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Ein junger Beamter

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Von den höheren Angestellten auf der Reservation als »Figur im Hintergrund« beobachtet und beargwöhnt, nicht unerfahren, aber auch noch nicht routiniert, lag der dreiundzwanzigjährige Sidney Bighorn auf der Lauer inmitten von Zuständigkeiten, Plänen, Chancen und Hemmnissen der Verwaltungspraxis wie ein junger Jäger im Gebüsch, ungewiss, wann und wie das Wild sich zeigen und er zum Schuss kommen werde.

Wenn Sidney in jenen Vorfrühlingstagen des Morgens erwachte, genoss er die grundsätzliche Gewissheit, dass er in Zukunft zu einer angenehmen Karriere bestimmt sei, und dies dank seiner eigenen Fähigkeiten. Er verurteilte selbst gewisse Fehler, die er gemacht und deren Folgen seinen geradlinig angesetzten Aufstieg unterbrochen hatten. Doch sah er ihre Auswirkung im Schwinden und war überzeugt, dass sie in wenigen Jahren völlig verschwunden sein würde, wenn es ihm gelang, seinen Gegner Joe King von der Bildfläche zu löschen.

Das Zimmer, das Sidney in der mittelgroßen Stadt bewohnte, war teuer, jedoch nicht teurer als solchem Wohnraum zukam. Es war heller, größer, besser ausgestattet als die Kammer, die er einst auf der Reservation im Hause seines Verwandten, des Chief President Jimmy White Horse, innegehabt hatte. Die Zimmerwirtin hatte Sidney, einen Indianer, ohne Wimpernzucken aufgenommen. Er schmeichelte sich, dass sein ordentliches und stattliches Aussehen und, seine Eigenschaft als Beamter der Distriktverwaltung für Reservationen dazu beigetragen hatten, jedem möglichen Ausdruck von Rassismus von vornherein den Boden zu entziehen.

Sidney stand immer pünktlich auf, nahm sein Frühstück mit Bedacht ein und ließ das Zimmer in peinlicher Ordnung zurück. Er pflegte sich kurz vor Dienstbeginn an seinem Arbeitsplatz einzufinden, nie zu spät, auch nicht so früh, dass er gegenüber den anderen Beamten und Angestellten hätte auffallen können. Was ihm aufgetragen wurde, führte er aus, und es lag nichts auf oder in seinem Schreibtisch, was nicht erledigt oder in Bearbeitung war. Er erschien seinen Vorgesetzten als jener gute, zuverlässige Durchschnitt, der in kommenden Jahrzehnten durch Computer ersetzt werden konnte.

Die Hast, mit der manche Beamte sich auf noch unerledigte Vorgänge stürzten, ehe sie eine Reise antraten, musste Sidney seiner gesamten Arbeitsweise nach fern liegen. Er kam am Tage vor seiner Dienstreise, die ihn in die heimatliche Reservation führen sollte, kurz vor acht Uhr in das Büro, wie immer pünktlich, aber nicht zu pünktlich, und er verließ das Büro um vier Uhr, unter dem Arm die Aktentasche mit einer Reihe von Schreiben und Unterlagen. Er hatte die für das Schulwesen verantwortliche Schulrätin auf ihrer Inspektion zu begleiten und zugleich eigene Funktionen wahrzunehmen, speziell auf den Gebieten der Ökonomie und des Kriminalwesens. Um sieben Uhr früh sollte die Fahrt beginnen.

Sidney hielt den Dienstwagen 6 Uhr 55 bereit. Die Schulrätin war groß und mager, scharfgesichtig und misstrauisch. Sie nahm auf einem Rücksitz Platz, hängte ihren Mantel in einer Cellophanhülle an den Haken zwischen den Fenstern und beobachtete, ob Sidney nicht vergaß, den Türverschluss zu sichern. Auf seine eigene Sicherheit bedacht und des prüfenden Blicks aus dem Rücksitz stets eingedenk, fuhr Sidney überlegt und vorsichtig.

Beim Mittagessen in einem Selbstbedienungsrestaurant verhielt er sich gemäßigt höflich und ließ sich den Appetit nicht verderben. Abends fuhr er zu genau berechneter Zeit vor einem Motel am Rande der Reservation vor, bezog sein Einzelzimmer und aß allein in der billigeren der beiden gegenüberliegenden Gaststätten.

Am folgenden Morgen erreichten die beiden verschiedenartigen Inspizienten mit dem Wagen die Agentursiedlung.

Mr Nick Shaw, stellvertretender Superintendent und zurzeit kommissarischer Superintendent, da Hawley noch immer nicht ersetzt war, empfing die beiden als erste Besucher. Mrs Hamilton und ihr Scharfblick mussten einem in seiner Tätigkeit zu kontrollierenden Beamten von Natur unangenehm sein. Sidney horchte auf jeden richtigen und jeden falschen Ton im Gespräch zwischen Shaw und der Schulrätin; er hörte mehr falsche als richtige Töne und wählte demgemäß seine eigene Taktik. Als sein Entschluss so weit gediehen und innerlich bestätigt war, hörte Bighorn nur noch mit halbem Ohr zu und überlegte schon die Route, die er auf der Reservation einschlagen würde. Vor allem wollte er sich einen eigenen Wagen verschaffen; es beliebte ihm nicht, mit der Schulrätin noch länger gekoppelt zu sein. Sein Vorstoß in dieser Richtung gelang sogleich. Ein Dienstwagen war frei.

Sidney genoss die Tatsache, dass er in der Agentursiedlung von diesem und jenem gesehen wurde. Er ging nicht, sondern er fuhr wie ein echter Amerikaner vom Bürohaus der Superintendentur zu dem nächsten Haus, dem der Dezernenten, und begab sich zu gleicher Zeit wie Mrs Hamilton, aber aus einem anderen Wagen aussteigend, in das einstöckige Holzgebäude, in dem die Schulrätin ihrem Ressort gemäß Miss Bilkins, Schulwesen, Sidney Bighorn aber als Vertreter des Dezernates Ökonomie Mr Brown aufsuchte.

Mr Brown schien sich ehrlich über den Besuch zu freuen.

»Es tut mir leid, Mr Bighorn, dass ich Sie nicht begleiten kann, aber bitte, fahren Sie allein. Sie kennen die Verhältnisse und die Menschen hier von Kindheit an und vermutlich besser als ich selbst. Vor allem sehen Sie sich die neue Schulranch des Stammes an. Bei allem Wohlwollen für dieses gemeinnützige Unternehmen – ich weiß doch nicht, ob dafür schon die rechte Basis gefunden ist, personell und finanziell. Mr King, der sich ehrenamtlich als Ausbildungskraft zur Verfügung gestellt hatte, fällt voraussichtlich noch für lange Zeit, vielleicht ganz aus. Der Stammesrat müsste hauptamtliche Lehrkräfte einstellen und besolden, aber das ist unmöglich. Viel zu teuer. Also bitte, sehen Sie sich unter anderem gerade in dieser Angelegenheit um, da die Entscheidungen dringend zu werden beginnen, nachdem wir sie monatelang verschleppt haben.«

Sidney Bighorn hatte sich eine Notiz gemacht, obgleich das völlig überflüssig war. Was er soeben erfahren hatte, behielt er auch ohne Merkbuch. Sein persönlicher Feind, Joe King, fiel möglicherweise ganz aus. Sidney hatte sich beim Anhören von Mr Browns Bemerkungen vollständig beherrscht. Es hätte sich nicht geschickt, seine unsachlichen Gefühle zu verraten, das hätte seinen Zielen und Zwecken nur geschadet. Er erkundigte sich nicht einmal, warum King möglicherweise für immer »ausfiel«. Das musste er andernorts erfragen.

Zunächst fuhr Sidney drei Häuser weiter zu dem Stammesgericht. Den anderen Wagen, den Mrs Hamilton steuerte, sah er eben um die Kurve biegen. Sie war zu einer Schule unterwegs, um dort ihr gefürchtetes Amt auszuüben. Sidney blieb sein eigener Herr.

Als er das kleine Gerichtsgebäude mit seinen Amtsräumen und dem Verhandlungssaal betrat, stürmten Erinnerungen auf ihn ein, obgleich er ihnen nicht Raum geben wollte. Hier hatte seine Laufbahn begonnen und war kurz darauf unterbrochen worden. Hier hatte er, eben vom College kommend, seine Triumphe geschlürft, hier hatte er seine Niederlage bis zum letzten gallenbitteren Tropfen ausgekostet. Hier würde er sich wieder durchsetzen. Mit vorsichtigen Schritten wollte er beginnen, von neuem Fuß zu fassen. Er klopfte an der Tür des Dienstzimmers von Mr Crazy Eagle.

Auf die Aufforderung hin einzutreten, öffnete er. Der junge indianische Richter war blind. An seiner Seite saß eine junge Frau, eine Indianerin. Sidney, der ein gutes Personen- und Namensgedächtnis besaß, erkannte sie als Erika Cramer. Sie war eine der Betreuerinnen an dem kleinen Internat einer der Reservationsschulen gewesen und nun offenbar anstelle des überalterten Runzelmann als Hilfskraft für den Blinden ausgewählt worden. Erika Cramer erwiderte Sidneys Gruß nur sehr kurz und erklärte dann dem Blinden, wen er vor sich habe.

Ed Crazy Eagles Augen waren tot. Auch alle seine Züge verschlossen sich.

Sidney Bighorn fühlte keine Scham mehr und noch keinen Triumph.

»Ich komme im Auftrag der Distriktverwaltung, Mr Crazy Eagle. Man interessiert sich dort für die Entwicklung der Kriminalität auf der Reservation.«

»Im Augenblick rückläufig.«

»Würden Sie mir bitte die Zahlen geben?«

Erika erhielt den Auftrag, den Ordner mit den statistischen Angaben vorzulegen. Sie tat es mit gesenkten Lidern.

Sidney streichelte seine Nase. Er wusste nicht, dass er es tat. Wäre es ihm bewusst gewesen, er hätte es unterlassen. Er blätterte in den Unterlagen, die der Ordner enthielt.

»Diebstahl war schon immer äußerst selten. Die Schlägereien in Trunkenheit haben also nachgelassen?«

Sidney sprach von Trunkenheit, ohne rot zu werden. Er hatte sich in der Gewalt. An die Tatsache, dass er selbst für Chief President Jimmy White Horse Whisky geschmuggelt und sich dadurch strafbar gemacht hatte, wünschte er nicht zu denken. Niemand hatte Anlass, daran zu denken, denn es war damals keine Anzeige gegen ihn erstattet worden, um den Ruf des Stammes und des Stammesgerichtes, dem er als Mitglied angehört hatte, nicht zu gefährden. Sidney war allerdings aus Furcht vor Joe King, der die Sache aufgedeckt hatte, von seinem Amt als sehr junger Staatsanwalt zurückgetreten. Jetzt aber besaß niemand mehr eine Handhabe, gegen ihn vorzugehen. Er war nicht vorbestraft, und die weiße Verwaltung wusste nichts von der Sache. Das Vergehen war um des Stammesansehens willen vertuscht worden. Sidney genoss den Vorteil.

Der Blinde wusste das alles; die Angelegenheit war durch seine Hände gegangen.

»Wie erklären Sie sich den erfreulichen Rückgang der Gewaltvergehen in Trunkenheit, Mr Crazy Eagle?«

»Der Schmuggel hat nachgelassen, seitdem O’Connor, New City, im Zuchthaus sitzt und seine Schwester Esma Horwood des Landes verwiesen wurde.«

»Sie sagen ›hat nachgelassen‹. Das bedeutet, dass der Schmuggel noch immer nicht aufgehört hat?«

»Das bedeutet, Mr Bighorn, dass ich nicht feststellen kann, ob der Schmuggel völlig aufgehört hat. Das Reservationsgebiet ist weit und einsam, und die Straßen werden nicht kontrolliert. Sie wissen selbst, wie leicht es ist, ein paar Flaschen über die Grenze zu uns zu bringen.«

Sidney wurde nun doch rot, und er war sich bewusst, dass Erika das sehen konnte.

»Ein paar Flaschen, ja. Aber wie steht es mit neuen Verbindungen nach New City? Es ging die erstaunliche Meldung durch die Zeitungen, dass ein berüchtigter Verbrecher, Gangster und vermutlicher Mörder aus der Haft entlassen, der über ihn verhängten Polizeiaufsicht entronnen sei und dass seine Spur nach New City weise. Sie kennen die Meldung?«

»Über Leonard Lee? Ja.«

»Hat man weiter von ihm gehört?«

»Es sind bei mir keine Verbrechen zur Anzeige gekommen, die mit seiner Person zusammenhängen könnten.«

»Esmeralda O’Connor, die ausgewiesene Rauschgifthändlerin, ist illegal wieder eingewandert.«

»Sie wissen mehr als ich, Mr Bighorn.«

»Wie steht es jetzt um die ehemalige Kneipe O’Connor?«

»Dies ist Sache der Polizei von New City, nicht die unsere. Wenn Sie mehr erfahren wollen, müssen Sie sich an Sheriff Crawford wenden.«

»Nicht an Elgin?«

»Nein. Nicht an Richter Elgin. An den Sheriff, der solche Angelegenheiten zuerst bearbeitet.«

Sidney Bighorn glitt über die Bemerkung hinweg.

»Erinnern Sie sich daran, Mr Crazy Eagle, dass Joe King vor Jahren mit Leonard Lee zusammen vor Gericht stand? In einem Prozess wegen schweren Raubes und in einem Gangstermordprozess.«

»Ich erinnere mich, dass uns die Akten zugänglich gemacht wurden. King und Lee gehörten damals feindlichen Gangs an.«

»Die Unterwelt mordet sich untereinander, aber gegen das Gesetz halten sie zusammen.«

»Wir kommen von der Sache ab, Mr Bighorn. Die Gewaltvergehen in Trunkenheit haben bei uns also nachgelassen.«

»Sehr erfreulich …«

» … und ein Verdienst von Mr King, der uns half, gegen das Schmuggelnest vorzugehen.«

»Ja, das hat er getan.«

Als Sidney dies sagte, arbeiteten seine Lippen. Er wollte Ironie bewerkstelligen und vermochte es doch nicht. Es war die reine, unbewältigte Wut, die in ihm wühlte, sobald er ein Lob für Joe King hören musste. Er verabschiedete sich, denn die Miene von Miss Erika Cramer missfiel ihm in diesem Augenblick aufs äußerste.

Sein erstes Wiederauftreten bei Crazy Eagle war nicht übel, aber letzten Endes doch nicht so wirkungsvoll verlaufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Er wünschte, sich noch bei dem alten Präsidenten des Stammesgerichts sehen zu lassen, erfuhr jedoch, dass dieser sich vor wenigen Tagen aus seinem Amt zurückgezogen habe. Darüber konnte man sich Gedanken verschiedener Art, verbunden mit gefühlsmäßig betonten Erinnerungen an einen alten, autoritativen Mann und seine Kanten und Ecken machen. In Sidney leuchtete nur ein einziger Gedanke auf. Eine Stelle war frei geworden.

Sidney begab sich wieder in den Dienstwagen. Er war von Brown gebeten worden, die Schulranch zu überprüfen. Die Schulranch, ins Leben gerufen, um junge Reservationsangehörige als Züchter und als Cowboys auszubilden, war Joe Kings Lieblingsidee; die Gründung war geradezu seine fixe Idee gewesen. Das schien verständlich. Dieser Mensch musste organisieren, er musste den Anführer spielen, und wenn er keine Bande hatte, so hatte er eben eine Schulranch. Aber jetzt war sein Einfluss unterbrochen.

Sidney Bighorn konnte sich ohne Bedenken und Befürchtungen in die einsame Gegend hineinwagen. Er fuhr mit der üblichen Geschwindigkeit von sechzig Meilen in der Stunde aus der Agentursiedlung hinaus in die Prärie. Die öde Weite, ferne steile Hänge, das erste Grün auf den von der Sonne ausgedörrten, vom Schnee zerdrückten, schon wieder nach Wasser schmachtenden Wiesen beschäftigten Sidney nicht. Er musste sich schlüssig werden, wo er zuerst Station machte.

Er rechnete – Meilen, Zeit, bekannte Gewohnheiten der Schulrätin Mrs Hamilton –, er überschlug seine eigenen Fähigkeiten, einen Wagen auf schlechter Straße schnell zu fahren, und bog an der nächsten Kreuzung aus der zuerst eingeschlagenen Richtung ab, um noch vor einem Besuch der Schulranch, deren Besichtigung ihm aufgetragen worden war, seinen Vater aufzusuchen.

Sidney hatte wie jeder Prärie-Indianer früh lernen müssen, auf unbefestigten, von Fahrrinnen tief durchfurchten Wegen voranzukommen. Er besaß das natürliche Maß allgemeiner Fähigkeiten in dieser Beziehung und kam nach einer halben Stunde zu dem für sich allein gelegenen kleinen Holzhaus des Vaters. Schon im Heranfahren erkannte er zwei seiner neun Geschwister, einen Jungen von fünf und ein Mädchen von vier Jahren, die dem Dienstauto entgegensahen. Schulpflichtige Geschwister konnten jetzt nicht zu Hause sein. Von den bereits schulentlassenen sah er nur einen, seinen Bruder Tom, der arbeitslos herumstand. Sidney selbst musste längst erkannt worden sein.

Aus der Tür des Hauses trat der Vater, unter den Schultern die Krücken. Er war Kriegsinvalide.

Sidney ließ den Wagen ohne Bedenken auf dem Weg stehen. In diese Gegend kam vielleicht alle paar Monate einmal ein Auto und das parkende störte niemanden.

Der Vater beantwortete Sidneys Gruß, ohne Überraschung, Freude oder Respekt angesichts des Dienstwagens zu zeigen, und ging mit dem Sohn in das Haus. In dem ersten kahlen Raum standen ein Tisch und wenige abgenutzte Sitzgelegenheiten. Der Vater setzte sich, und so nahm auch Sidney Platz.

»Ja, nun bist du also wieder einmal hier.«

Es hätte sich für Sidney nicht geziemt, nach dieser Feststellung des Vaters gleich in neugierige Fragen auszubrechen. Er war es aber seiner amtlichen Eigenschaft schuldig, die Gründe seines Auftauchens zu erklären, und er bat den Vater daher um die Erlaubnis zu sprechen.

Patrick Bighorn erteilte sie.

»Es war nicht meine Absicht, Vater, euch zu besuchen, denn ich bin von der Distriktverwaltung beauftragt, Ökonomie und Kriminalität auf der Reservation zu überprüfen. Da ich auf dem Weg zur Schulranch zufällig hier vorbeikomme«– Sidney senkte bei dieser Unwahrheit die Augen –»und dich antreffe, ist meine Freude groß.«

»So auch meine Freude, Sohn, dich als Beamten zu sehen.«

Die Mutter kam herein und brachte etwas zu essen. Es war noch nicht Mittagszeit, und sie brachte Essen nur für Vater und Sohn. Es hätte sich für sie nicht gehört, sich dazuzusetzen.

Während des kleinen Imbisses sprachen Vater und Sohn nicht miteinander. Erst als die Mutter wieder abgeräumt hatte, berichtete der Vater dem Sohn, was diesem das Wichtigste zu sein schien. »Die Schulranch, sagst du, Sohn, die Schulranch. Es wird wohl alles drunter und drüber gehen, da Joe King nicht wiederkommt.«

Sidney richtete sich innerlich auf wie ein Halm, wenn der Sturzregen, der ihn gebeugt hat, plötzlich aufhört und nur noch die erquickende Feuchtigkeit übrigbleibt.

»Was sagst du da, Vater? Überhaupt nicht wiederkommt?«

»Nein, Sohn, er ist ein Krüppel geworden und liegt noch immer in der Klinik. King kommt nicht wieder, und die Schulranch muss weg. King ist ein Kojote und der Sohn eines Kojoten; er hat dich, meinen Sohn Sidney, verleumdet. Er hat unseren Häuptling Jimmy White Horse einen Säufer genannt. Er kommt nicht wieder. So steht es. Er ist ein Krüppel, aber nicht vom Krieg wie ich.«

»Wie ist er zum Krüppel geworden, Vater?«

»Hast du schon je gewusst, was mit Joe King geschehen ist? Er geht in die Nacht hinein, und aus der Dunkelheit kommt er wieder, und niemand weiß, was geschehen ist. Aber seine Pistolen sind immer geladen.«

Sidney dachte nach und kombinierte.

»Was wird aus der Schulranch, Vater?«

»Sohn, ist es nicht eine Schande, dass sie Jungen und Mädchen auf die fruchtbaren feuchten Wiesen setzen, und ich, ein Kriegsinvalide, mit meinen zehn Kindern und der Frau, ich sitze auf dürrem Land und kann mir nicht Vieh halten, um alle satt zu machen? Joe King und Mary Booth, seine Hure, haben auch dafür gesorgt, dass der Stammesrat die Pachtgelder der weißen Rancher nicht mehr verteilt. Sie stecken sie in die Schulranch, damit dein alter Vater, Sidney, und deine Mutter und deine Brüder und Schwestern noch mehr hungern müssen. So steht es.«

»Es ist eine Schande, Vater.«

»Ja, das ist es.«

Sidney verabschiedete sich und fuhr eilends den schlechten Weg zurück bis zu der nächsten Straße, hieß den bescheidenen Dienstwagen sich anstrengen und kam am frühen Nachmittag in das Tal der weißen Felsen, in dem die King-Ranch, die Booth-Ranch und die Schulranch zu finden waren.

Er trachtete, zuerst Mary Booth aufzusuchen, doch fand er sie nicht zu Hause. Ein kleiner Junge, der zwischen den Pferden gespielt hatte, musterte Sidney Bighorn feindselig und gab kurz die Auskunft, dass Mary zum Stammesrat in die Agentursiedlung gefahren sei. Mit dem letzten Wort lief er auch schon weg. Im Hause schrie ein Säugling. Vielleicht musste der kleine Junge das Kindermädchen spielen. Er verschwand jedenfalls im Haus. Sidney schaute ringsum. Er befand sich im Zentrum einer Ranch, auf der mit Erfolg gearbeitet wurde. Die Schweine schnüffelten im Auslauf, ein paar Büffel weideten in der Entfernung zu Füßen der weißen Felsen. Kartoffel- und Getreidefeld waren zur Bestellung vorbereitet. Es ließ sich hier nichts herausfinden, was Sidneys Zwecken dienlich sein konnte. Er fuhr auf der Straße ein Stück zurück und lenkte seinen Wagen den Feldweg auf der anderen Talseite hinauf in das Gelände der King-Ranch, der die Schulranch benachbart lag. Das Frühlingsgras war hier frischer und kräftiger grün als anderswo, denn von der Höhe sickerte das Wasser des Brunnens, den Joe King sich hatte einrichten lassen. Die Sorte des Grases war besser, und Hecken schützten gegen den Wind. In den Boxen und im Korral rührten sich die Pferde, kräftige, elastische Tiere, eine Zucht der wertvollen bucking horses.

Zwei Häuser standen am Hang, die alte Blockhütte, welche die Kings schon seit der Einrichtung der Reservation bewohnten, und ein neues Holzhaus, wie es die Wohlfahrts- und Wohnungsverwaltung der Reservation zahlreicher werdenden Familien kostenlos zur Verfügung zu stellen pflegte. Die Häuser waren beide geschlossen, und rings ließ sich kein Mensch sehen. Wiesen und Felder lagen wie ausgestorben. Auch auf der Schulranch war keine Menschenseele zu entdecken. Es schien hier niemanden zu geben, der Sidney Bighorn zu empfangen die Absicht hatte. Man hätte ihn ohne Mühe schon von weither kommen sehen können. Die Häuser lagen am Hang und gaben Überblick über das ganze Tal.

Sidney konnte sich mit Pferden und Hunden unterhalten, wenn es ihn danach gelüstete. Es gelüstete ihn nicht danach. Wenn er auf der Agentur bei Mr Brown meldete, dass er niemanden angetroffen habe, weder auf der Booth- noch auf der King- noch auf der Schulranch, konnte dies bei dem Dezernenten nur den erwünschten schlechten Eindruck hervorrufen und Mr Brown in der Meinung bestätigen, dass der Schulranch nicht mehr genügend Aufmerksamkeit gewidmet werde.

Sidney wollte sich schon zu seinem Wagen zurückziehen, als er noch eine unerwartete Begegnung hatte. Über dem Hügelkamm tauchte ein Reiter auf, Reiter sattellos, barfuß, nur mit einer Hose bekleidet. Es war ein Indianer, ein junger Bursche, ein kräftig gebauter Bursche. Der Indian-Cowboy lenkte sein Tier den Hang hinab, und da er Sidneys ansichtig geworden war, lenkte er geradewegs auf diesen zu.

»Hallo!«

»Hallo!«

Der Reiter hielt, stieg aber nicht ab, sondern schaute vom Pferd auf Sidney hinunter.

»Was willst denn du hier?« fragte er in der Stammessprache.

Sidney stellte die Gegenfrage auf Englisch.

»Wer ist hier verantwortlich?«

»Was geht dich das an?«

»Mein Name ist Bighorn, und ich komme von der Distriktverwaltung.«

»Weiß, dass du Sidney bist, der Schlangenkopf. Was hast du hier zu suchen?«

»Ich komme von der Distriktverwaltung.«

»Das kann ja sein, aber ich will wissen, was du hier herumzuschnüffeln hast.«

»Ich schnüffle nicht. Sprich mit mir, du Bursche, wie es sich gehört. Wo ist Mrs King?«

»Mrs King ist für dich nicht da. Scher dich weg.«

»Ich komme von der …«

»Wenn du dich ausweisen willst, so bring Brown mit oder Shaw. Dir glaub ich kein Wort.«

»Du wirst unverschämt. Wie ist dein Name?«

»Mein Name ist Robert, Robert Yellow Cloud, das kannst du dir merken. Ich werfe einen Stier ins Gras, und mit dir werde ich auch noch fertig. Fahr nach Haus.«

»Sie haben mir keine Befehle zu geben, Robert. Sie bedrohen einen Beamten, ist Ihnen das klar?«

»Nein. Wenn ich drohen will, sieht das anders aus.«

»Ah, Sie haben schon Menschen bedroht!«

»Steig wieder in deinen Wagen ein, sag ich dir, und verschwinde. Wir brauchen dich hier nicht.«

»Ich stelle fest, dass Sie mich bedrohen und vertreiben. Ich bin aber in amtlichem Auftrag hier. Ich gehe. Sie werden noch von mir hören.«

»Von dir haben wir schon genug gehört. Aber noch nie etwas Rühmliches. Mach dich davon. Ich habe gesprochen. Hau.«

Sidney beeilte sich einzusteigen und den Wagen in Gang zu bringen. Er hatte tatsächlich Angst vor dem Burschen, aber er war auch zutiefst zufrieden, dass sich dieser Robert eines Vergehens schuldig gemacht hatte. Crazy Eagle musste ihn zur Rechenschaft ziehen. Wenn Crazy Eagle das nicht tat, versäumte er eine Dienstpflicht als Richter. Wenn er es tat, gab es einen schwarzen Fleck im Rufe der King-Ranch und – warum nicht? – auch für die benachbarte Schulranch.

Sidney Bighorn saß in wichtiger Haltung am Steuer, so etwa, als ob der Wagen eine Verwaltung sei, die er leite. Er fuhr den Wagen zurück zur Agentursiedlung.

An diesem Tage konnte er dort allerdings nichts mehr unternehmen, die Büros waren schon geschlossen.

Am folgenden Morgen fuhr er nochmals bei der Blockhütte des Vaters vor. Dort konnte er am unauffälligsten Nachrichten sammeln.

»Robert? Dieser Bandit!«

»Warum nennst du ihn einen Banditen, Vater?«

»Weil er einer ist, Sohn. Wahrhaftig, er ist es.«

»Warum ist er ein Bandit, Vater?«

»Er sagt es ja selbst laut und deutlich. Zu jedem sagt er es, der es nur hören will. Er sagt, dass sie eine Bande seien, sie alle zusammen, und dass sie zusammenhalten.«

Sidneys gespitzte Ohren wurden noch spitzer.

»Wer?«

»Burschen, die keine Arbeit haben, und Burschen, die Arbeit haben, Footballspieler, Schwimmer, Hockeyspieler, Rodeoreiter und was sonst noch für Joe King begeistert ist.«

»So steht das?«

»Ja, so steht es. Was soll denn auch aus den jungen Burschen werden, die mit dem Gangster umgehen? Mit dem Gangster und seiner Hure.«

Sidney hatte genug gehört.

Um die Mittagszeit erstattete er bei Mr Brown einen ersten Bericht, ließ sich von dem stellvertretenden Superintendenten Shaw beraten, ob er gegen Robert Yellow Cloud Anzeige erstatten solle, und wurde dazu ermuntert. Er begab sich zu Mr Crazy Eagle und gab zu Protokoll, was er erlebt hatte. Es gelang ihm diesmal, ironisch zu wirken, als er Mr Crazy Eagle völlig freistellte, wie er die Sache weiter bearbeiten wolle.

»Ich kann natürlich nicht umhin, Mr Crazy Eagle, die Begegnung mit Robert Yellow Cloud in meinen Bericht für die Distriktverwaltung einzuarbeiten.«

Der Blinde erwiderte darauf nichts. Es mochte ihm klar sein, dass eine Bitte um Verständnis oder Menschlichkeit bei Sidney Bighorn nicht angebracht war und wirkungslos bleiben musste.

»Die Sache nimmt ihren amtlichen Gang, Mr Bighorn.«

»Danke.«

Sidney machte in Gedanken Bilanz, während er zu seinem Wagen zurückging.

Joe King, Crazy Eagle und Robert Yellow Cloud standen auf seiner Abschussliste. Dass Crazy Eagle gegen Robert vorgehen musste, empfand Sidney als einen besonderen Erfolg der beiden Inspektionstage.

Blieb noch die Frage, wie und wo sich Sidney am zuverlässigsten über das Befinden von Joe King unterrichten konnte. Die Bemerkungen des Vaters Bighorn und Mr Browns erschienen ihm unsicher, vielleicht übertrieben.

Es war für Sidney aber notwendig, die Aktionsfähigkeit oder -unfähigkeit seines bisher gefährlichsten Gegners richtig zu beurteilen, wenn er nicht überraschende Rückschläge erleben wollte. Er beschloss daher, sich ohne Scheu an die kompetente Stelle zu wenden, an den Chefarzt des Hospitals.

Als Angehöriger der Distriktverwaltung wurde er bei Roger Sligh, M. D., nach der Wartezeit von einer Stunde vorgelassen.

Sligh saß in seinem hellen großen Sprechzimmer und musterte den jungen Indianer und Beamten mit jenem Sarkasmus, dessen der Unabhängige und doch irgendwie Abhängige am ehesten fähig ist. Sligh war nach seinem gegenwärtigen Status dem Gesundheitsdienst unterstellt, aber nicht der Verwaltung.

Sidney grüßte respektvoll, wurde jedoch nicht aufgefordert, Platz zu nehmen.

»Bitte, was wollen Sie wissen? Ich kann Ihnen nur Auskünfte geben, sofern sie meine ärztliche Schweigepflicht nicht verletzen.«

Das klang nicht sehr ermutigend.

Sidney riss sich zusammen. Er hatte das Gefühl, dass der Chefarzt in irgendeiner, wenn auch noch nicht genau definierbaren Weise sein eigner Typ sei, und eben das beunruhigte ihn, denn mit solchen Menschen war es schwer, aufrichtig zu sprechen.

»Mr Sligh, es geht um Folgendes. Ich bin zur Inspektion der ökonomischen Verhältnisse dieser Reservation und zur Kontrolle der Entwicklung der Kriminalität hierher gesandt. Das letzte spielt für unser Gespräch keine Rolle …«

Sligh lächelte mit wachsender Bosheit; auch er hatte sofort sein jüngeres Spiegelbild erkannt, was Ehrgeiz und eine gewisse Skrupellosigkeit betraf, die bei dem jungen Beamten bedeutend weniger Zäune und Hindernisse finden mochte, als es im Rahmen der strengen Berufspflichten eines Arztes der Fall war.

»Sie kommen also weder als Kriminalist noch als Privatdetektiv zu mir, mein Lieber. Das ist beruhigend. Kriminalität spielt tatsächlich weder bei mir noch bei Ihnen eine Rolle. So lange jedenfalls nicht, wie unsere Gesetzbücher nicht grundlegend umgestellt werden.«

»Ich verstehe nicht ganz.«

»Gut, gut, dann träumen Sie auch nicht schlecht. Ich meine, wenn diejenigen, die Gesetze machen, eines Tages beschließen würden, Intrigen und Bürokratie mit Zuchthaus und Todesstrafe zu bedenken, einen einfachen, ehrlichen Totschlag aber mit Bewährungsfrist abzutun – ja, was dann? Was meinen Sie von Ihrem Ressort aus?«

Sidney versuchte, gewollt zu lachen, da er darin aber nicht geübt war, geriet der Versuch nicht und es kam nur ein hilfloses Meckern zustande.

»Ich sehe, Sie haben sich zu diesem Punkt noch keine Gedanken gemacht. Sie sind unschuldig, Sie sind jung. Also kommen Sie mit Ihrem Anliegen heraus, Mr Bighorn.«

Sidney wurde wieder einmal rot. Es ärgerte ihn, dass er rot wurde. Er musste über Mittel nachdenken, mit denen er solche Unzulänglichkeiten eines Anfängers endlich überwinden konnte. Er musste sich auch eingestehen, dass er irgendwie verwirrt war und nicht eben geschickt angeknüpft hatte.

»Also, worauf soll es denn nun eigentlich hinaus, Mr Bighorn?«

»Auf die Entscheidung darüber, Doktor, wie wir die Schulranch weiterführen können. Miss Booth ist überlastet. Ranch – Rat – Kind. Mr King fällt vorläufig ebenfalls aus. Hauptamtliche Kräfte einzustellen ist im Vergleich zu den vorhandenen Mitteln zu teuer. Besteht nach Ihrem Urteil Aussicht, dass Mr King in absehbarer Zeit wieder für die Schulranch tätig sein kann?«

Sligh lächelte vor sich hin, dann griff er an.

»Mr Bighorn, die Schulranch ist Sache des Stammesrates, nicht der Verwaltung. Soviel habe ich in der kurzen Zeit meines Aufenthaltes hier auf dieser Reservation schon gelernt, obgleich mich das dienstlich nichts angeht. Wenn die Herren des Stammesrates etwas von mir zu erfahren wünschen, so stehe ich in meiner Sprechstunde zur Verfügung. Ich denke, dass Ihnen mit dieser Auskunft gedient ist.«

Sidney Bighorn zog sich zurück.

In der Aus- und Eingangshalle des Krankenhauses begegnete er dem Verwaltungsdirektor Walker, der Sidney beim Kommen zu dem richtigen Zimmer gewiesen hatte.

»Nun? Alles erledigt?«

Sidney kämpfte um eine Antwort, in der sich Zurückhaltung, Missvergnügen und Anspruch mischen sollten. Er kämpfte etwas lang.

»Hat Sligh Sie rausgeworfen? Dazu ist er imstande. Nicht nur Ihnen gegenüber.«

Sidney fühlte sich erleichtert. Walkers burschikoser Ton gab neue Möglichkeiten.

»So ungefähr. Ich hatte nur wissen wollen, ob Mr King in absehbarer Zeit wieder auf der Schulranch tätig sein kann. Wir brauchen Lehrkräfte.«

»Die nichts kosten! So ist es doch? Aber mit dem Namen King können Sie Dr. Sligh nicht kommen, das ist ein neuralgischer Punkt bei ihm. Besuchen Sie doch einfach selbst diesen Mr King.«

»Wann ist Besuchszeit?«

»Das weiß ich nicht. Er liegt ja nicht hier, sondern in der Privatklinik Dr. Miller. Mit Ihrem Dienstwagen ist das kein Problem, und in einer Privatklinik wird es mit der Sprechzeit für Patienten nicht so genau genommen. Dann fragen Sie Mr King auch gleich, warum er den Zettel mit der Adresse von Mr Sligh verschluckt hat. Mr Sligh möchte das gern wissen.«

Sidney sank der Unterkiefer vor Erstaunen und Eifer herunter. Er musste ihn rasch wieder hochklappen, ehe Speichel herauslief.

»Ja, danke. Ich werde gern versuchen, Dr. Sligh in dieser Sache behilflich zu sein.«

»Sonst noch etwas?«

»Nein. Aber vielleicht ist es für Dr. Sligh nicht uninteressant zu erfahren, dass King zweimal mit Leonard Lee zusammen auf der Anklagebank gesessen hat. Leonard Lee soll sich Pressemeldungen zufolge nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus der Polizeiaufsicht sofort wieder entzogen und nach dem Westen gewandt haben.«

Walker schob das Kinn vor. »Ja. Das habe ich, wenn ich mich recht entsinne, auch gelesen. Welche Verbrechen hat Lee zuletzt begangen?«

»Rauschgiftschmuggel und Mordanschläge. Auch eine gewisse Rauschgifthändlerin Esmeralda O’Connor wird schon wieder gesucht. Lilian Horwood hat die beiden beobachtet, ehe sie abermals verschwunden sind.«

Walker schaute Bighorn lange an. »So, so.«

Der Verwaltungsdirektor wurde von anderer Seite in Anspruch genommen. Sidney Bighorn verließ das Krankenhaus, schon entschlossen, an einem Wochenende zu der Privatklinik Dr. Miller zu fahren. Jedoch nicht mit dem Dienstwagen.

Es war ein Donnerstag, an dem Mr Sidney Bighorn und Mrs Hamilton wieder in den Büros der Distriktverwaltung auftauchten. Am Freitag machte Sidney seinen Bericht fertig. In der Nacht zum Sonnabend startete er bereits mit seinem Privatwagen und erreichte am frühen Nachmittag die Klinik, in der er den Patienten Joe King besuchen wollte. Während der Fahrt hatte er Fangfragen, die er stellen, und ausweichende Antworten, die er erhalten konnte, in ihrer Wirkung und ihrem Ergebnis gegeneinander abgewogen.

Die orthopädische Klinik lag außerhalb einer relativ hübschen Stadt. Im Garten traf Sidney Patienten, die sich schon selbständig bewegen konnten. Beim Pförtner hörte er, dass er zur rechten Zeit kam und Besuche an diesem Tage um diese Stunde allgemein erlaubt waren. Sidney erfuhr die Zimmernummer und benutzte den Fahrstuhl, um in den zweiten Stock zu gelangen. Die Türen der Krankenzimmer standen alle offen. Die Fenster waren zum größten Teil geöffnet und ließen Frühlingsluft und Blütenduft herein. Sidney fand den gesuchten Raum. Das große Zimmer war mit vier Patienten belegt. Zwei aus den dem Fenster am nächsten stehenden Betten hatten aufstehen dürfen; sie saßen am Tisch und spielten Karten. Sidney konnte sie schon durch die Tür sehen.

Er trat ein, und mit einem Blick fand er rechter Hand seinen Feind Joe King im weiß bezogenen Bett, auf dem Rücken ausgestreckt, beschäftigungslos. Die Hände lagen auf der Decke, abgemagerte, schlanke Hände, genau gleichmäßig ausgerichtet. Am Hals war das Ende einer Schiene zu erkennen. King schaute vor sich hin und schien von seiner Umgebung überhaupt keine Notiz zu nehmen, auch nicht von dem eintretenden Besuch.

Sidney ging zu dem Bett und stellte sich am Fußende auf. Amtsbewusstsein durchfloss ihn vom Scheitel bis zur Zehe und gab seinem Auftreten, wie er zu fühlen meinte, das ebenso Imposante wie Gemäßigte. Großmut gegenüber dem Gelähmten lag ihm fern; der andere sollte spüren, dass er unterlegen war.

»Wie geht es Ihnen, Mr King?«

Der Angesprochene schaute nicht auf, aber er antwortete, langsam und für alle im Zimmer vernehmlich: »Bye … bye, Mr Bighorn. Es ist gut, ich danke Ihnen; Sie können wieder gehen.«

King bewegte auch bei diesen Worten den Kopf nicht, nicht einmal die Augen. Vielleicht hinderte ihn die Schiene oder seine Lähmung, aber vielleicht sah er auch absichtlich an dem Besucher vorbei. Sidney empfand einen Schock. Mit höflichen Worten hinausgeworfen zu werden, darauf war er nicht gefasst gewesen; seine Phantasie hielt keine Antwort bereit.

Er verließ seinen Standplatz; unsicher sah er sich dabei nach den drei anderen Männern um. Die Privatklinik Dr. Miller war teuer. Diese Leute hier mussten wohlsituierte Bürger sein. Er war vor ihnen brüskiert und beschämt worden. Sie lächelten zugleich boshaft und verständnisvoll, wie es ihnen und ihrer Stimmung angemessen war.

»Geben Sie es auf, Mr Bighorn«, sagte einer der beiden, die sich am Tisch zum Spielen zusammengefunden hatten. »Wenn Mr King keine Lust hat, hat er keine Lust. Er ist ein Indianer.«

Sidney hätte antworten können »ich auch«, aber das sagte er nicht, denn er wollte sich selbst nicht in einem Atem mit Joe King nennen, und er wusste auch nicht genau, ob er sich selbst überhaupt noch als Indianer bezeichnen wollte oder nicht; seine Meinung zu dieser Frage wechselte. Er fühlte aber mit Sicherheit, dass er wieder rot wurde, ärgerte sich ein weiteres Mal über seine Schwäche und zog sich zurück, ohne noch einmal nach dem Patienten Joe King zu schauen. Er dachte aber: hartgesottener Bursche, verdammter. Du kannst nichts mehr rühren als die Zunge, und damit wirst du noch unverschämt. Ich zahle es dir eines Tages heim.

Sidney versuchte noch, Dr. Miller zu erreichen. Der Arzt war ausgefahren. Von der Stationsschwester erfuhr Sidney nur, dass man zwar gar nichts voraussagen könne, der Patient Joe King aber jedenfalls eine vorzügliche, zähe Konstitution besitze.

Sidney begab sich wieder zu seinem Wagen.

In der Nacht zum Montag schlief Sidney Bighorn zu Hause schlecht, ebenso schlecht wie Roger Sligh, M. D., dem Walker gestanden hatte, dass Bighorn auf seine Veranlassung hin nach der Klinik gefahren sei, um zu ergründen, warum King den Zettel verschluckt hatte. Auch die Namen Leonard Lee und Esmeralda O’Connor spukten von nun an in Roger Slighs wiederbelebten Träumen.

Sligh behauptete seiner Haushälterin gegenüber, dass des Nachts jemand versucht habe, sein Fenster zu öffnen.

Die gute Frau zuckte die Achseln und dachte sich im Stillen, dass der Herr wohl wieder zu spinnen anfange und den Wind mit einem Menschen verwechselt habe.

Sie empfahl ihm, zu einem indianischen Medizinmann zu gehen. Diese Leute könnten zuweilen Wunder tun.

Roger Sligh lachte laut, sich selbst verhöhnend, und berichtete die Sache seiner Vertrauenskollegin Kate Carson, als er mit dieser zum Tee bei dem Oberarzt der Säuglingsabteilung saß. Sligh hatte sich an die Navajo-Decken und Hopi-Puppen gewöhnt und verzehrte Schinkenbrötchen, ohne sich mehr von der Farbenpracht oder der Kohlezeichnung im Hintergrund ablenken zu lassen.

Aber in seinem Inneren rauschte es von nervöser Unruhe.

Roger Barn kannte tolle Geschichten von Medizinmännern und Träumen; wenn er in dieses Fahrwasser kam, wurde die Unterhaltung flüssig.

»Übrigens ist an meinem Fenster auch einer gewesen, Sligh, oder ich will nicht Roger heißen. Es kann sich also nicht um Ihre Privatangelegenheiten handeln.«

Was Barn hier sagte, war Schwindel, ein Schwindel in guter Absicht, der Sligh auch sofort zu beruhigen schien. Doch verbreitete sich durch Mrs Carson in der folgenden Woche das Gerücht, dass in der Agentursiedlung nächtlicherweise Gespenster umgingen, und da es keine Gespenster gab, mussten es wohl Indianer sein. Richter Crazy Eagle sah sich veranlasst, nächtliche Streifen der Stammespolizei anzuordnen. Dabei wurde eine Katze erlegt.

Es war ein Abschluss in Heiterkeit, der jedoch das Gemüt von Roger Sligh nicht streicheln, nicht einmal streifen konnte. In jeder Minute, in der er nicht mit seiner Arbeit und seinen Patienten beschäftigt war, dachte er daran, wie sich das Geschwätz um seine Person weiterverbreitet hatte. Er misstraute Walker. Er misstraute Bighorn. Die Tatsache, dass es einen Menschen gab, der einen Zettel mit der Adresse von Roger Sligh verschluckt hatte, verursachte ihm wieder psychische Beengung. Er spielte mit den Namen Leonard Lee und Esmeralda O’Connor hin und her, verschaffte sich die Abschriften der Presseberichte über jene Prozesse, von denen Bighorn gesprochen hatte, und leckte an dem Klatsch über die Rauschgifthändlerin Esmeralda, obgleich ihm davon speiübel wurde.

Eines Sonntags in New City musste er sich beim Frühstück mit der zu nichts als einigen mäßigen Ausgaben verpflichtenden Dame deren phantasievolle Kombinationen anhören. Das dezent geschminkte Geschöpf vermutete, dass sich Elisha Field den Gangster Leonard Lee geholt habe, um sich gegen alle Störungen absichern zu lassen, und Esmeralda dem Geschäftsnachfolger Field alte Schmugglerwege wieder habe eröffnen sollen.

»Was für Störungen, was für Wege, Kitty?«

»Du bist verführerisch harmlos. Heroin steht doch auf der Liste. Im Grunde Unsinn. Man sollte es ebenso freigeben wie den Alkohol.«

Roger Sligh ließ den Verkehr mit dieser Dame langsam einschlafen. Der Empfangschef fand einen anderen Partner für sie, so dass sich der Übergang ohne Schwierigkeiten vollzog.

Stein mit Hörnern

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