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Der Erste Weltkrieg

1914

In diesem Jahr kam Friederike nach Leipzig, um die höhere Schule zu besuchen. Sie wohnte natürlich bei Geists und war viel mehr eine Schwester der beiden Kinder als eine Tante. Einmal fragte ein Lehrer Alexander, wer ihn denn von der Schule abgeholt habe, und der Junge sagte: »Meine Tante.«

»Wie alt ist die denn?« fragte der Lehrer. Alexander gestand, sie sei fünfzehn.

»Das ist ’ne schöne Tante«, lachte der Lehrer.

Dann brach der Erste Weltkrieg aus.

Martin, zehn Jahre älter als Regine, wurde zunächst nicht eingezogen. Damals erwartete Regine ihr drittes Kind. Sie freute sich sehr darauf. Der Krieg war noch fern, er bestand vorläufig aus Siegen, die auf Extrablättern bekanntgegeben wurden. Und wenn man von Gefallenen hörte, so waren es junge Männer aus der weiteren Bekanntschaft. Schorschel wurde eingezogen, kam aber noch nicht an die Front.

Viele Lehrer fehlten in den Schulen, und ihre Vertreter waren oft merkwürdig. So unterrichtete in Friederikes Klasse ein zwanzigjähriger Medizinstudent, der sie sehr verehrte. Ging die Familie am Freitagabend in die Motette, was üblich war, so erschien er regelmäßig auf der Grimmaischen Straße, überholte sie, grüßte Friederike und blieb dann an einem Schaufenster stehen. Wenn Mutter Regine mit den Ihren weitergegangen war, überholte er sie wieder, und das wiederholte sich durch die ganze Innenstadt. Auch in der Thomaskirche stand er immer so, daß er Friederike betrachten konnte. Alexander und Iso lachten darüber, Regine fand es unpassend. Friederike sei noch zu jung für so etwas. Das gleiche fand sie später auch bei ihrer eigenen Tochter, als Iso in das entsprechende Alter kam. Mütter sind Schwestern und Töchtern gegenüber oft wenig sachlich. Warum eigentlich? Sie waren doch selbst einmal jung. Aber nun verbieten und warnen sie und liegen nachts schlaflos. Sind sie selbst zu ihrer Zeit zu kurz gekommen? Man könnte es annehmen.

In diesem Jahr, da Großvater Haberland zwei große Lazarette betreute, das Schloß und das Mariannenhaus, und auf der Höhe seines Schaffens stand, ereignete sich etwas Entsetzliches, etwas, vor dem jeder Arzt zittert. Er wollte an einem jungen Soldaten eine kleine Ohrenoperation vornehmen. Die Schwester, mit der er seit Jahren zusammenarbeitete, reichte ihm die Spritze für die örtliche Betäubung, und er setzte sie an. Sie enthielt jedoch nicht Novokain, wie er angeordnet hatte, sondern Kokain. Der Patient starb auf der Stelle.

Dr. Haberland wurde von diesem Ereignis zutiefst getroffen. Er zeigte sich sofort selbst beim Schwurgericht in Glatz an. Dort wurde er nicht freigesprochen. Die Sache kam vors Reichsgericht in Leipzig. Beide Großeltern fuhren in die Stadt, und sosehr sich Regine sonst über einen Besuch der beiden Eltern gefreut hätte, jetzt waren alle sehr bedrückt. Auch die Kinder saßen still und verschüchtert in den Ecken und sagten nichts.

Iso fragte den Bruder, was denn eigentlich los sei. Er konnte ihr eine ungefähre Erklärung geben. Zur Verhandlung begleitete Martin seinen Schwiegervater. Die Großmutter und Regine erwarteten bebenden Herzens das Urteil. Telefon hatte Martin nicht legen lassen, um, wie er sagte, in seiner ›Freizeit‹ nicht behelligt zu werden, im Grunde aber aus Sparsamkeit. So warteten die Damen auf die Rückkehr der Männer, tapfer bemüht, die andere nicht merken zu lassen, wie sehr sie sich sorgten. Was jetzt entschieden wurde, war endgültig. Das Reichsgericht war die oberste Instanz.

Geists hatten ein Klingelzeichen, das sie unten von der Haustür aus gaben, wenn sie heimkamen: kurz–lang.

»Wenn es gutgegangen ist, klingelt er von unten«, hatte Regine gesagt. Die Zeit schlich dahin. Die Kinder waren von der Schule zurück und hockten still und bedrückt in ihrem Zimmer.

»Wird Großvater dann eingesperrt?« fragte Iso leise. Alexander zuckte die Achseln.

Endlich hörten sie den Schlüssel an der Wohnungstür. Martin schloß auf. Kein Klingelzeichen von unten. Er trat ins Zimmer.

»Frei«, sagte er.

»Ach du lieber Gott«, flüsterte die Großmutter und fing an zu weinen. Regine fiel Martin schluchzend um den Hals. Keiner sagte etwas.

»Und was ist jetzt?« fragte Iso verstört, durch die offenstehende Tür spähend.

»Es ist alles gut«, erklärte der Bruder. Iso verstand die Welt nicht. Und da weinten die Großen?

Später fragte sie einmal die Großmutter danach, es ließ sie einfach nicht ruhen. Die strich ihr übers Haar.

»Wenn man sich sehr freut, weint man manchmal«, sagte sie.

»Nee, Großmutter, mir könntest du den allergrößten Affen schenken, ich tät nich heulen«, sagte Iso mit Überzeugung.

Ein großes Aufatmen ging durch die Familie. Vater schenkte den jungen Leuten einen Teppich, Friederike eine goldene »Erbsen«kette und den Kindern ein schönes neues Spiel, »Poch«, mit einem buntbemalten Pochbrett und blankem Spielgeld, das viele Jahre lang Freude machte. Die Schwester übrigens bekam nur ein halbes Jahr Haft auf Bewährung. Sie hat den Großvater später bis zu seinem Tode gepflegt, als er alt und in Pension war. Sie war die Treueste der Treuen.

Regines und Martins Ehe ging gut, wenig aufregend, aber ohne Katastrophen. Martin verspann sich mehr und mehr in seine Arbeit und war oft vor dem späten Abend nicht ansprechbar. Er war auch ungeduldig mit den Kindern, die sehr laut sein konnten. Dr. Martin Geist war Herausgeber eines Lexikons und sehr gewissenhaft, übertrieben auf Ordnung und Ruhe fixiert und sehr ernst. Regine kam nicht auf die Idee, sie käme zu kurz, sondern nahm ihr Leben hin, wie es war.

Nachmittags ging sie spazieren mit der Schwester und den beiden Kindern, die das haßten, immer zur ›Völkerschlacht‹, samstags – dort hieß es sonnabends – mit Martin samt ihren drei Anhängseln. Dieses friedliche Leben inmitten des immer bedrohlicher werdenden Krieges wurde unterbrochen, als auch Martin seine Einberufung erhielt. Damit wendete sich das Leben der Familie. Die Kinder begriffen nicht, daß die Mutter weinte, als sie dem Vater vom Erkerfenster aus nachwinkte, sie jubelten und waren außer sich vor Freude, weil die Mutter mit ihnen zu den Großeltern ziehen würde. Was sollten sie in Leipzig, wo bereits die Lebensmittelknappheit um sich zu greifen begann. In einem Doktorhaus auf dem Dorf würde es bestimmt einmal etwas extra geben, außerdem würde ein Doktorvater dasein, wenn das dritte Kind geboren wurde. So siedelte man wieder nach Schlesien über; das weiße, schöne, weiträumige Haus mit dem geliebten Garten darum herum hatte reichlich Platz für die Großfamilie.

Nichts bleibt, mein Herz, und alles ist von Dauer

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