arm und brummte:
„Schadet ja nichts. Lieber zwei, die was brechen, als eins, das nie was unternimmt. Wir Ärzte wollen auch leben — vor allem, wenn es uns bei einem Hausbesuch so gut geht ...“
Er lachte Frau Niethammer an, tröstlich und aufmunternd. Er selbst hatte sechs Kinder, von denen vier zwar Töchter waren, den Jungen aber in nichts nachstanden, wie er immer beteuerte, im Gegenteil! Da gab es Knochenbrüche und Rißwunden, verstauchte Knöchel und ausgerenkte Gelenke am laufenden Band ...
„War Frau Niethammer böse?“ fragte Frau Jahnecke, als Reni ihr beim Heimkommen alles berichtete. Reni schüttelte den Kopf.
„Nein, der Doktor hat sie getröstet. Nur traurig war sie! Aber das ist, glaub ich, beinah noch schlimmer ...“
Die Mutter nickte. Daß Reni das selbst merkte, war ja gut, aber ...
Ach ja, aber! Es gab auf einmal so viele Aber in ihrem Leben, von denen sie vorher nichts geahnt hatte ...