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Roger Sligh, M. D., Indian Hospital

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Seine Vorfahren waren Mormonen, Gelehrte, Spekulanten und Farmer. Nach der Familiensaga befand sich auch ein Bandit darunter, der in einem Texas-Duell gegen seinen Rivalen umgekommen war.

Den Namen Roger Sligh trug er mit Stolz. Seinem Naturell entsprechend, hatte er schon viel von der Welt gesehen. Er hatte den Grad eines Medical Doctor und entsprechendes soziales Ansehen erreicht, die Arbeit in der Nähe von Schlachtfeldern nicht gescheut, trotz allen Chinins die Malaria durchgemacht. Sein Spezialfach war Chirurgie. Man rühmte ihn einer frischen, die Patienten aufmunternden Energie und hielt ihn für immun gegen Leidenschaften.

Welche Affäre ihn dazu veranlasst hatte, sich den Behörden des Gesundheitsdienstes zur Verfügung zu stellen und um eine Anstellung in einem Indianerhospital auf irgendeiner abgelegenen Reservation nachzusuchen, das wusste ohne Zweifel er selbst; wer aber außer ihm, blieb unbekannt. Sein verblüffender Entschluss erregte viel Kopfschütteln sowohl bei Patienten als auch bei Hospital-Unternehmern, kam für die Gesundheitsbehörden jedoch im geeigneten Augenblick.

Ein gewisser Piter Eivie hatte versetzt werden sollen, ohne dass sich zunächst eine Möglichkeit gezeigt hatte, ihn zu ersetzen. Der überraschende Wunsch von Roger Sligh bot den gewünschten Ausweg. In den Gesundheitsbehörden war man glücklich, dass ein ausgezeichneter Arzt, ein Chirurg mit enormen Privateinnahmen, sich auf einmal bereit fand, in den amtlichen Dienst und in die Öde einer Reservation zu gehen. Die Legende der Humanität und der Zivilisationsmüdigkeit schlang sich um Sligh wie die Legende einer Münze, die den ausgezeichneten Kopf umkreist.

Roger Sligh war sechs Fuß hoch und trug unauffällige Konfektionskleidung. Seine geringfügigen Extravaganzen, wie zum Beispiel seine Liebhaberei für Psychiatrie, waren typisch für ihn. In seinen Personalpapieren stand noch immer die Bezeichnung »ledig«. Die Familie Sligh war seit einem Jahrhundert vermögend. Die Einnahmen des Chirurgen in den letzten fünf Jahren gingen in die hunderttausende.

In seinem neuen Wirkungskreis, dem Indianerhospital, das auf einem Präriehügel stand, traf Sligh bei der Übernahme seiner Verpflichtungen auf keinerlei Schwierigkeiten. Sein Vorgänger hinterließ nicht nur einen gut organisierten Betrieb, sondern führte den Nachfolger auch bei dem Pflegepersonal, bei allen weißen und indianischen Angestellten in einer Weise ein, die weder Misstrauen noch Widerwillen aufkommen ließ.

Dr. Roger Sligh bezog in der Nähe des Hospitals das einstöckige Haus, das Piter Eivie bewohnt hatte und das Sligh nun als Dienstwohnung zur Verfügung stand. Er schlief in der ersten Nacht und in den folgenden Nächten ruhig und ungestört. Für seines Leibes Bedürfnisse sowie für Ordnung sorgte eine Angestellte, die schon den Junggesellen Eivie fünf Tage in der Woche von häuslichen Arbeiten entlastet hatte. Sie war eine Weiße, Frau eines Tischlers und Hausmeisters in der Verwaltungssiedlung. Roger Sligh, dessen gefahrlose und gefährliche Erlebnisse im allgemeinen von äußerlicher Natur und daher für einen gesunden, intelligenten und willenskräftigen Mann zu bewältigen gewesen waren – mochte es sich dabei um die Überwindung der Langeweile der ersten, der Krisensituation der zweiten handeln –, war wie meist mit sich zufrieden. Er hatte die Affäre hinter sich gelassen, auch in Gedanken, und vor ihm lag ein problemloses Aufgabengebiet. Er würde sich körperlich erholen, seine beruflichen Aufgaben ohne Fehl erfüllen und in keiner Weise auffallen. Ein leichter Dunst des Rufs als Sonderling, wie er Sligh jetzt umgab, konnte nicht schaden.

Okay.

Sowohl die indianischen Patienten als auch die weißen Verwaltungsbeamten sollten von dem neuen Chefarzt zufriedengestellt werden. Den Fehler seines Vorgängers, sich auf persönliche Beziehungen mit Wilden einzulassen, wollte Roger Sligh nicht wiederholen. In dieser Richtung empfand er keinerlei Versuchung. Sein Leben verlief im Schutze der Stempel »Leitender Arzt des Indian Hospital« und »Junggeselle ohne besondere Ambitionen« wieder glatt und geräuschlos.

So verhielt er sich bis zu jenem Tage, an dem der bewegungsunfähige Indianer eingeliefert wurde.

Später, als dieser Tag eine Bedeutung gewonnen hatte, die ihn aus der Kette anderer Tage heraushob und zum Merkzeichen gewisser Erinnerungen machte, musste sich Roger Sligh, M. D., eingestehen, dass er des Morgens beim Erwachen von den kommenden Ereignissen und Eindrücken noch nicht das geringste geahnt hatte.

Es war Ende Oktober. Der nachtklare Himmel bezog sich am Morgen. Regen nieselte über die endlose Einsamkeit des gelbgrauen Graslandes. Das Hospital hatte schon geheizt. In den Blockhütten und Holzhäusern der Indianer brannten die Öfen noch nicht, um zu wärmen, sondern nur wie immer als Ersatzherde. Auf den Ranches stand das Vieh unlustig beisammen. In den Bachbetten, die im Sommer ausgetrocknet waren, sammelte sich wieder Wasser.

Roger Sligh frühstückte ham and eggs. Den Tee liebte er sehr stark. Seine Haushälterin hatte sich daran gewöhnt, Dr. Sligh auch in dieser Beziehung stets zufriedenzustellen. Milch kam nicht auf den Tisch, auch kein Zucker. Nach dem Frühstück blieb Zeit, die »New York Times« und die »New City News« zu lesen, um sowohl an den Interessen der großen Welt als auch an denen der Provinzstadt, die für einen Autofahrer nicht allzu weit von der Reservation abgelegen war, teilzunehmen.

Es gab keine Neuigkeiten, die Roger Sligh hätten bewegen, geschweige denn seine Welt aus den Angeln heben können. Sligh begann, innerlich von der privaten in die dienstliche Atmosphäre umzuschalten, sobald er seinen Mantel angelegt hatte und am Steuer saß. Die Entfernung zum Hospital betrug etwa dreihundert Schritt. Es wäre befremdend gewesen, sie zu Fuß zurückzulegen. Sligh pflegte nichts zu tun, was dem stillschweigenden gesellschaftlichen Übereinkommen nicht entsprach. Er lenkte seinen neuen Pontiac zum Parkplatz hinter dem Krankenhaus, begab sich über den kiesbestreuten Vorplatz zum Hauptportal, trat ein, suchte sein Zimmer auf und begann seine Arbeit mit den ersten Visiten. Eine indianische Säuglings- und Fürsorgeschwester, die für diesen Zweck von einem Teil ihres Dienstes befreit war, begleitete ihn als Dolmetscherin.

Viele der indianischen Patienten, insbesondere die alten und die Kinder, sprachen überhaupt nicht oder nur sehr mangelhaft Englisch. Sligh hatte sich rasch an Mrs Crazy Eagle als Dolmetscherin gewöhnt. Sie war von angenehmem Äußeren, ohne ins Auge fallend hübsch zu wirken, hatte eine ruhige Stimme, lenkte die indianischen Patienten mit unauffälliger Sanftheit und kritisierte die Entscheidungen des Arztes nie. Sie war mit dem indianischen Richter Ed Crazy Eagle verheiratet, der am Stammesgericht wirkte, und sie wohnte mit ihrer Familie in der Siedlung für zu bevorzugende Indianer unmittelbar bei den Agentur-Verwaltungsgebäuden. Sie war somit familiär und sozial zufriedenstellend eingegliedert. Ihr Englisch war einwandfrei, wenn es auch an einem leichten Akzent nicht fehlte. Roger Sligh konnte sich auf sie verlassen. So hatte ihm der oberste Beamte der Reservation, Superintendent Hawley, versichert.

Es gab leicht zu erledigende Kontrollfälle, auch einige neue Diagnosen aufgrund von Röntgenaufnahmen und chemischen Untersuchungen. Doch hatte Sligh zurzeit keinen komplizierten oder interessanten Fall im Hospital.

Die Räume wirkten hell, selbst bei der trüben Witterung, die Betten waren schneeweiß, die Luft desinfiziert, ohne einen Geruch anzunehmen. Die Patienten blieben zurückhaltend, ernst, oder sie lächelten leicht, wenn der Chefarzt die baldige Entlassung zusagen konnte.

Kurz vor Mittag wurde ein »Unfall« eingeliefert. Da es kein zweites Hospital gab, galt das allgemeine Krankenhaus auch als Unfallkrankenhaus. Sligh hörte, dass keine unmittelbare Lebensgefahr bestehe und er die Blinddarmoperation, zu der soeben alles vorbereitet worden war, noch in Ruhe ausführen könne. Ein Assistenzarzt werde zunächst die erforderliche Röntgenaufnahme machen.

Sligh fühlte sich nach der Operation aber doch verpflichtet, sich des neuen Falles anzunehmen, ehe er zum Lunch ging. Er fand in dem Röntgenraum einen lang gewachsenen, noch jungen Indianer. Der Patient hatte die Augen geschlossen. Als der Assistenzarzt die Decke aufschlug, erkannte Sligh sofort, dass Beine und Arme schlaff, nicht bewegungsfähig waren, der Hals aber steif. Die linke Schulter hing.

»Wieso?«

Der Assistenzarzt gab dem Chef das Röntgenbild und berichtete. »Vor einigen Monaten Wirbelsäulenverletzungen und -verbiegungen, als er bei einer Adlerjagd in einen Sumpf geraten war und nur mit Mühe gerettet werden konnte. Von einem sogenannten Medizinmann unter Umgehung des dortigen Hospitals …«

»Welchen Hospitals?«

»In Kanada, Saskatchewan, Reservation einer Siksikaugruppe …«

»Weiter bitte.«

» … unter Umgehung des Hospitals von einem sogenannten Medizinmann kuriert. Scheinbar ganz wiederhergestellt, selbst zurückgefahren, gelebt wie immer, Rodeo geritten – Bronc sattellos –, tatsächlich, Doktor, ich habe selbst erst vor einigen Wochen diesen famosen Ritt gesehen …«

»Weiter bitte.«

»Mit dem Sportcabriolet vorgestern des Morgens von zu Hause mit unbekanntem Ziel weggefahren, heute früh zur vorausgesagten Stunde zurückgekommen, noch aus dem Wagen ausgestiegen – dann plötzlich zusammengebrochen.«

»Zeugen?«

»Die Frau und der älteste Pflegesohn.«

»Wieso älteste?«

»Zwei Pflegekinder im Haus.«

»Auch eigene Kinder?«

»Zwei. Ein drittes ist im vierten Monat.«

»Wie alt ist der Mann?«

»Fünfundzwanzig Jahre.«

Sligh hatte das Röntgenbild studiert und schüttelte den Kopf. »Unklare Sache. Sie haben betäubt?«

»Nein.«

»Nein?«

»Der Patient gab keinerlei Zeichen von Schmerzempfindung.«

»Bewusstlos, als er gebracht wurde?«

»Scheinbar.«

»Scheinbar. Er ist aber jetzt bei Bewusstsein. Es ist mir nur unbegreiflich, wie er diese Schmerzen aushält, ohne zu schreien. Hat er gesprochen?«

»Nein. Was ich über den Hergang und die Familie weiß, berichteten die Frau, der Pflegesohn und Mrs Crazy Eagle.«

»Name?«

»Joe King.«

»Mrs Crazy Eagle, bitte.«

Als die Dolmetscherin anwesend war, sprach Sligh den Patienten an: »Hallo! King! Sehen Sie mich an!«

Der Patient rührte sich nicht.

Sligh schob mit dem Finger vorsichtig ein Lid hoch. »Ich wette, dass er mich sieht. – King! Machen Sie den Mund auf!«

Der Patient rührte sich nicht. Das Lid war wieder heruntergegangen. Sligh versuchte überraschend, mit der einen Hand den Kopf nach hinten, mit der anderen den Unterkiefer herunterzudrücken.

Der Kiefer rührte sich nicht, als ob Starrkrampf eingetreten sei. Doch konnte sich Sligh nicht von dem Eindruck losmachen, dass die Zähne bewusst aufeinander gebissen waren und der Patient sich auf den Griff des Arztes noch schneller eingestellt hatte, als dieser ihn ausführte.

»Warum simuliert er? Mrs Crazy Eagle, kennen Sie diesen Mann?«

»Ja.«

»Wer ist das?«

»Ein erfolgreicher Rancher – Büffelranch, Pferdezucht –, Rodeo-Sieger.«

»Und verdammt, können Sie sich erklären, warum er nichts von uns wissen will?«

»Ich kann es mir nicht erklären.«

»Ganz auf Medizinmänner eingestellt?«

»Das glaube ich nicht.«

»Wollen Sie versuchen, in seiner Muttersprache mit ihm Kontakt zu bekommen?«

»Er spricht gut Englisch.«

»Wieso ist er tätowiert?«

»Das ist wohl eine Privatsache.« Bei ihrer Antwort senkte die Dolmetscherin die Augenlider. Mit dieser Reaktion verriet sie wider Willen und zum ersten Mal während einer Information für den Chefarzt, dass sie ihre Gedanken verbergen wollte.

»Was bedeuten der Stern und die merkwürdige Zeichnung darunter?«

»Es sind Symbole aus dem Stammesglauben.«

»Zeichen von geheimen Zauberbünden?«

»Das weiß ich nicht.«

Sligh besaß Menschenkenntnis genug, um zu spüren, dass er zu diesem Punkt nicht mehr erfahren würde. Er schaltete um. »Wenn ihm einer das Rückgrat hätte mehrfach brechen wollen, könnte es nicht schlimmer aussehen. Die Aufnahme zeigt auch einen eingedrungenen Fremdkörper – Nadel oder dergleichen. Ich muss sofort operieren, sonst geht er ein. Bereiten Sie alles vor, Landis. In einer halben Stunde bin ich wieder hier.«

Roger Sligh pflegte Dienst und Privatleben auch in Gedanken streng zu trennen. Doch wurde er an diesem Tag das Bild seines neuen Patienten nicht los, während er ein Kalbsteak und gemischten Salat, milde zubereitet, verzehrte.

In diesem Joe King schien ihm ein Mensch mit wahrhaft indianischer Psyche zu begegnen.

Sligh war nach dem Lunch etwas früher, als er angesagt hatte, im Krankenhaus zurück, ein Tatbestand, den es nur äußerst selten in seinem Leben gab.

Der junge Indianer wurde narkotisiert, und der Chefarzt operierte den ersten schwierigen Fall seiner Hospitalpraxis in der Prärie mit Sorgfalt, mit seinem privaten, durch die besten Instrumente aus aller Welt ergänzten Besteck, mit jenem bewundernswerten Geschick, dessen er bei hoch zahlenden Patienten fähig gewesen war. Das Röntgenbild und eine etwa gelingende Operation genügten, um seinen Ruhm als Chirurg künftig weiter blühen oder, wenn der Arzt ganz aufrichtig mit sich selbst sein wollte, um diesen Ruf wieder aufblühen zu lassen. Doch vermied Sligh den Gedanken an ein gewisses Absinken seiner Erfolge, da es mit »der Affäre« zusammenhing.

Als die Operation gelungen war und der Patient, noch am Leben, in Gips lag, der zuständigen Schwester zur besonders sorgfältigen Beobachtung und Pflege empfohlen, versuchte diese, die Aufmerksamkeit des Chefs noch einmal für sich zu gewinnen. Sie bewerkstelligte ihr Vorhaben umständlich, ungeschickt, wie es ein Mensch in Verlegenheit wohl tut, und Roger Sligh, der, im Unterschied zu manchen seiner Kollegen, nicht nur Liebesaffären, sondern überhaupt jegliche Beziehungen persönlicher Natur aus der dienstlichen Sphäre zu verbannen gewohnt war, gedachte zunächst zu tun, als ob er nichts bemerke. Dann aber entschloss er sich zu einem streng aufmerksamen Blick.

»Was gibt es?«

»Es ist ein Zettel gefunden worden.«

Diese inhaltlose Mitteilung konnte, so schien es dem Chefarzt, der Anfang eines zeitraubenden Geschwätzes werden, das er nicht liebte, und um dies zu vermeiden, fragte er sofort kurz und bündig:

»Wo?«

»In den letzten Ausscheidungen des Patienten.«

»Stand etwas darauf?«

»Ihr Name, Doktor.«

»Was für ein Name?«

»Roger Sligh, M. D., Indian Hospital.«

»Das war noch zu lesen?«

»Ja.«

»Wo ist der Zettel?«

»In Ihrem Ordinationszimmer.«

Roger Sligh sagte nichts weiter, sondern begab sich dorthin. Der Assistenzarzt hatte den Zettel, soweit möglich, gereinigt und getrocknet. Es war ein kleiner Zettel aus sehr widerstandsfähigem Papier, mit Dokumententinte beschrieben. Er war fest gefaltet und verklebt gewesen. Zu lesen war nichts als der Name des Chefarztes, die Angabe des Hospitals und die Zahl 8 000,-. Sligh ließ sich wiederholen, wie das Papier gefunden worden war.

»Ist das nicht total verrückt, Landis? Warum frisst der Kerl meinen Namen auf?«

Assistenzarzt Landis zuckte die Achseln.

Sligh nahm das Papier an sich. Außer ihm selbst konnte niemand Interesse daran haben. Ein dem Chefarzt völlig unbekannter Indianer hatte ein Papier mit Slighs Namen und einer unverständlichen Zahlenangabe verschluckt.

Roger Sligh, M. D., studierte nochmals seine eigene Adresse. Er legte das Papier sorgfältig in seine Brieftasche und fragte, ob es noch dringende Fälle gebe.

Es gab sie nicht.

Sligh konnte ohne Gewissensbisse das Hospital für heute verlassen. Die Operation war langwierig und schwierig gewesen. Der geringste Missgriff hätte den Tod des Patienten herbeiführen können. Es musste jedermann einleuchten, dass sich der Chef heute früher als sonst müde fühlte.

Zu Hause angekommen, erholte sich Sligh in seinem Klubsessel, demjenigen Klubsessel, von dem aus er, selbst ungesehen, durch das Fenster beobachten konnte, was für Wagen die Agenturstraße entlangfuhren. Es war dies keine interessante, aber eine ablenkende Beschäftigung. Nach zwei Stunden aß er zu Abend. Seine Haushälterin konnte sich nicht beklagen, dass der Doktor etwa schlechten Appetit habe. Er aß, was die Schüsseln ihm Schmackhaftes boten.

Die Haushälterin ging.

Das war der Moment, den Sligh gefürchtet hatte. Er blieb allein in der Gesellschaft seiner Gedanken. Verdammte Handschrift! Der Erpresser hatte Slighs neue Adresse gefunden. Sligh wusste nicht, wer das war. Ein Unbekannter, ein Nebel, ein Verfolger ohne Namen und ohne Gesicht. Oder kannte er dieses Gesicht jetzt? Hatte er dem verfluchten Burschen das Leben gerettet?

Das ließ sich untersuchen. Er musste die Handschrift Joe Kings kennenlernen. Niemand vermochte seine Handschrift so zu verstellen, dass ein geübter Schriftsachverständiger sie nicht wiedererkannte. Am wenigsten vermochte das ein primitiver Indianer, ein Rancher. Sligh wollte ruhig bleiben, bis er sich objektive Unterlagen verschafft hatte. Er schaltete den Fernsehapparat an. Das Ballett war albern, der Ansager aufgesetzt, die Musik ohne Elan. Sligh stellte ihn wieder ab. Er legte sich zu Bett. Die Matratze war zu weich, das Keilkissen überflüssig.

Das Keilkissen war nicht überflüssig, die Matratze war hart. Sligh schaltete die Wandlampe ein und las.

Es interessierte ihn jedoch nicht im geringsten, ob Vater Adam mit seinen beiden merkwürdigen Söhnen zurechtkam oder nicht. Sligh schlug das Buch wieder zu.

Er schrieb eine Überweisung über achttausend Dollar an das übliche Konto aus. Es blieb ihm selbst überlassen, ob er sie zur Bank geben würde oder nicht.

Der Schlaflose hatte sieben Stunden vor sich, ehe er mit Vernunft und seinen selbstgesetzten Regeln entsprechend aufstehen konnte: Länge eines Ozeanfluges, weiter nichts.

Es musste irgendwelche Schriftproben von Joe King geben. Jetzt konnte dieser Indianer nicht mehr schreiben. Vielleicht vermochte er es nie mehr. Der Erfolg der Operation musste abgewartet werden. Zwei Jahre, drei Jahre stationäre Behandlung und orthopädische Übungen in einem Sanatorium. Wenn Joe King selbst der Erpresser war, hatte Sligh ihn vorläufig nicht mehr zu fürchten. Bis zur Entlassung, wenn sie je stattfinden konnte, war die Sache mit dem Zettel aufgeklärt.

Okay.

Roger Sligh, M. D., schlief endlich ein. Er erwachte am nächsten Morgen zehn Minuten später als sonst und musste seine Zeitungslektüre dementsprechend kürzen. Im Krankenhaus erfuhr er, dass der Patient King die Augen offen hatte, der Unterkiefer aber unbeweglich blieb. »Als King betäubt war, hing der Kiefer schlaff. Seit wann ist er wieder starr, Landis?«

»Seit dem Erwachen.«

»Also simuliert der Patient.«

»Vielleicht auch Schockwirkung.«

»Neuer Schock? Das glauben Sie doch wohl selbst nicht. Was hat er zuerst gesehen, als er wach wurde?«

»Scheinbar eine Alptraumerscheinung.«

»Hm.« Während der Arzt brummte, dachte er: Psychopath oder ausgekochter Gauner oder beides.

Er ordnete an, dass man noch einen Tag abwarten und den Patienten dann künstlich ernähren sollte. Da die Wirbelsäule nach der Operation nicht bewegt werden durfte, war die künstliche Ernährung kein einfaches Problem. Sligh wusste nicht, was er im eigenen Interesse wünschen sollte. Er unterdrückte daher seine Gedanken und wünschte gar nichts. Er hatte auch nicht die Absicht, den mysteriösen Zettel mit seinem Namen der Polizei zu übergeben. Wenn überhaupt, dann war es für ihn nur zweckmäßig, selbst nachzuforschen. Er hatte Zeit. Aber irgendwann und irgendwie wollte er zu einer Schriftprobe dieses verdächtigen Indianers kommen.

Er hatte einen Einfall.

Eines Morgens wandte er sich an Mrs Crazy Eagle und erkundigte sich, ob sie ihm von irgendwoher, auf irgendeinem Wege eine Schriftprobe des Patienten King bringen könne, der durch sein undurchsichtiges Verhalten der Behandlung Schwierigkeiten mache. Schriften gäben Aufschluss über Charaktereigenschaften, es sei viel davon zu halten.

Der Wunsch wurde erfüllt. Ein gewisser Russell, Verkäufer von Wildwestzubehör in New City, stellte einen Brief über eine Viehverkaufsangelegenheit zur Verfügung. Es war auf den ersten Blick klar, dass die Schrift des Linkshänders Joe King mit derjenigen auf dem Zettel nicht identisch sein konnte.

Also kam King nur als ein Zwischenträger in Frage. Einmal würde ihm das Simulieren wohl leid werden. Dann wollte Sligh ihn fragen, wie er zu dem Namen und der Adresse gekommen war und warum er das Papier verschluckt hatte. Der Bursche war zu einer unerhörten Konsequenz in seinem Verhalten fähig. Insofern schien er gefährlich.

Sligh zog da und dort Erkundigungen ein. Joe King, auch genannt Stonehorn, wurde als Nachkomme einer heruntergekommenen, aber um so arroganteren Häuptlingsfamilie und Schüler eines Medizinmannes geschildert, als ein aufsässiger Charakter, verwegen und geneigt, stets Aufsehen zu erregen; dabei hielt er sich selbst im Dunkeln und blieb undurchsichtig. Er war vor Jahren aus Hass auf Verwaltung und Gericht ein Gangster geworden. Später hatte er versucht, sich von den Gangs loszusagen. Aber aus einer Gang wieder herauszukommen galt allgemein als ein hoffnungsloses Unterfangen. Es hatte Tumulte und Schießereien gegeben. King war zu aller Erstaunen auf die Reservation zurückgekehrt, hatte eine schöne junge Indianerin geheiratet und war ein erfolgreicher Rancher und Rodeo-Sieger geworden. Er hatte Feinde und Verächter, Anhänger und Bewunderer. Die Urteile über ihn unterschieden sich wie Schwarz und Weiß. Es erschien nicht unmöglich, dass ein solcher Mensch noch Verbindungen zu einem Erpresser aufrechterhielt oder von neuem angeknüpft hatte.

Sligh gab den Scheck zur Bank und schlief wieder schlecht.

Er konnte den Burschen einfach sterben lassen. Aber das widerstrebte ihm. Er war Arzt. Nur keine neue Affäre.

Eine Krise im eigentlichen Sinne brach in dem labil gewordenen Gemütszustand von Roger Sligh, M. D., erst zwei Wochen später an einem hellen Novembervormittag aus. Er machte als Chefarzt seine Visite bei dem Patienten, der noch isoliert lag.

Joe King hatte die Augen offen. Bis dahin hatte er sie stets nur zu schmalen Schlitzen geöffnet. An diesem Morgen aber sah er dem Arzt entgegen, mit vollem, den anderen festhaltendem Blick. Die Augen waren groß, im Dunkel eine für Sligh fremdartige Trauer, das Leuchten schwer zu ergründen, da es aus einer nicht mit Instrumenten auszulotenden Tiefe kam. Der Blick war unerklärlich. Sligh fühlte sich einen Augenblick versucht, den Indianer für geisteskrank erklären zu lassen. Dann konnten etwaige Aussagen dieses Burschen nie Gewicht gewinnen.

Es war ein überhasteter, aus einer irrationalen Angst geborener Gedanke. Sligh streifte ihn ab, ordnete eine weitere Röntgenaufnahme an und legte das Resultat dahin aus, dass er für den Patienten Antrag auf Aufnahme in eine erstklassige orthopädische Spezialheilstätte stellen werde. Diese Entscheidung erschien ebenso medizinisch einwandfrei wie gewissenberuhigend, nervenberuhigend.

Mrs King, die ihren Mann regelmäßig besucht hatte, ließ sich bei dem Chefarzt anmelden.

Roger Sligh entzog sich der Sprechstunde, in der er die junge Frau hätte empfangen müssen, und schob seinen Assistenzarzt Landis vor. Landis versicherte Mrs King wahrheits- und auftragsgemäß, dass die Spezialklinik außerhalb der Reservation die relativ beste Aussicht auf wirkliche Heilung verbürge. Mrs King unterschrieb ohne weiteres Wort die finanziellen Verpflichtungen, die sich daraus ergaben. Sligh machte keine Visite mehr bei Joe King. Er überließ den Patienten der Verantwortung seines Assistenten.

Des Nachts im Traum aber wurde der Arzt von den Augen verfolgt.

Augen eines Wahnsinnigen?

Augen eines Rauschgiftsüchtigen?

Augen eines urwüchsigen Hypnotiseurs?

Augen eines gefährlichen Verbrechers?

Woher kannte dieser Bursche den Erpresser?

Roger Sligh studierte an vielen Abenden den Zettel mit seiner eigenen Adresse und dem Vermerk 8 000,-.

Es gab keinen Zweifel, das war die Handschrift des Erpressers. Sligh kannte diese Handschrift aus eigenen eingehenden Studien. Wo lebte der Unbekannte jetzt? War er Sligh nachgekommen? Lohnte sich das für den Verbrecher? Sligh war reich, aber er war kein Milliardär. Warum verfolgte der Erpresser ihn? Konnten mäßige Summen allein die Ursache dieser Zähigkeit über hunderte von Meilen hinweg sein? Kannte Joe King Slighs Verfolger? Er musste ihn kennen. Wie war er sonst zu dem Adressenvermerk gekommen? Sligh würde den Indianer nicht aus den Augen verlieren. Mit dem Leiter der orthopädischen Klinik war der Arzt bekannt. Er konnte jederzeit die Verbindung zu einem von ihm operierten Patienten aufrechterhalten oder wiederherstellen, wenn er sie einmal unterbrochen hatte. Das würde niemanden wundernehmen. Im Gegenteil, es war üblich und von Sligh zu erwarten.

Nachdem Joe King trotz aller Vorsorge bei dem Transport mit einem neuen gefährlichen Schaden in der Klinik Dr. Miller angekommen war, brauchte Roger Sligh die Augen des Indianers nicht mehr zu sehen. Er brauchte sie nicht mehr in natura zu sehen. Im Traum sah er sie noch immer. Es gab Geheimnisse, die nicht gelöst waren, kriminelle Schlingen, psychischen Dschungel. Roger Sligh hatte beschlossen, im Gegensatz zu Eivie zwischen Indianern und seiner eigenen Person eine Schicht bestehen zu lassen, unterkühlt und unberührbar wie flüssige Luft. Diese Schicht bestand. Sie hielt sich jetzt gegen den Willen des Chefarztes. Sie behinderte sein klares Erkennen. Roger Sligh, M. D., wurde rauher, als es einem Arzt konventionellerweise zukam. Sein Verhältnis zu den Angestellten des Hospitals verschlechterte sich, wenn auch nur leise, mit unmerklichen, unkontrollierbaren Schritten. Er suchte Anschluss an die wenigen Personen, mit denen zu verkehren ihm sein Dienstgrad gestattete: an den höchsten Verwaltungsbeamten der Reservation, den Superintendenten, an dessen Stellvertreter, an den Oberarzt der Entbindungs- und Säuglingsstation, der kurz nach Roger Sligh neu eingestellt worden war, auch an den Verwaltungsdirektor des Hospitals. Sie alle waren Weiße. Sligh wurde in das Haus des Superintendenten eingeladen. P. Hawley und seine Frau repräsentierten südliche, halbfeudale Kultur, ein relativ hohes Niveau literarischen und künstlerischen Verständnisses; in ihrer Privatbibliothek fanden sich Seltenheiten. Mr und Mrs Hawley fühlten sich in der nördlichen Prärie als Verbannte und fanden sich mit Sligh, M. D., zu Gesprächen über Reisen, Länder, Völker und auch über die von Sligh gern angeschnittenen psychiatrischen Probleme zusammen. Die Ablenkung, die Sligh dadurch fand, war unvollkommen; die Thematik lag dem Ausdruck jener Augen, die er vergessen wollte, zu nahe. Der stellvertretende Superintendent Nick Shaw war glatt poliertes Holz. Der Arzt konnte sich mit ihm und seiner kirchlich aktiven Frau unterhalten, ohne an das zu denken, wovon er plauderte. Der Verwaltungsdirektor Walker hatte keine anderen Interessen als Wagen und Whisky. Der Oberarzt der Entbindungsstation stand den Eingeborenen näher, als Sligh das zu bemerken liebte.

Auf der Reservation gab es weder große Sportveranstaltungen noch Theater, noch Kino, noch Restaurants, noch Klubs, noch gute Läden; es gab keine Tennisplätze, kein Golf- und kein Pologelände, keine fischreichen Flüsse oder Seen und keinen Wassersport, keine Berge, keine Seilbahnen, keine Wälder, kein Jagdrevier. Die Angehörigen der Verwaltung und des Gesundheitsdienstes blieben in ihrer Freizeit in einer für Sligh doch schwer erträglichen Weise auf sich selbst und den Fernseher angewiesen. Die Reservation erschien als ein abgelegener, einsamer, unfruchtbarer, von einem primitiven Volk dünn besiedelter Fleck in einem Land größten industriellen Fortschritts. Man widmete sich der nun einmal gegebenen nationalen Aufgabe, Wilde zu erziehen, oder man hatte ganz einfach keinen besseren Job gefunden. Sligh fühlte sich in dieser Gesellschaft als ein odd ball, ein Außenseiter, ohne es sich anmerken zu lassen.

New City, mit einem schnellen Wagen einen Tagesausflug entfernt, zeigte sich als eine aufstrebende Stadt mit Erfolgsaussichten, noch ohne viel Geschmack oder kulturellen Ehrgeiz. Sligh war mit seinen vierzig Jahren schon zu alt, um Tanzetablissements aufzusuchen. In einer Cafeteria fühlte er sich verloren und gelangweilt. Das Restaurant des besten Hotels sagte ihm nichts, was seine Gedanken hätte beschäftigen können. Die zurückhaltend-deutlichen Blicke der Haushälterin belehrten den Arzt, dass er allmählich als ein verschrobener, nur durch angepasste Weiblichkeit noch zu heilender Junggeselle zu gelten begann. Doch gab es in den Agenturfamilien keine Töchter, die in Frage kommen konnten. Alte briefliche Verbindungen schliefen allmählich ein. Den Umgang mit unbekannten Damen scheute Roger Sligh. Es war möglich, dass der Erpresser in New City auf sein Opfer lauerte.

Sligh spielte zuweilen mit dem Plan, sich wieder versetzen zu lassen. Doch schien es nicht angemessen, bei der Gesundheitsbehörde jetzt mit einem solchen Ansuchen vorzusprechen. Das hätte eine Aufmerksamkeit auf die Person des Arztes gelenkt, die er nicht herbeizuziehen wünschte.

Aus der orthopädischen Klinik kam die Nachricht, dass der allgemeine körperliche Zustand des Patienten J. King zu wünschen übrig lasse, wohl eine Folge der künstlichen Ernährung. Doch habe sich in Bezug auf die Bewegungsfähigkeit ein erster Erfolg der Operation und des anschließenden langwierigen Heilungsprozesses gezeigt. Der Patient empfinde offenbar ein Bein wieder und könne einige Zehen schon bewegen. Sligh rief den Arztkollegen Miller an.

»Spricht der Patient?«

»Der Unterkiefer rührt sich noch nicht.«

»Wie erklären Sie sich das? Hängt es mit den Verletzungen der Wirbelsäule und der Bewegungsnerven zusammen?«

»Glaube ich nicht. Eher Schockwirkung oder haarsträubend konsequent simuliert.«

»Diagnose also noch unsicher?«

»Leider. Ich habe alle üblichen Mittel angewandt, Überraschungsmanöver, List … Der Patient liegt mit anderen zusammen, von denen ihn zwei beobachten. Wenn er simulieren sollte, so hat er jedenfalls sich selbst ausgezeichnet in der Hand. Er hat sich noch nicht ein einziges Mal verraten. Nicht einmal im Schlaf! Ein indianischer Yogi.«

»Was kann er gegebenenfalls bezwecken?«

»Selbstmord. Auf die einzige Weise, die ihm noch freisteht.«

»Lassen Sie das zu?«

»Ich arbeite mit allen Mitteln dagegen.«

»Was ist Ihr allgemeiner Eindruck?«

»Sie haben mich überrumpelt, Sligh, und mir einen Gangster in meine Klinik gelegt. Die Polizei war gestern da. Glücklicherweise in Zivil und vorangemeldet, so dass ich Ihren Patienten für die Vernehmung isolieren konnte. In meiner Klinik ist nichts von der Sache durchgedrungen.«

»Sie selbst haben der Vernehmung beigewohnt?«

»Aus medizinischer Rücksicht, da Lebensgefahr eintreten konnte.«

»Ist herausgekommen, wo er den letzten Tag beziehungsweise die letzte Nacht vor seinem Zusammenbruch verbracht hat?«

»Ja. Das hatte die Polizei bereits festgestellt. Er war bei seinem Freund Russell, dem Verkäufer von Cowboykleidung, bei seiner Schwester in den Slums von New City und bei Krause, dem Büchsenmacher. Russell und Krause sind als durch und durch solide Existenzen bekannt.«

»Aber die Schwester?«

»Eine jetzt reputierliche Frau. Der Mann hat endlich wieder einmal Arbeit – als Holzfäller –, die Kinder gehen sauber gekleidet, sie lernen in der Schule fleißig. Diese Margret Marquis soll zufrieden und von heiterer Gemütsart sein. Da ist also nichts herauszuholen. Nichts von Belang.«

»Warum hat die Polizei den Patienten überhaupt vernommen? Was wollte sie herausbringen?«

»In der Nacht, in der King bei Krause war, sind zwischen Krauses Werkstatt und dem Berghotel, in Wald und Busch, Schüsse gefallen; eine Hotelangestellte hat sie gehört und darüber ausgesagt.«

»Was soll das mit King zu tun haben?«

»Schüsse in der Nacht und ein vorbestrafter Meisterschütze in der Nähe, der stets mit Pistolen bewaffnet umherläuft – das genügt wohl für Verdacht und Vernehmung.«

»Ergebnis des Verhörs?«

»Gleich null. King kann ja weder sprechen noch schreiben.«

»Warum haben Sie ihn nicht von vornherein als vernehmungsunfähig gelten lassen?«

»Weil er das nicht wollte. Mit den Augen kann er zu mir sprechen.« Sligh zuckte bei den Worten »mit den Augen sprechen« unwillkürlich zusammen.

»Aber ist es nicht merkwürdig, dass er verhört werden und sich selbst diese Gefahr und Anstrengung nicht ersparen wollte?«

»Nicht merkwürdig, sondern kalt gedacht, meine ich. Wenn er an der Schießerei beteiligt gewesen sein sollte – so hat er aus den Fragen der Polizei kombinieren können, was man bis jetzt herausgefunden hat. Der Bursche ist ja nicht dumm. Wenn Sie mich nach meinem allgemeinen Eindruck fragen: Ich halte ihn für ein gefährliches Subjekt, dabei für einen ausgezeichneten Patienten, da man sich auf seine Willenskraft und Disziplin auch im Heilungsprozess wird verlassen können. Man muss ihn nur dafür gewinnen, dass er wieder bewegungsfähig zu werden wünscht. Vielleicht stellt er sich jetzt von Tod auf Leben um, nachdem er weiß, dass man noch kein Material in der Hand hat, um ihn in den Kerker oder auf den elektrischen Stuhl zu bringen.«

»Entschuldigen Sie, Miller, wenn ich Ihnen mit dieser Rothaut Scherereien gemacht habe, ich konnte das nicht voraussehen.«

»Bitte. Der Fall ist medizinisch interessant, einfach extraordinär. Rothaut hin und her, Gangster oder nicht – wenn der Mann wieder gesundet, sind Sie berühmt, Sligh.«

»Interessiert mich weniger. Der Ruhm bleibt Ihrer Klinik, Miller.«

»Okay, Sligh, teilen wir. Noch eins – wissen Sie, woher Mrs King das Geld für die Privatbehandlung nimmt? Die Polizei wundert sich, dass eine Prärie-Indianerin solche Summen aufbringen kann. Die Polizei ist sehr erstaunt. Eine erstaunte Polizei pflegt zu verdächtigen …«

Sligh schnappte einen Augenblick nach Luft wie ein an Land geratener Fisch, bis er wieder in die Wellen glatter Argumentation zu gleiten vermochte.

»Verdächtigt? Wen?«

»Wen? Natürlich King und nicht etwa Sie.« Miller fand Freude daran zu ironisieren. Einen kleinen Denkzettel sollte Sligh, der Miller einen rothäutigen Kriminellen ins Nest geschmuggelt hatte, davontragen.

»Ich kann der polizeilichen Phantasie in diesem Fall nicht folgen, Miller. Von der King-Ranch werden ein paar wertvolle Pferde verkauft, damit erledigt sich der finanzielle Teil der Angelegenheit.«

»Die Ranch ist rentabel? Danke, damit erklärt sich natürlich alles.«

Roger Sligh, M. D., legte den Hörer auf. Seine Stimmung war durch das Gespräch nicht ausgeglichener geworden. Gefährliches Subjekt … willenskräftig … kalt berechnend … woher kam das Geld? Erpresser?

Nach einigen Wochen nervenanspannenden Wartens, kurz vor Weihnachten, erfuhr Roger Sligh eine für ihn wesentliche Neuigkeit. Der Patient hatte den Mund geöffnet, aß und sprach. Er konnte – oder wollte – sich aber nur an relativ weit zurückliegende Ereignisse, Erlebnisse und Eindrücke erinnern. Alles, was sich kurz vor und nach seinem Zusammenbruch, auch noch einige Wochen vorher abgespielt hatte, schien in seinem Gedächtnis völlig ausgelöscht zu sein. Das letzte, was er bei einer zweiten polizeilichen Vernehmung rekapitulieren konnte – oder wollte –, war der Verlauf des Rodeos auf der Reservation, das ihm selbst sowie seinem Lehrling Robert einen großen Erfolg und der Ranch höchst einträgliche Ergebnisse beim Verkauf von bucking horses gebracht hatte. Auf die Frage Millers hatte der Patient die Auskunft gegeben, dass er während seines Rittes auf dem bucking horse Schmerzen im Rücken empfunden habe, jedoch nicht mehr und nicht weniger, als es bei jedem Reiter der Fall zu sein pflegte, wenn das Pferd ihn auf und ab schnellte.

Roger Sligh fuhr an einem Wochenende zu der Klinik und begrüßte seinen Patienten.

Sobald er ihn einen Augenblick ohne den Kollegen sprechen konnte, zeigte er ihm den Zettel.

Die schwarzen Augen, die den Arzt Roger Sligh bis dahin mit einem Ausdruck gleichgültiger Verschlossenheit angesehen hatten, verrieten auch jetzt nichts von dem unheimlichen Ausdruck, dessen sie fähig waren. Joe King las.

»Ihre Adresse und eine Zahl ohne Zusammenhang.«

»Woher kennen Sie meinen Namen und meine Adresse?«

»Doktor Miller hat mir ja soeben gesagt, wer Sie sind.«

»Erinnern Sie sich nicht, mich in Ihrem Heimathospital als Ihren Arzt gesehen zu haben?«

Der Patient lächelte verständnislos.

Sligh war mit seinem Überraschungsmanöver ins Leere gestoßen. Er steckte das Papier wieder ein.

Der Klinikchef kam zurück. »Ich hoffe, Sligh, dass wir einen vollen und einfach sensationellen Erfolg haben werden. Gesichert allerdings erst in etwa zwei Jahren.«

»Diesen vollen Erfolg glaubte ein Medizinmann in Kanada auch schon einmal gehabt zu haben, und sein Erfolg hat sogar ein Rodeo und den Ritt auf Bronc sattellos überdauert. Aber nicht eine Fahrt nach New City. Warten wir ab, ob ich ein besserer Medizinmann bin!«

Miller lächelte: »Das halte ich immerhin für möglich.«

Nach seiner Rückkehr auf die Reservation wartete Sligh von Tag zu Tag und von Nacht zu Nacht bewusst und unterbewusst darauf, dass der Erpresser wieder irgendein Zeichen seiner für Sligh bedrohlichen Existenz geben werde. Aber es kam weder einer der gefürchteten Briefe, noch fand der Arzt je eines der verhassten Zeichen auf der Schwelle oder im Zimmer auf dem Tisch.

Der Arzt gewöhnte sich allmählich an den Gedanken, dass die Wolke über seiner Existenz sich verzogen habe. Er verdiente als Angestellter im Gesundheitsdienst nicht einen Bruchteil dessen, was er in den vergangenen Jahren eingenommen hatte, und es bestand für ihn auf der abgelegenen Reservation auch keine Möglichkeit, nebenbei eine Privatpraxis zu betreiben. Vielleicht hatte der Erpresser ihn aus solchen Erwägungen als Objekt aufgegeben. Oder der Erpresser lag doch, noch immer weitgehend bewegungsunfähig, in der hervorragenden orthopädischen Privatklinik und hatte seine Briefe jeweils durch einen andern schreiben lassen, zu dem er nun keine Verbindung mehr besaß. Wie er allerdings vorher als Rancher der Reservation je nach Slighs früherem Aufenthaltsort gekommen sein konnte, blieb auch ein Rätsel. Kings Tramp- und Gangsterzeit lag vor der Affäre und bot daher keine Erklärung.

Der Chefarzt Roger Sligh, M. D., Nachkomme von Mormonen, Gelehrten, Spekulanten und Farmern, der Sage nach auch eines Banditen, schüttelte erfolglose Gedanken ab und gliederte sich weiterhin in unauffälliger, glatter und ruhiger Weise in Dienst und übliches Privatleben ein. Nur selten mehr träumte er von den ihm unheimlichen Augen.

Geschah es aber, so erwachte er noch immer mit beschleunigtem Puls.

In der Reservationsverwaltung kamen unterdessen einige Veränderungen in Gang. Was Sligh dabei bedauerte, war der Abschied von Mr Hawley, der, wie es den Kollegen schien, unvorhergesehenerweise, ganz ohne sichtbaren Grund auf eine andere Reservation versetzt werden sollte, dies jedoch zum Anlass nahm, um aus dem Dienst zu scheiden. Auf der Ranch seiner Mutter war eine ergiebige Ölquelle entdeckt worden. Als künftiger Millionär war er nicht mehr darauf angewiesen, sich den wechselnden Entscheidungen eines Ministeriums zu unterwerfen.

Der Stellvertreter, Mr Nick Shaw, führte zunächst die Amtsgeschäfte. Ein Nachfolger stand also noch nicht bereit. Es schien erstaunlich, dass die Versetzung trotzdem hatte erfolgen sollen. Zwischen ihren vier Wänden munkelten die Beamten von weit zurückreichenden Zusammenhängen und den Vorwürfen mangelnder Energie.

Sligh schloss sich näher an den Verwaltungsdirektor des Hospitals an, der mit seinen Interessen für Autos und Whisky als ein jederzeit normaler Typ erschien.

Eines Tages hatte sich Sligh psychisch so weit erholt, dass er sah, ob eine Frau schön, reizvoll, kalt, reizlos oder abstoßend war. Er bemerkte seine wiedererwachte Fähigkeit scheinbar rein zufällig. Als er wie jeden Tag nach dem Lunch mit dem Wagen vom Haus zum Hospital fuhr, ging eine junge Frau in das Krankenhaus. Es war Besuchstag, und vielleicht wollte sie Angehörige aufsuchen. Die Sprechstunde der Säuglingspflege war zu dieser Stunde angesetzt, und vielleicht bedurfte die Besucherin dort eines Rates. Sligh überschlug nicht die einzelnen Möglichkeiten, die die Krankenhausordnung dieser jungen Frau an diesem Tag zu dieser Stunde gab, erlaubterweise das Krankenhaus zu betreten, auch wenn sie selbst gesund war. Er sah nur die Frau.

Sie war sicher nicht älter als Anfang zwanzig, noch schlank, obgleich sie vielleicht ein Kind erwartete, und sie bewegte sich mit Leichtigkeit und Grazie bei den einfachen Schritten, mit denen sie über den Kies ging, mit denen sie die fünf Stufen zu dem gepflasterten Vorplatz des Hospitals nahm, bei der einfachen Bewegung von Arm und Hand, mit der sie das Glasportal öffnete. Sligh hatte ihr Gesicht nur im Profil gesehen, während er selbst den Wagen verließ.

Wenn der Arzt das Wort Sexappeal denken wollte, so tat er es, nicht ohne die landläufige Empfindung eines Mannes von vierzig Jahren dabei zu entwickeln. Doch war diese Frau nicht aufreizend. Sie weckte angenehm opalfarbene Phantasien, reizte nicht auf, schlug daher auch keine Warnsignale des Gefühlslebens an; sie verwebte und bestrickte eher Empfindungen, ehe man es sich versah. Dennoch glaubte sich Sligh von ihrem Reiz durch einen unüberwindlichen Abstand gesichert. Sie war eine Indianerin. Gebändigte Wilde konnte in der Vorstellungswelt des Medical Doctor eine Bezeichnung für sie sein.

Sligh lächelte über sich selbst. War er siebzehn? Was nicht alles hatte er in wenigen Sekunden aus einem Profil und der Bewegung einer jungen Frau während weniger Schritte entnommen – Bewegung des Fußes in weichen Mokassins, Bewegung der Hüften, der Schultern.

Während seines Lächelns hatte Sligh seine Gangart aber schon beschleunigt und war zur gleichen Zeit wie die junge Frau in der großen Eingangshalle des Hospitals angekommen.

Er hörte ihre Stimme, eine im Klang gedämpfte Stimme, nach dem Chefarzt Dr. Sligh fragen. Tatsächlich, nicht nur die Säuglingsstation, auch Roger Sligh hatte um diese Zeit eine Sprechstunde angesetzt. Er begab sich ohne auffällige Eile, aber auch ohne Verzug zu seinem Zimmer und ließ wissen, dass er Besucher zu empfangen geneigt sei.

Die Frau trat ein und stellte sich vor. Mrs King stand vor dem Chefarzt.

»Womit darf ich Ihnen helfen?«

»Mit einer Auskunft, Doktor. Wie lange, glauben Sie, wird das Krankenlager meines Mannes, ich meine, die stationäre Behandlung, möglicherweise noch dauern?«

Die Frau drückte sich wie eine geschulte Weiße, nicht wie eine indianische Prärie-Rancherin aus.

»Bitte nehmen Sie Platz.«

Mrs King setzte sich ohne Zeichen des Missvergnügens, aber auch ohne Anzeichen, dass sie die Bereitschaft des Chefarztes, ihr Zeit zu widmen, irgendwie anerkenne.

»Ihre Frage ist nicht mit einem Wort zu beantworten, Mrs King. Sie können Ihren Gatten schon jetzt nach Hause nehmen. Dann wird der Erfolg der Operation in Frage gestellt, und Ihr Mann bleibt voraussichtlich bewegungsunfähig. Hält er noch zwei bis drei Jahre in der orthopädischen Klinik aus, kann es sein, dass er wieder voll aktionsfähig wird. Es sind dort alle Spezialapparate und jede erdenkliche Spezialerfahrung der Pflege vorhanden.«

Mrs King dachte nach.

Sligh stellte seinerseits eine Frage.

»Sie haben Ihren Mann besucht?«

»Ja.«

»Wie denkt er selbst?«

»Wir haben darüber nicht gesprochen.«

»Fällt es Ihnen schwer, die Kosten aufzubringen?«

Mrs King hob die Augen und musterte den Arzt. »Nein, es fällt mir nicht schwer.«

»Ihr Mann besitzt eine hervorragende Energie. Wenn er will, wird er wieder gesund.«

»Ich danke Ihnen für die Auskunft, Doktor.«

Mrs King erhob sich in einer Art, die unmissverständlich andeutete, dass sie zu gehen wünsche.

Sligh begleitete sie zur Tür und schloss sie leise hinter ihr. Es hatte sich noch kein weiterer Besucher eingefunden.

Abends saß der Arzt mit dem Verwaltungsdirektor zusammen zu Hause bei einem Glas Whisky.

»Walker, wer ist diese Mrs King?«

»Geborene Halkett.«

»Mehr wissen Sie nicht?«

»Malerin. Hat schon in Washington ausgestellt.«

»Und wie ist sie an ihren Mann geraten?«

»Die Liebe von Zigeunern stammt …«

»Der Bursche hat ein unwahrscheinliches Glück gehabt.«

»Dafür jetzt ein unwahrscheinliches Unglück.«

»Tatsächlich. Neben dieser Frau möchte ich auch nicht als Krüppel leben.«

»Halten Sie den Fall für aussichtslos?«

»Nein.« Sligh hatte das Gefühl, schon zu weit gegangen zu sein. Er lenkte ab. »Was gibt es Neues im Revier? Nachfolger für Hawley schon in Sicht?«

Walker tat einige Züge an seiner Zigarette. »Man hört nichts.«

»Das pflegt der Vorbote von Überraschungen zu sein.«

»Sie könnten recht haben. Im Hintergrund entwickelt sich eine Figur. Ist aber noch nicht reif.«

»Ah.«

»Wäre überhaupt eine Novität – in jeder Richtung. Indianer als Agenturbeamter – haben wir schon –, aber Indianer aus dem eigenen Stamm, das haben wir noch nicht.«

»Wäre tatsächlich ungewöhnlich. Und bedenklich. Meinen Sie nicht?«

»Bis jetzt wurde es für bedenklich gehalten. Zu viele persönliche Beziehungen, Freundschaften, Feindschaften, alles irgendwie verschwistert, verschwägert, verbiestert, verärgert. Aber warum soll man nicht auch einmal neue Methoden versuchen?«

»Um wen handelt es sich denn?«

»Um einen gewissen Sidney Bighorn. Er hat eine aufsehenerregende Karriere gemacht. Guter Schüler, vorzügliches Abitur im Internat, College mit bestem Erfolg, schon als junger Mann am Stammesgericht angestellt – in der prekären Rolle des Anklägers gegen Angeklagte aus dem eigenen Stamm. Anerkennungswerten Mut gezeigt, sogar gegen Joe King. Dann plötzlich aus dem Amt ausgeschieden, Gründe nie öffentlich genannt. Vermutlich hatte er diesen King zu fürchten. Er ging von der Reservation weg und ist zurzeit in der Distriktverwaltung, das heißt also für mehrere Reservationen tätig. Er wird zur Inspektion hierher geschickt werden. Für den Posten eines Superintendenten ist er noch nicht reif. Aber er erscheint vielen als der kommende Mann.«

»Was sagt der Stamm?«

»Es gibt nicht ›den‹ Stamm, sondern tausend verschiedene Meinungen. Chief President Jimmy ist mit Sidney Bighorn verwandt.«

»Und Joe King ist zurzeit und bis auf weiteres nicht mehr zu fürchten.«

»Daher wird Sidney Bighorn ruhig inspizieren können.«

»Halten Sie eine Reservation auch für eine Art von Irrenanstalt?«

»Zum Teil. Zum anderen Teil Naturschutzgebiet für Wilde und solche, die es werden wollen.«

Sligh hob das Glas. Walker hielt mit.

»Mit wem war mein Vorgänger Eivie eigentlich zu eng liiert?«

»Mit den Kings.«

»Mit ihm oder mit ihr?«

»Mit ihm. Mit ihr ist nicht gut Kirschen essen. Sie hat schon einmal einen erschossen.«

»Zum Wohl. Das scheint ja eine originelle Familie zu sein.«

»Jedenfalls bin ich verblüfft, dass Mrs King derart viel Geld aufbringen kann. Sie haben eine verdammt teure Klinik gewählt, Sligh.«

»Die einzige, die eine gewisse Aussicht bietet. Ich bin an dem vollen Erfolg meiner Operation interessiert.«

Der Verwaltungsdirektor schaute verstohlen prüfend auf den Arzt, denn die Sache mit dem verschluckten und wieder ausgeschiedenen Zettel war Walker bekannt.

Sligh lenkte die Unterhaltung auf Whiskysorten.

Am folgenden Wochenende fuhr Sligh, M. D., nach New City und verschaffte sich durch den vertrauenswürdigen Empfangschef des guten Hotels eine Dame für eine Nacht, die vielleicht der Anfang von regelmäßigen Beziehungen ohne gegenseitige Verpflichtungen sein konnte. An Heiraten dachte er weniger denn je. Da er sich nun in New City befand und noch einen Tag bleiben konnte, suchte er Krause auf, den alten Büchsenmacher, der jetzt noch Jagdwaffen reparierte, mit gebrauchten Waffen handelte und eine Art von Liebhabermuseum alter Gewehre zusammengebracht hatte. Sligh fand dort den aufgeweckten Indianerjungen, den Krause adoptiert hatte, nachdem sein eigener Sohn gefallen war. Es stellte sich heraus, dass der Junge der Neffe der Kings, ein Sohn von Joe Kings Schwester Margret war, die in den Slums wohnte. Die Besucherrunde, die Joe King am Tage vor seinem Zusammenbruch gemacht hatte, erklärte sich so mit einem weiteren begründeten Anlass.

Sligh ließ sich von Krause die alten Waffen zeigen und ihre Geschichte erzählen. Da er geduldig zuhörte und Zeit im Überfluss zu haben schien, erfuhr er anschließend auch alten und neuen Stadtklatsch. Er hörte, dass die ehemalige Schmugglerkneipe des Vaters Black and White und seines Sohnes O’Connor verwaist gewesen war, seit Black and White eines Tages von King in Notwehr erschossen worden war, O’Connor aber wegen Rauschgifthandels im Zuchthaus saß und seine Schwester Esmeralda, die Frau mit den grünen Augen, außer Landes hatte gehen müssen. Krause versicherte, dass die Kneipe neuerdings eine solide Bierkneipe geworden sei. Wenn sich je wieder ein Rauschgifthändler einnisten wollte, dann sicher nicht an diesem bekannt gewordenen Ort. Überhaupt habe Black and White in New City selbst kaum Kunden gehabt. Wenn man einem Prozessergebnis Glauben schenken könne, habe er nur Zwischenhandel mit Unbekannt getrieben.

»Ungeschminkt ausgedrückt, Mr Krause, würde das heißen: O’Connor hat seine Kunden nicht verraten. Gangstermoral.«

»Weniger Moral, Doc, als Angst vor seiner Schwester Esma. Dem Weib ist er hörig gewesen.«

»War die Reservation mit verwickelt?«

»Nur mit Brandy.«

»Das lässt sich wohl bei den Indsmen nicht ausrotten.«

Krause lächelte verzeihend über den unangebrachten Hochmut. »Bei uns hat sich die Prohibition ja auch totgelaufen, Doc. – Aber etwas anderes: Wie geht es Joe? Geben Sie noch Hoffnung, Doc?«

»Ja. – King war doch am letzten Tag vor seinem Zusammenbruch bei Ihnen, Krause. Fühlte er sich nicht wohl?«

»Es war nichts zu merken.« Krause drehte dem Arzt den Rücken, während er antwortete, und hängte ein altes Gewehr wieder an seinen Platz an der Wand. »Aber was wollen Sie bei einem solchen Mann sagen? Joe hat noch indianische Erziehung. Der Vater war Traditionalist, und Joe ist schon als ein Junge von zehn Jahren bei einem uralten Medizinmann in die Lehre gegangen. Bei dem alten Blinden – der ist nun schon tot.«

»Schade. Aber mir als Arzt hätte er seine Kunst doch nicht verraten. Sein Schüler Joe kann sich auf geradezu wunderbare Weise beherrschen. Das ist, wie ich schon bemerkt habe, auch unter Indianern heute eine Seltenheit geworden.«

»Bleibt die teure Klinik unvermeidlich, Doc? Können Sie Joe nicht wieder ins Indian Hospital nehmen?«

Slighs Gesicht wurde hart. »Kann ich. Aber ich habe dort nicht die gleichen Möglichkeiten für die Heilung. Ich selbst besitze nicht die orthopädischen Spezialerfahrungen von Doktor Miller. Hat die Frau finanzielle Schwierigkeiten?«

»Noch nicht. Aber wenn das jahrelang weitergehen soll … Nun, ich bin ja auch noch da.«

Sligh verabschiedete sich und schlenderte zu der ehemaligen Kneipe Black and White O’Connor, um ein Bier zu trinken. Er traf nur Publikum, das ihm unverdächtig schien, doch beschäftigte ihn die Vorstellung, dass von dieser Gastwirtschaft aus Rauschgiftschmuggel für oder zumindest über New City betrieben worden war, stärker, als er sich selbst eingestehen wollte.

Die Augen waren wieder da, groß, dunkel, wie sie Roger Sligh in Urwäldern, Dschungeln, Malariagebieten schon gesehen hatte – tiefer, mit einem schwerer fassbaren Licht, als Roger Sligh sie je gesehen zu haben glaubte.

Er fuhr nach Hause, gab sich eine Spritze und verfiel in einen Betäubungsschlaf. In der folgenden Nacht schlief er spät ein und wurde gegen Morgen von Angstträumen verfolgt. Da innere Unruhe seinem Charakter, seiner Lebensauffassung und seinen Lebensansprüchen zuwiderlief, geriet Sligh von neuem in jene Mischung von Zynismus, Angst, Spleen und Übellaunigkeit, die er bei seiner Übersiedlung in die Einsamkeit der Prärie hatte hinter sich lassen wollen. Er wurde nur äußerlich und nur mit mehr Spritzen, als er selbst für gut hielt, darüber Herr. In seinem Gemütszustand machte sich ein neues Moment geltend. Vor seiner Begegnung mit dem merkwürdigen Patienten Joe King hatte seine Furcht nur Anonymes und Abstraktes als Anlass und Gegenstand gehabt. Jetzt klammerte sich seine aufgerührte Phantasie an einen Menschen, den er gesehen hatte. Seine Vorstellungen konnten etwas packen. Er hatte endlich einen Gegner von Fleisch und Blut. War ihm zuvor zumute gewesen wie in dem Texas-Duell seines sagenumwobenen Vorfahren, der im Dunkel auf einen nicht erkennbaren Feind hatte schießen müssen, so wühlte er nun in sich selbst den Hass von Mann zu Mann, Auge in Auge auf. Mit Wollust stürzte er sich in die Möglichkeit, den andern auf persönliche Weise zu verfluchen. Die Feindschaft bekam Hand und Fuß. Ein Sendbote des gespenstischen Feindes war unter Menschen aufgetaucht.

Die Lage war primitiver, einfacher, natürlicher geworden. Bis auf diese Augen.

Roger Sligh, M. D., segnete bei alldem seinen Entschluss, kraft dessen er den Patienten J. King in andere Hände abgeschoben hatte. Er konnte nicht in die Versuchung kommen, irgendeine ärztliche Pflicht zu versäumen. Aber er spielte Schach mit dem Gedanken, wie er Joe King zum Reden bringen könnte. Er sah ihn jeden Morgen und jeden Abend vor sich, obgleich er niemals mehr zu jener Klinik fuhr.

Roger Sligh verurteilte sich selbst, wenn er an die Stunden dachte, in denen er einmal verführt worden war, im eigenen Land etwas ganz Unpassendes zu tun. Er hätte diesen anderen Roger Sligh, den es auch gab und der plötzlich das Haupt erhoben hatte, hassen können. Doch wollte er ihn vergessen. Und er hasste nicht sein anderes Ich, er hasste den anderen, das Du, den Mann aus Fleisch und Blut, der ihn an sein zweites Ich erinnert hatte. Er musste es kennen. Woher? Wilde verschmolzen zwei Menschen in sich in eins, zwei Nervensysteme, das bewusst und das nicht bewusst reagierende. Roger Sligh aber blieb gespalten. Die offene Wunde in ihm stank Träume.

»Passen Sie auf sich auf, Sligh«, erlaubte sich der Verwaltungsdirektor eines Tages beim Whisky zu sagen. »Sonst bekommen Sie noch einen Koller.«

Sligh schaute aus dem Fenster. Schnee bedeckte unübersehbares Land, weit, weiß, kalt. Die Straßen waren schwer passierbar. Das Häuflein Beamte und Ärzte, das in der Öde zu hausen hatte, rückte zusammen.

Walker vermittelte Sligh eine Einladung zu dem Oberarzt der Fürsorge- und Säuglingsstation. Eine zwanglose Geselligkeit, deren Mittelpunkt früher Piter Eivie gewesen war, begann sich dort wieder einzuspielen. Sligh hatte den Oberarzt Roger Barn, der den gleichen Vornamen wie er selbst trug, bisher gemieden, eine Haltung, die auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber da Walker einen größeren Kreis zugesagt hatte, entschloss sich Sligh, nicht etwa Einsiedelei zu demonstrieren, sondern die Einladung anzunehmen.

Die Reifen drückten Spuren in den Schnee. Es herrschte klirrende Kälte. Das Haus von Roger Barn wurde jedoch gut geheizt. Die Konstruktion der hölzernen einstöckigen Beamten- und Arzthäuser war in allem prinzipiell die gleiche, der Unterschied lag nur in einem Zimmer mehr oder weniger. Wer das Haus des anderen betrat, konnte sich, was Räumlichkeiten und ihre Anordnung anbetraf, immer wie bei sich selbst und ganz zu Hause fühlen. Die Inneneinrichtung bei Barn trug dennoch eine besondere Note, da er Navajo-Wolldecken und Hopi-Maskenpuppen gesammelt hatte. Die Farbenpracht, die sich über Couch und Sessel breitete, an den Wänden aufleuchtete, die fremdartigen Puppen, in denen Hopi-Hände mit ehrfürchtigem Bedacht den Glauben an die Vorfahren und den Glauben der Vorfahren Gestalt und Farbe hatten werden lassen und mit denen sie das Unwissen der weißen Männer ansprangen, ließen jeden Besucher sofort außer sich selbst und in ein fremdes Reich geraten. An einer gegen das Erdrückende der Farben und der Puppen abgeschirmten Wand hing eine Kohlezeichnung für sich allein, überhaupt als einzige ihrer Art in diesen Räumen. Sligh interessierte sich für diese Zeichnung, weil er den Indianerfarben und -masken den Rücken kehren wollte. Das Bild stellte das sehr zarte Antlitz eines Kindes, eines Mädchens, dar; der Ausdruck war schwermütig, abgewandt, ohne altklug zu wirken.

Sligh dachte sofort an Psychiatrie und wollte den Namen des Künstlers lesen. Er fand nur ein »Qu. K.« und erfuhr von Barn, dass es sich um eine Arbeitsskizze handelte. Das endgültige Bild war, in Öl ausgeführt, ausgestellt worden und unverkäuflich.

»Und wer ist ›Qu. K.‹?«

»Queenie King, die begabte Malerin unserer Reservation.«

Sligh fühlte sich durch diesen Namen verfolgt, wollte das vor sich selbst jedoch nicht zugeben.

»Queenie King? Doppelte Königin?«

»In jeder Beziehung, Doc!« Das sagte nicht Barn. Die Worte waren aus dem Klubsessel in der Ecke gekommen, in der Kate Carson, Dezernentin für das Wohlfahrtswesen, saß, eine füllige Vierzigerin, gepudert, nicht ohne Charme. Sligh, dessen gesamte Gefühlsstruktur in Bezug auf Frauen von neuem in Verwirrung geraten war, seit er die immer wieder verschneite, von Stürmen bedrohte Straße nach New City zu fahren sich scheute, ließ sich auf einem freien Stuhl neben Witwe Carson nieder und begann zu rauchen.

»Vielleicht wird das Ölbild auch noch verkäuflich«, bemerkte die zufriedene Witwe.

Es gab ein solides Büfett, ohne Phantasie zurechtgemacht. Barn holte für Mrs Carson, was diese sich seiner ärztlichen Auffassung nach wünschen sollte: Salat und etwas Krebsschwanz. Sie schmunzelte und aß.

Der Kreis der Gesprächsthemen war begrenzt. Dienstliches wurde nicht berührt. Eve Bilkins, Dezernentin für das Schulwesen, wollte sich einen neuen Wagen kaufen. Kate Carson hatte die jüngste Nummer einer Illustrierten im Hause Barn entdeckt. Mr Brown, Nachfolger des Dezernenten für Ökonomie Haverman, schaltete den Fernsehapparat an und verfolgte Eishockey.

Sligh holte Whisky für sich und Mrs Carson. Er fühlte sich bei dieser rundlichen, jedoch weder unschön noch dumm erscheinenden Person geborgen. Aus den vorsichtig geführten Unterhaltungen mit ihr und mit Walker erfuhr er, dass Kate Carson schon lange verwitwet, meist guter Laune, aber zurzeit eines geeigneten Gegenstandes ihrer unaufdringlichen, für sie selbst lebensnotwendigen privaten Fürsorge beraubt sei. Sie hatte ihren Kollegen-Gefährten Haverman, der versetzt worden war, verloren.

»Passen Sie auf, Doc, es wird sich noch mehr tun. Die Figur rückt an den Steinen …«

»Wen meinen Sie, Mrs Carson? Sidney Bighorn?«

»Sie sind durch Walker schon orientiert. Ja. Walker ist immer gut unterrichtet.«

Sligh empfing einen Stich. Walker, der immer gut unterrichtet war, wusste ohne Zweifel auch von dem Zettel mit der Adresse Roger Slighs in der Hand oder richtiger im Magen eines … nun, eines Patienten. Bighorn war in der Distriktverwaltung angestellt. Es kostete ihn nicht mehr als ein Flüstern, um Entscheidungen zu lenken.

Sligh trank einige Gläser Whisky mehr, als er beabsichtigt hatte. Alles in allem schien ihm der Gewinn der Nachmittagsstunden und des frühen Abends gering. Vielleicht war er selbst es, der die Unterhaltung und eine Vertrautheit, die zwischen den andern bestehen mochte, störte. Auch Mrs Carson wischte mit ihren Bemerkungen immer nur den Staub auf der Oberfläche hin und her. Doch glaubte Sligh, aus ihrem Geruch ihr Wohlwollen für seine Person zu spüren. Roger Sligh, M. D., verschrieb sich Kate Carson als Medizin, um von der wachsenden Zahl der Spritzen loszukommen. Das Heilmittel war zunächst äußerlich anzuwenden.

Es wirkte, wenn auch nur bis knapp unter die Haut. Je länger sich die Frist aber hinzog, in der Sligh weder von Briefen noch von sonstigen erinnernden Drohungen gestört wurde, desto fester verkapselten sich in ihm alle unangenehmen Vorstellungen. Die Wellen von Angst und Hass liefen seicht und sanft aus am sandigen Strand täglicher Pflichten und Gewohnheiten. Um Roger Sligh, M. D., bildete sich wieder eine Atmosphäre der Gleichmäßigkeit und der Anerkennung. Auch diejenigen, die den Abschied von Piter Eivie lebhaft bedauert hatten, gewöhnten sich an Sligh wie an alles erträgliche Unvermeidliche. Dem Präriewinter blieb, wie einem Winter im allgemeinen, nichts anderes übrig, als allmählich einem wenn auch in diesem Falle sehr kargen Frühling zu weichen. Roger Sligh konnte wieder gefahrlos nach New City fahren und dort jenen Teil seiner Beziehungen zur Frau absolvieren, die aus den Verbindungen zu einer Kollegin ausgeschaltet blieben.

Sligh ging in diesen Monaten mit dem Gedanken um, mit etwa zweiundvierzig Jahren die Reservation als ein berühmt gewordener Chirurg wieder verlassen zu können. Das Zukunftsbild begann sich nicht nur als Möglichkeit, sondern als eine schon gewisse Wirklichkeit seiner Stimmung einzuverleiben. Es fügte sich in seinen Charakter, seine Lebensauffassung und seine Lebensansprüche auf das beste und durchaus fugenlos ein. Einer, der mit seinen Augen oder mit einem unvorhergesehenen Verlauf seines sehr langwierigen Heilungsprozesses die Gewissheit zur Ungewissheit hätte machen können, befand sich fern von Sligh in bestmöglicher und sicherer Obhut.

Stein mit Hörnern

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