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1. Moonwatch
ОглавлениеEric ging über den Vorplatz des Jugendklubs und sah sich interessiert um. Sein erster Besuch hatte während der Schulzeit stattgefunden und der Komplex war ruhig und verlassen gewesen. Heute herrschte hier Leben. Ein paar Jugendliche spielten Basketball. Unter ihnen war ein Mädchen, das verbissen um den Ball kämpfte. Sie machte ihre fehlende Körpergröße durch Geschwindigkeit und Wendigkeit wett. Eric blieb stehen und beobachtete das Spiel. Er erinnerte sich an seine Schulzeit. Damals war er ein begeisterter Basketballspieler gewesen, doch die dritte Ölkrise vor dreizehn Jahren hatte dem ein Ende gesetzt. Der Ölpreis war in die Höhe geschossen und hatte überall zu Versorgungsengpässen geführt. Seine Eltern waren mit ihm zu Verwandten nach Norwegen geflohen. Als die Lage sich in Berlin wieder beruhigt hatte, waren sie zurückgekehrt. In der Zwischenzeit hatte Erics Basketballteam sich aufgelöst. Es gab Wichtigeres als das Spiel. Der Ölpreis war nie wieder auf das alte Niveau zurückgekehrt und das Leben hatte sich grundlegend geändert. Die Menschen mussten lernen ohne billiges Öl zurechtzukommen.
»Ey, was willst du?«, wurde Eric von einem schwarzhaarigen Teenager angesprochen, der langsam auf Eric zukam. Sein Gang hatte etwas Herausforderndes. Nun waren auch die Augen der anderen auf Eric gerichtet.
»Mein Name ist Eric. Ich habe einen Termin mit euch.«
»Bist du der Umweltfuzzi?«
Eric musste über diese Bezeichnung lächeln. »Genau der bin ich.«
Eine kleine zierliche Frau kam aus dem Gebäude.
»Hallo Nina«, begrüßte Eric sie.
»Hallo Eric.« Die Leiterin des Jugendzentrums schüttelte ihm die Hand. »Komm herein«, forderte sie ihn auf. »Ihr auch«, wandte sie sich an die Jugendlichen. Trotz ihres äußeren Erscheinungsbildes besaß sie die notwendige Durchsetzungskraft für ihren Job.
Sie gingen in einen Raum mit bunt zusammengewürfelten Sitzgelegenheiten. Die Couch schien der beliebteste Platz zu sein. Drei Mitarbeiter des Jugendklubs gesellten sich zu ihnen.
»Wir sind schon neugierig auf die Ideen, die du uns mitbringst«, eröffnete Nina das Gespräch, nachdem sich alle gesetzt hatten.
»Ich freue mich hier zu sein und finde es toll, dass ihr euch an dem Projekt beteiligt«, wandte Eric sich an die Jugendlichen.
»Ist doch logisch, Mann«, entgegnete ein Junge mit lockigen braunen Haaren, der auf der Couch lümmelte.
»Ich habe ein paar Vorschläge mitgebracht, wie euer Jugendklub energieeffizient saniert werden kann. Die wichtigste Maßnahme ist die Dämmung des Gebäudes. Dazu werden an den Fassaden Dämmplatten angebracht, die Wärmeverluste reduzieren sollen. Auch das Dach muss gedämmt werden, denn dieses Gebäude ist schon ziemlich alt. Ihr habt hier ein Flachdach, das verschiedene Möglichkeiten bietet. Eine Variante ist, das Dach weiterhin für die Stromerzeugung mit Solarzellen zu nutzen. Eine andere Idee ist jedoch, nur auf einem Teil des Daches Solarzellen zu installieren und auf dem Rest einen Dachgarten anzulegen.«
Eric konnte das Interesse der Teenager spüren.
»Wenn ihr euch für den Dachgarten entscheidet, könnt ihr darauf Obst und Gemüse anbauen und verkaufen«, fuhr er fort.
»Cool, dann haben wir endlich Geld«, stellte der schwarzhaarige Junge fest.
»Ist das Dach stabil genug für einen Garten?«, erkundigte sich ein Mädchen mit langen Haaren und aufwändigem Make-up.
»Ein Architekt hat das Dach begutachtet. Er hat mir versichert, dass sich das Dach für einen Garten eignet«, sagte Eric.
»Das war der Typ von letzter Woche«, warf ein Junge ein.
»Der Dachgarten hat den Vorteil, dass es im Sommer im Gebäude nicht zu heiß wird. Ich denke, das ist hier ein Problem?« Fragend sah Eric in die Runde.
Die Teenager nickten zustimmend.
»Ich kenne einen Landschaftsgärtner, der sich auf das Anlegen von Dachgärten spezialisiert hat. Er hat für euch einen Vorschlag erarbeitet.«
Eric öffnete seinen Laptop und zeigte einen Entwurf.
»Die Solarzellen auf eurem Dach nehmen derzeit sehr viel Raum ein. Das möchte ich ändern. Wenn man sie wie auf dieser Grafik gruppiert, bleibt viel mehr Platz übrig. Dann ist es möglich Grünflächen anzulegen. Außerdem gibt es Platz für eine Chillout-Ecke. Statt einen Sonnenschirm aufzustellen, können wir einen kleinen Pavillon bauen, auf dem Solarzellen installiert werden. An den Seitenwänden können Kletterpflanzen wachsen.« Eric deutete auf einen anderen Bereich des Gartens. »Hier sollten größere Büsche stehen, um den anderen Pflanzen etwas Schatten zu bieten. Bei der Auswahl der Pflanzen kann euch der Landschaftsgärtner beraten.«
»Wieso sind auf der Grafik weniger Solarmodule als wir auf unserem Dach haben?«, fragte die Basketballspielerin skeptisch.
»Eure Solarmodule sind schon über zehn Jahre alt. Inzwischen gibt es wesentlich effizientere. Wenn wir die austauschen, bleibt mehr Platz für Grünflächen«, antwortete Eric. »Im Gebäudeinneren werden wir auch noch ein paar Veränderungen vornehmen. Wassersparsysteme habt ihr bereits. Aber ich möchte zusätzlich ein Brauchwassersystem installieren, das zur Bewässerung eures Dachgartens genutzt werden kann. Außerdem ist die Beleuchtung noch nicht vollständig auf LED Lampen umgestellt. Das muss geändert werden.«
»Also, ich finde die Ideen super«, schaltete sich die Leiterin ein.
»Ich wollte schon immer einen Garten haben«, sagte ein Mädchen mit strohblonden Haaren und schaute sehnsüchtig auf den Entwurf.
In diesem Teil der Stadt lebten die Menschen in Wohnungen. Einfamilienhäuser mit Gärten waren eine Rarität.
»Das klingt teuer. Konntest du so viel Kohle bei der Stadt lockermachen?«, wandte sich ein Junge an die Leiterin des Jugendzentrums.
»Eric hat mir einen Kostenvoranschlag gemacht. Wenn ihr beim Anlegen des Dachgartens helft, reicht unser Budget aus«, antwortete diese.
»Also, wer ist dafür?«, fragte der Schwarzhaarige und hob seine Hand. Auffordernd sah er in die Runde.
Nach und nach hoben alle ihre Hand. Der Vorschlag war angenommen.
»Ich freue mich, dass es euch gefällt. Wenn ihr mit dem Landschaftsgärtner arbeitet, wird er euch erklären, wie ihr die Pflanzen pflegen müsst, damit ihr lange etwas davon habt«, sagte Eric. Er lächelte zufrieden. Es freute ihn, dass seine Idee so gut angekommen war.
Er verabschiedete sich und fuhr mit seinem Fahrrad nach Hause. Der Auftrag brachte ihm nicht viel ein, doch die Begeisterung dieser Teenager zu erleben, war viel mehr wert. Dieses Projekt war wesentlich befriedigender als das, was ihm vor ein paar Wochen angeboten worden war. Ein Supermarktbesitzer wollte von Eric beraten werden. Zunächst war Eric angetan von der Herausforderung, die sich ihm bot. Nach ein wenig Recherche war ihm klar geworden, dass dieser Mann einen sehr schlechten Ruf hatte. Er versuchte seinen Kunden minderwertige Ware zu verkaufen, behandelte seine Angestellten schlecht und nutzte sie nach Strich und Faden aus. Einige kündigten daraufhin und suchten sich neue Jobs. Doch es gab auch Leute, die keine Wahl hatten. Sie waren nicht in der Lage sich zu wehren. Alfred Edelmann hatte an der Idee Gefallen gefunden, dass er durch eine Umweltberatung sein Image aufpolieren könnte. Er wollte Eric engagieren. Eric hatte lange darüber nachgedacht, ob er den Auftrag annehmen sollte. Er kam finanziell inzwischen halbwegs über die Runden und entschied sich abzulehnen. Mit diesem Halsabschneider wollte er nichts zu tun haben.
Er stellte sein Fahrrad ab und stieg die Treppen zu seiner Wohnung in den dritten Stock hinauf. Einige Stufen knarrten unter seinem Gewicht. Dieser Altbau war etwas völlig anderes als das schicke Penthouse, in dem er früher gewohnt hatte. Doch mit seinem Job hatte er vor einigen Jahren auch seine teure Wohnung verloren. Er war gezwungen gewesen, wieder zu einem einfacheren Lebensstil zurückzukehren. Er hatte sich eine günstige Wohnung in Berlin Kreuzberg gesucht. Hier hatte er schon während seiner Studienzeit gewohnt und nun überrascht festgestellt, dass er sich in dieser Gegend immer noch wohlfühlte. Auch beruflich hatte Eric sich verändert. Er hatte seine eigene Firma gegründet. »Bergmann Umweltberatung«. Diese unterstützte Firmen bei der Suche und Umsetzung von umweltfreundlichen und ressourcenschonenden Möglichkeiten der Unternehmensführung.
Als er die Tür aufschloss, umfing ihn Stille. Er ging in sein Büro, das sich neben einer gemütlichen Wohnküche, seinem Schlafzimmer und einem kleinen Gästezimmer in seiner Wohnung befand. Zunächst kontaktierte er den Landschaftsgärtner. Er teilte ihm mit, dass sie den Auftrag im Jugendklub wie geplant durchführen würden. Er sah seine E-Mails durch und stutzte. Er war auf eine E-Mail-Adresse gestoßen, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Er fühlte sich in seine Schulzeit zurückversetzt. Sein Freund Chris hatte diese Adresse damals verwendet. Doch seit er nach Kanada gezogen war, hatte er sie nicht mehr benutzt. Neugierig öffnete Eric die E-Mail und begann zu lesen. Chris bat ihn um Hilfe. Er benötigte Geld, um mit seiner Frau Kanada zu verlassen. Die E-Mail war sehr kurz gehalten, doch Eric spürte die Dringlichkeit.
Er lehnte sich zurück und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Chris musste in ernsten Schwierigkeiten stecken. Anders konnte Eric sich diese E-Mail nicht erklären. Sein Freund setzte sich für den Erhalt des Wood Buffalo Nationalparks ein. Wahrscheinlich war er mit seinem Engagement jemandem in die Quere gekommen. Chris war in seiner Mail sehr vage geblieben, also hielt er die Kommunikation nicht für sicher. Eric würde keine Fragen stellen.
Er sah im Internet nach, was eine Schiffspassage von Halifax nach Deutschland kostete. Er suchte nach dem günstigsten Angebot, doch die Preise der verschiedenen Anbieter unterschieden sich nicht wesentlich. Rund 2500 Euro musste man für diese Reise bezahlen. Er fragte sich, wie er auf die Schnelle 5000 Euro für Chris und seine Frau auftreiben sollte. Früher, als er noch bei der renommierten Firma Niesing & Hamilton Consulting gearbeitet hatte, wäre das kein Problem gewesen. Diesen Job hatte er jedoch verloren, ebenso wie den Kontakt zu vielen seiner damaligen Bekannten. Er passte nicht mehr in ein Leben, in dem der Schein das Wichtigste war. Er hatte seine eigene Firma eröffnet und hart daran gearbeitet, sie aufzubauen. Inzwischen war er so weit, dass er von den Einnahmen bescheiden leben konnte. Bisher war er aber noch nicht in der Lage gewesen, größere Reserven für Notfälle zu bilden. Im letzten Jahr hatte er sich mühsam 2000 Euro zusammengespart. Die Aufträge, die er bisher bekommen hatte, waren eher klein. Sie brachten nicht viel Geld ein. Große Firmen beauftragten etablierte Beratungsunternehmen wie Niesing & Hamilton Consulting.
Eric sah auf sein Handgelenk und betrachtete seine Uhr. Es war eine Omega Speedmaster Moonwatch Professional. Diese Uhr hatte er sich in seiner Zeit bei Niesing & Hamilton Consulting gekauft. Er hatte diese Uhr schon seit Jahren bewundert. Buzz Aldrin, der zweite Mann auf dem Mond, hatte eine Uhr getragen, in der dieses Uhrwerk verwendet worden war. Seitdem war sie als Moonwatch bekannt. Eric liebte das Design. Das schwarze Ziffernblatt und die silbernen Akzente strahlten eine Eleganz aus, die er bewunderte. Diese Uhr hatte seinen Erfolg symbolisiert. Er war mit der Arbeitsweise bei Niesing & Hamilton Consulting nicht immer einverstanden gewesen. Doch die Statussymbole, die er sich dank des großzügigen Gehaltes leisten konnte, hatten ihm gefallen.
Schweren Herzens dachte er darüber nach, dass er seine Moonwatch verkaufen musste, wenn er Chris helfen wollte. Neu hatte sie 4800 Euro gekostet. Eric hatte sie seinerzeit für 2500 Euro gekauft. Nun würde er wahrscheinlich um die 1500 Euro bekommen. Doch auch mit seiner Notfallreserve von 2000 Euro würde das Geld nicht ausreichen, um die Überfahrt für Chris und seine Frau zu bezahlen. Er brauchte noch eine andere Geldquelle. Wenn er einen lukrativen Auftrag an Land ziehen könnte, wäre sein Problem gelöst. Das war aber alles andere als einfach. Obwohl Eric sich im Business gut auskannte, war es meistens ein langwieriges Ringen, neue Kunden zu finden. Er sah nur eine Möglichkeit, schnell an Geld zu kommen. Es gab einen Auftrag, den er vor kurzem abgelehnt hatte. Der Supermarktbesitzer hatte noch mehrmals nachgefragt, ob er seine Meinung nicht ändern wollte, doch Eric war bei seiner Entscheidung geblieben. Dieser Mann wollte keine solide Beratung. Er hatte herausgefunden, dass Eric früher bei Niesing & Hamilton Consulting gearbeitet hatte und nun wollte er von dem damit verbundenen Image profitieren.
Eric widerstrebte der Gedanke, doch das könnte die Lösung für sein Problem sein. Er würde diesen Supermarktbesitzer beraten und dafür würde dieser ordentlich bezahlen.
Er schrieb eine kurze Nachricht an Chris. Er würde ihm helfen, aber er benötigte ein paar Tage Zeit.
Eric kontaktierte Alfred Edelmann und teilte ihm mit, dass er seine Meinung geändert hatte. Er wollte den Termin so schnell wie möglich hinter sich bringen und vereinbarte, dass sie sich in einer Stunde treffen würden.
Wahrscheinlich würde er seine Uhr heute zum letzten Mal tragen. Mit einem Anflug von Wehmut betrachtete er das edle Stück bester Schweizer Uhrmacherkunst. Dann ging er in sein Schlafzimmer und zog sich seinen teuersten Anzug an.
Eric betrachtete das Gebäude skeptisch. Es war einer dieser alten Supermärkte, an dem bisher kaum etwas erneuert worden war. Er ging hinein und suchte nach dem Besitzer. Nach einigem Herumfragen fand er ihn schließlich in seinem Büro.
»Hallo, Herr Edelmann«, begrüßte Eric sein Gegenüber und schüttelte ihm die Hand.
Er fragte sich, ob das wirklich sein richtiger Name war.
»Herr Bergmann, es freut mich Sie zu sehen. Wie ich sehe, haben Sie noch einmal über mein Angebot nachgedacht«, stellte Alfred Edelmann großspurig fest.
»Nachdem Sie mich zum dritten Mal gebeten haben, den Auftrag zu übernehmen, konnte ich nicht mehr ablehnen.« Eric bedachte den Mann mit einem unverbindlichen Lächeln.
»Bitte setzen Sie sich. Möchten Sie einen Kaffee?«
»Vielen Dank, gerne«, antwortete Eric höflich. Er hatte in seiner Laufbahn schon häufiger mit unsympathischen Kunden zu tun gehabt und wusste, wie er sich verhalten musste.
Der Supermarktbesitzer drückte einen Knopf an einem Kaffeeautomaten. Das Brummen der Maschine erfüllte den Raum, gefolgt von dem intensiven Aroma des Getränks. Er reichte Eric die Tasse und dieser nahm einen Schluck. Der Kaffee schmeckte überraschend gut. Er war stark, aber nicht bitter und hatte eine feine Kakaonote.
»Guter Kaffee«, lobte Eric. »Verkaufen Sie den in Ihrem Laden?«
Alfred Edelmann schüttelte den Kopf. »Nein, diese Sorte gibt es hier nicht«, erwiderte er lachend. »Das Sortiment im Edelmarkt ist eher einfach gehalten. Aber jetzt erzählen Sie mal, was wollen Sie in meinem Laden verändern?«
»Bevor wir über Veränderungen sprechen, sollten wir die finanzielle Seite klären«, erwiderte Eric. »Ich verlange eine Vorauszahlung von 3000 Euro. Dafür erstelle ich Ihnen ein umfassendes Sanierungskonzept und vermittle Ihnen Handwerker, die die notwendigen Arbeiten ausführen. Wenn Sie möchten, dass ich die Arbeiten selbst überwache, werde ich die dafür benötigte Zeit stundenweise mit Ihnen abrechnen.«
»3000 Euro finde ich reichlich übertrieben. Ich hatte an 500 gedacht.«
»Herr Edelmann, für 500 Euro schalte ich nicht einmal meinen Computer an. 3000 sind ein Freundschaftspreis. Bei Niesing & Hamilton Consulting habe ich das Doppelte verlangt«. Eric blickte den Mann mit der überlegenen Arroganz an, die die Mitarbeiter des renommierten Beratungsunternehmens häufig an sich hatten. Er griff nach der Kaffeetasse und nahm einen Schluck. Alfreds Blick fiel auf Erics Uhr.
»Eine schöne Uhr haben Sie da«, sagte er, um Zeit zu gewinnen.
»Ja, das ist eine Omega Speedmaster Moonwatch Professional«, antwortete Eric und seine Stimme klang fast eine Spur herablassend.
Alfreds Augen blitzten begehrlich auf. Er ahnte, was so ein Modell wert sein musste.
»Die erste Uhr auf dem Mond, fantastisch.« Alfred Edelmann hatte von der Legende dieser Uhr gehört. »Bestimmt ist es schwer eines dieser Modelle zu finden.« Lauernd beobachtete er Erics Reaktion.
»Hören Sie, ich bin nicht hier, um über Uhren zu philosophieren. Entweder wir reden über das Geschäft oder ich gehe. Meine Zeit ist kostbar«, wies Eric den Mann zurecht.
»Wie wäre es, wenn ich Ihnen 1000 Euro bezahle?«, schlug Edelmann vor.
»Dieses Angebot ist inakzeptabel. Aber damit dieser Schandfleck von einem Laden endlich renoviert wird, bin ich bereit, die Arbeit für 2800 Euro zu erledigen.«
Nach langem Feilschen einigten sie sich schließlich auf 2300 Euro.
»Ich werde meinen Anwalt beauftragen, die Papiere fertig zu machen. Die Summe wird bei Vertragsunterzeichnung fällig. Sobald ich das Geld erhalten habe, werde ich mit der Arbeit beginnen«, sagte Eric.
Er verabschiedete sich und verließ das Büro. Ein ungutes Gefühl nagte an ihm. Er hoffte, dass sich Alfred Edelmann an die Vereinbarung halten und ihm das Geld pünktlich zahlen würde. Erics Anwalt würde den Vertrag absolut wasserfest gestalten müssen, damit Edelmann ihn nicht über den Tisch ziehen konnte.
»Wir haben das Geld. Ich habe eine E-Mail von Eric erhalten«, berichtete Chris erleichtert.
Rena sah von dem Dokument auf, das sie gerade las. Chris saß ihr gegenüber am Esstisch. Sie lebten in einem Holzhaus, das neben einem Wohnzimmer und einem Schlafzimmer nur noch über einen kleinen weiteren Raum verfügte. Die Einrichtung war in Naturtönen gehalten. Die warmen Farben des Holzes, das in Wänden und Böden verarbeitet war, harmonierten mit der grünen Couch, die zum Entspannen einlud. Ein paar farbige Akzente verliehen dem Haus Behaglichkeit. Sie sah ihren Mann an. Er war groß und hatte rotblondes Haar. Sie erinnerte sich daran, wie sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Seine Augen waren so strahlend blau wie der Himmel an dem schönen Sommertag, als ihr Chris als neuer Ranger vorgestellt worden war. Inzwischen hatten sich Sorgenfalten in sein Gesicht eingegraben. In den letzten Tagen hatte er sich ständig mit der Frage gequält, ob Eric ihnen helfen konnte.
»Wenn wir die billigsten Zugtickets nehmen, kommen wir mit unserem Geld bis nach Halifax.« Rena hatte viel Zeit damit zugebracht, die günstigsten Angebote für ihre Reise zu finden.
»Wäre es nicht besser, eine Kabine mit Bett zu nehmen? In deinem Zustand ist es nicht ratsam, mehrere Nächte in einem Zugsitz zu verbringen.« Chris warf seiner Frau einen besorgten Blick zu.
»Chris, das können wir uns nicht aussuchen. Wir haben nur noch 4000 Dollar. Alles andere ist für die Behandlungskosten meiner Mutter draufgegangen. Wenn wir die günstigsten Plätze im Zug nehmen, kostet das knapp 2000 Dollar. Außerdem brauchen wir Geld für Hotels. Wir haben zwischen den einzelnen Stationen unserer Reise an die Küste immer wieder ein paar Tage Aufenthalt.«
»Wie teuer ist eine Kabine?«
»Wenn wir eine Kabine für zwei Personen buchen, kostet uns die Zugfahrt 3400 Dollar. Die Reserve, die uns dann bleibt, ist zu gering. Glaub mir, ich hätte auf dieser Fahrt auch gerne ein Bett. Aber es muss leider ohne gehen. Ich werde das schon irgendwie schaffen.« Rena sah ihn entschlossen an.
»Ich habe gehofft, dass es diesem Polizisten nach ein paar Tagen langweilig wird, dich zu beobachten. Aber das ist nicht der Fall. Wir müssen uns irgendetwas einfallen lassen, wie wir unbemerkt verschwinden können.«
Rena hatte auf der Polizeiwache Krämpfe vorgetäuscht. Chris war zunächst nicht klar gewesen, dass diese Probleme nur gespielt waren. Er dachte mit Schaudern daran, wie das Telefon geklingelt hatte. Die 81jährige Rebekka hatte beobachtet, wie ein Polizist Rena genötigt hatte, in einen Streifenwagen zu steigen.
Chris war sofort zur Polizeiwache geeilt. Der wachhabende Polizist war Colin. Er kannte den Mann, so wie er fast jeden in Fort Chipewyan kannte.
»Ist meine Frau hier?« Noch immer hatte Chris an eine Verwechslung geglaubt.
»Ja«, hatte Colin geantwortet.
»Ich will sie sehen.«
»Das geht nicht. Sie wird gerade verhört.«
»Was wird ihr vorgeworfen?«
»Darüber darf ich im Moment keine Auskunft geben.«
»Was kann eine Frau, die im sechsten Monat schwanger ist für ein Verbrechen begangen haben?« Der große Deutsche hatte sich bedrohlich vor dem Polizisten aufgebaut.
»Bitte geh jetzt, Chris!«
»Ich gehe erst, wenn ich mich davon überzeugt habe, dass es ihr gut geht!«, hatte Chris stur erwidert. Er hatte versucht sein Gegenüber mit purer Willenskraft zum Einlenken zu bewegen. Colin hatte den unverwandten Blick erwidert, mit dem Chris ihn bedacht hatte. Dann hatte er nachgegeben.
»Warte hier«, hatte er zu Chris gesagt und war um die Ecke verschwunden.
Einen Moment später hatte Chris Colins besorgte Stimme gehört, gefolgt vom schmerzhaften Aufstöhnen einer Frau. Das musste Rena sein.
Chris war zu ihr geeilt und hatte Colin beiseitegeschoben. Er hatte sie fürsorglich gestützt. »Was ist mit dir?« Seine Stimme hatte vor Besorgnis gezittert.
»Rena hatte die Augen geschlossen. »Das Baby«, hatte sie geflüstert.
»Sie muss sich hinlegen. Außerdem brauchen wir die Hebamme!« Chris hatte sich an Colin gewandt. Mit dem anderen Polizisten hatte er sich nicht abgegeben. Er wusste, dass dieser Mann kein Funken Mitleid besaß.
»Das Verhör ist noch nicht beendet.« Der Polizist war verärgert gewesen, dass seine Autorität untergraben worden war.
»Das ist ein medizinischer Notfall!«, hatte Chris ihn angeherrscht. Er hatte Rena auf die Arme gehoben und trug sie zum Ausgang.
»Bleiben Sie sofort stehen!«, hatte der Polizist ihm nachgerufen.
»Ich werde meine Frau nach Hause bringen und dafür sorgen, dass die Hebamme sich um sie kümmert. Danach können Sie mich verhaften, wenn Sie ernsthaft der Meinung sind, dass ich gegen ein Gesetz verstoßen habe«, antwortete Chris über die Schulter hinweg.
»Ich werde euch nach Hause fahren.« Colin hatte sich den Autoschlüssel des Streifenwagens geschnappt und war Chris und Rena nach draußen gefolgt.
Die Hebamme des Ortes hatte Rena gedeckt. Sie hatte bestätigt, dass die Schwangerschaft in Gefahr war. Sie verordnete ihr Bettruhe und verbot jegliche Aufregung. Das schloss Verhöre durch die Polizei aus. Seitdem konnte Rena das Haus nicht mehr verlassen. Besucher durften sie nur auf der Couch oder im Bett antreffen. Ihr fiel es schwer die kranke Frau zu mimen. Sie fühlte sich eingesperrt und zur Untätigkeit verdammt.
»Ich muss zur Arbeit«, bemerkte Chris. »Pass gut auf unser Baby auf und mach keine Dummheiten.«
Rena musste lächeln. So verabschiedete er sich in den letzten Tagen immer von ihr. Er gab ihr einen Kuss und streichelte sanft ihren Bauch. Sein Gesichtsausdruck wurde weich und zärtlich, als er eine Bewegung des Babys spürte.
Unvermittelt klopfte es. Erschrocken sah Rena ihren Mann an. Sie erwarteten keinen Besuch.
»Leg dich auf die Couch«, flüsterte Chris ihr zu.
Eilig erhob sie sich von ihrem Stuhl und ging die wenigen Schritte durch den Raum. Anspannung war in Chris Gesicht zu erkennen, als er die Tür öffnete.
»Hallo Ivy«, begrüßte er dann die Hebamme erleichtert. Chris lebte seit Tagen in der Angst, dass die Polizei sich nicht mehr länger vertrösten lassen würde.
»Hast du ein paar Minuten Zeit?«, erkundigte sich Ivy, während sie eintrat.
Chris nickte und schloss die Tür hinter ihr.
»Wie geht es dir?«, fragte Ivy, an Rena gerichtet.
»Gut«, erwiderte diese. Die Müdigkeit hatte allerdings deutliche Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Vor wenigen Tagen hatte sie erfahren, dass ihr Vater schwer krank war. Er hatte Krebs. Es war ein Schock gewesen, das zu erfahren. Ihre Mutter war erst vor wenigen Monaten an dieser Krankheit gestorben. Die Sorge um ihren Vater und ihre eigene Sicherheit hielten sie nachts oft für viele Stunden wach.
Ivy nickte nach einem wissenden Blick in Renas Gesicht.
»Habt ihr euch Gedanken gemacht, wie es weitergehen soll?«, fragte sie. Die Hebamme war eine resolute Frau. Sie war schlank und wirkte beinahe drahtig. Ihr schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen.
»Ja«, antwortete Rena. Sie zögerte einen Moment, bevor sie weitersprach. »Wir wollen so schnell wie möglich aus Fort Chipewyan weg.«
»Das Problem ist, dass wir unter Polizeibeobachtung stehen. Wir wissen nicht, wie wir den Ort unbemerkt verlassen können«, ergänzte Chris.
»Ihr müsst weiter abwarten. Irgendwann werden sie es leid sein, eine bettlägerige Frau zu observieren. Wisst ihr, wo ihr untertauchen könnt?«, fragte Ivy.
»Vielleicht bei Tyrell«, überlegte Rena.
»Bei deinem Cousin?«, fragte Chris ungläubig.
»Tyrell ist als Unruhestifter bekannt. Ich glaube nicht, dass ihr bei ihm sicher seid«, gab Ivy zu bedenken.
»Aber möglicherweise kennt er jemanden, bei dem wir für eine Weile bleiben können«, warf Rena ein. »Außerdem könnte er uns ein Boot besorgen. Ich werde ihn anrufen.«
»Nein, lass mich das machen«, schaltete sich Ivy ein. »Du stehst unter Beobachtung und mit Sicherheit werden auch deine Telefongespräche überwacht.«
»Ich denke, inzwischen trauen sie dir auch nicht mehr über den Weg. Sie wissen nicht, ob du in Bezug auf Rena die Wahrheit sagst oder sie nur decken willst«, bemerkte Chris.
»Das ist richtig, aber ich habe meine eigenen Wege, um mit Leuten wie Tyrell Kontakt aufzunehmen, ohne dass ENTAL davon Wind bekommt. Tyrell hat regelmäßig Kontakt mit einem meiner Neffen. Wenn ich dem eine Nachricht hinterlasse, wird Tyrell mich auf dem Handy meines Neffen zurückrufen. Dann klingt das Ganze nach einem Telefongespräch, in dem eine Tante ihren Neffen fragt, wann er sie mal wieder besuchen kommt.«
»Also gut«, willigte Chris ein. Die Anspannung war ihm deutlich anzumerken. »Ich muss zur Arbeit. Ich bin schon ziemlich spät dran.« Er gab Rena einen Kuss, verabschiedete sich von Ivy und verließ das Haus.
»Nun wollen wir mal sehen, wie es dem Baby geht«, sagte Ivy an Rena gewandt.
Chris öffnete die Haustür und spähte in die Dunkelheit. Der große Wanderrucksack auf seinem Rücken versperrte Rena die Sicht nach draußen. Er gab ihr ein Zeichen und sie verließen lautlos ihr Haus. Die beiden eilten durch den Ort und verbargen sich in den Schatten der Häuser. Obwohl es mitten in der Nacht war, war es um diese Jahreszeit nicht so dunkel, wie sie es sich gewünscht hätten. Einen ungünstigeren Zeitpunkt für eine Flucht hätte man nicht wählen können. Doch Chris und Rena blieb keine Wahl. Sie hofften, dass die Leute im Ort jetzt tief und fest schliefen. Die Aufmerksamkeit der Polizei hatte in der letzten Woche endlich nachgelassen. In diesem Punkt hatte Ivy Recht behalten. Vor drei Tagen hatte Rena sich von ihrem Vater verabschiedet. Es ging ihm immer schlechter und er hatte nicht mehr die Kraft, sie jeden Tag zu besuchen. Chris hatte vermutet, dass sie nach einem Treffen mit Renas Vater wieder genauer beobachtet werden würden. Aus diesem Grund hatten sie ein paar Tage verstreichen lassen, bevor sie die Flucht wagten. Rena war es unglaublich schwer gefallen weiterhin Schwangerschaftsprobleme vorzutäuschen. Ihr Vater benötigte ihre Hilfe, doch sie war zur Passivität verdammt. Dieser Abschied lastete sehr schwer auf ihr, denn sie wusste, dass es ein Abschied für immer war.
Sie kamen am Friedhof vorbei und Rena blieb stehen.
»Was ist?«, wisperte Chris.
»Ich brauche einen Moment«, flüsterte Rena und betrat den Friedhof.
Die Morgendämmerung kam unaufhaltsam näher und sie war in der Lage die Grabinschriften zu lesen. Sie ging zum Grab ihrer Mutter und berührte mit der Hand den kleinen weißen Zaun, der das Grab umgab. In einem stummen Zwiegespräch verabschiedete sie sich ein letztes Mal. Sie ließ ihren Blick über die anderen Gräber schweifen. Viele der Menschen, die hier ihre letzte Ruhe gefunden hatten, hatte Rena gekannt. Mit einigen war sie befreundet gewesen.
»Wir müssen weiter. Es ist schon fast hell«, erinnerte Chris seine Frau und nahm ihre Hand.
Rena wandte dem Friedhof den Rücken zu und sie eilten weiter. Nachdem sie das letzte Haus passiert hatten, sahen sie eine Gestalt in den dunklen Schatten der Bäume. Rena hielt unwillkürlich den Atem an. Chris trat beschützend vor sie. Vorsichtig näherten sie sich. Dann erkannten sie Tyrell. Sie begrüßten den jungen Mann und folgten ihm.
»Ich habe das Boot am Ufer versteckt. Wir müssen eine halbe Stunde laufen. Näher wollte ich nicht an den Ort heranfahren. Sonst hätte der Motor uns verraten «, sagte Tyrell.
Sie fuhren in dieser Nacht nur ein Stück des Weges und versteckten sich am Tag im Wald. In der nächsten Nacht würden sie auf dem Athabasca River das Firmengelände von ENTAL passieren.
Isabella schreckte aus dem Schlaf hoch. Sie brauchte einen Moment, um sich in der Dunkelheit zurechtzufinden. Dann hörte sie das Geräusch wieder. Jemand hämmerte an die Tür. Sie spürte eine Bewegung neben sich im Bett.
»Zieh dich an«, wisperte sie dem Mädchen zu, das neben ihr geschlafen hatte.
Lautlos glitt Isabella aus dem Bett und schlüpfte in ihre Sachen. Sie öffnete die Tür des Schlafzimmers und sah auf dem Flur Tom, ihren Mitbewohner.
»Erwartest du jemanden?«, erkundigte sie sich flüsternd.
»Nein«, antwortete Tom ebenso leise.
Isabella schlich ins Büro und überprüfte an ihrem Computer die Bilder, die die Überwachungskamera an der Tür ihr lieferten. Sie sah drei Personen. Zwei davon hatte sie noch nie gesehen. Denjenigen, der an die Tür hämmerte, kannte sie.
»Du kannst aufmachen, es ist Tyrell«, rief sie Tom zu. Sie überprüfte die Bilder der Infrarotkameras, die sie im Wald verteilt hatte. Niemand schien die drei zu verfolgen. Isabella ging in den Flur, um ihre nächtlichen Besucher näher in Augenschein zu nehmen.
Eine hochschwangere Frau und ein Mann mit rotblonden Haaren hatten die Hütte betreten. Tyrell folgte ihnen und stellte die Besucher als Chris und Rena vor.
Rena schwankte vor Erschöpfung und Isabella beeilte sich, sie in das winzige Gästezimmer zu bringen. Sie zog ihr die Schuhe aus. Rena ließ sich ansonsten voll bekleidet auf das Bett sinken.
»Danke«, murmelte Rena und versuchte ihre Augen aufzuhalten, um die blonde Frau näher in Augenschein zu nehmen.
»Schlaf erst einmal. Alles andere hat bis morgen Zeit«, sagte Isabella und deckte Rena zu.
»Wie heißt du?«
»Mein Name ist Amy«, antwortete Isabella und nannte den Namen, den sie sich an dem Tag zugelegt hatte, als sie kanadischen Boden betreten hatte.
Rena schloss erschöpft ihre Augen und war fast im selben Moment eingeschlafen.
Nachdem Rena sich ausgeschlafen hatte, versorgte Isabella sie mit Essen.
Fragend sah Rena sich um. Isabella verstand ihren Blick richtig. »Tom und Chris sind nach Fort McMurray gefahren. Chris wollte Kontakt mit einem Freund aufnehmen und wir hielten es für sicherer, wenn er es an einem belebten Ort tut, an dem viele Leute das Internet nutzen.«
»Und wo ist Tyrell?« Rena nippte an ihrem Tee und aß den Haferbrei, den Isabella für sie gemacht hatte.
»Er bringt das Boot zurück.«
Rena nahm ihr Gegenüber genauer in Augenschein. Die Frau hatte grüne Augen und musste um die 30 Jahre alt sein.
»Kommst du aus Deutschland?«, fragte Rena unvermittelt und griff nach dem Apfel, der vor ihr auf dem Tisch lag.
»Wie kommst du darauf?«
Rena glaubte einen Anflug von Besorgnis aus ihrer Stimme herauszuhören.
»Dein Akzent erinnert mich an den meines Mannes. Er ist vor einigen Jahren aus Deutschland nach Kanada gekommen.«
»Meine Eltern sind aus Schweden eingewandert, als ich noch ein Kind war. Ich bin meinen Akzent nie richtig losgeworden«, erklärte Isabella beiläufig.
Rena wusste nicht, wie Schwedisch klang. Doch sie würde Chris fragen, ob es dem Deutschen ähnlich war.
Am Nachmittag kehrten die Männer zurück. Chris hatte eine merkwürdige Nachricht von Eric erhalten.
»Unser Freund hat mir nahegelegt, in einem Onlineshop eine Publikation zu kaufen«, berichtete Chris seiner Frau. Sie hatten beschlossen, keine Namen zu nennen und auch ihr Reiseziel nicht zu verraten. »Ich habe sie gekauft, aber ich verstehe nicht, was das soll. Ich habe gedacht, darin will er mir irgendwelche Informationen weitergeben. Doch ich kann nichts entdecken.«
»Zeig mal«. Rena streckte die Hand aus. Sie studierte den Text intensiv, doch auch sie konnte keine tiefere Bedeutung erkennen.
»Kann ich es mir einmal ansehen?«, fragte Isabella.
Sie überflog das Geschriebene. »Das ist eine Branchenstudie über erneuerbare Energien in Kanada. Es gibt keinen Grund, für diese Informationen Geld zu bezahlen. Die kann man auch kostenlos herunterladen.« Chris und Rena sahen sich ratlos an. »Wie hast du bezahlt?«, fragte sie weiter.
»Es gab nur die Möglichkeit, per Bankeinzug zu zahlen«, antwortete Chris.
»Wenn der Onlineshop eurem Freund gehört, hat er auf diese Weise eure Kontodaten erhalten«, stellte sie fest.
»Natürlich, das ist es. Jetzt kann er uns das Geld überweisen, ohne dass wir unsere Bankverbindung per E-Mail verschicken müssen«, sagte Chris erleichtert.
Nachdem sie die Gastfreundschaft von Tom und Isabella eine weitere Nacht in Anspruch genommen hatten, nahmen Rena und Chris den Bus nach Edmonton. Sie verbrachten einen Großteil des warmen sonnigen Tages in einem der vielen Parks der Stadt. Am Abend begaben sie sich zum Bahnhof. Sie waren nervös, aber die Polizei schien den Bahnhof nicht zu überwachen. Der Zug nach Toronto fuhr kurz vor Mitternacht.
Rena verbrachte drei unbequeme Nächte auf ihrem Sitz und hätte alles für ein Bett gegeben. Sie war erleichtert, als sie Toronto erreichten und sie den Zug verlassen konnte. In Toronto wollten sie Geld von der Bank abholen. Falls die Polizei diese Transaktion beobachtete, hätte sie einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Aus diesem Grund wollten sie nach dem Termin bei der Bank unverzüglich in den nächsten Zug steigen und die Stadt verlassen. Toronto bot viele Reisemöglichkeiten in verschiedene Richtungen und sie hofften, so ihre Spur verwischen zu können.
Chris prüfte den Kontostand und musste feststellen, dass das Geld nicht da war. Sie waren gezwungen sich ein Hotel zu suchen und zu warten. Rena war zunächst erleichtert, dass sie die Nacht in einem richtigen Bett verbringen konnte, doch die unbequeme Matratze in dem billigen Hotel brachte nicht die gewünschte Erleichterung. Auch am nächsten Tag war das Geld nicht eingetroffen. Die beiden wurden immer nervöser und beratschlagten, was sie tun sollten. Sie beschlossen, noch einen Tag abzuwarten. Wenn sich in dieser Zeit nichts tat, würden sie das Risiko eingehen und Eric kontaktieren.
Am nächsten Nachmittag war das Geld endlich eingetroffen. Chris holte es von der Bank ab und sie setzten ihre Reise nach Montreal fort. Ihren Anschlusszug nach Halifax verpassten sie um eine halbe Stunde. Sie mussten drei Tage in Montreal verbringen, bis der nächste Zug nach Halifax ging.
Noch einmal stand Rena eine unbequeme Nacht in einem Zug bevor, dann hatten sie endlich die Küste erreicht. Sie hatten durch ihre ungeplanten Aufenthalte fünf Tage verloren. Das Schiff, das sie nach Deutschland bringen sollte, hatten sie verpasst.
Sie fuhren zum Hafen, um ein anderes Schiff zu finden. Sie erfuhren, dass in vier Tagen das nächste Schiff einlief, das Passagiere mit nach Europa nahm. Wieder waren sie gezwungen sich ein Hotel zu suchen. Ungeduldig erwarteten sie die Ankunft des Schiffes, das sie endlich aus Kanada wegbringen würde.
Vier Tage später gingen sie zum Hafen, um mit dem Kapitän den Preis für die Überfahrt auszuhandeln. Doch nach einem Blick auf Renas dicken Bauch lehnte er es ab, sie mitzunehmen. Er wollte keine Probleme mit einer Schwangeren haben. Das Schiff verließ den Hafen ohne sie. Sie mussten eine weitere Woche abwarten, bis sich ihre nächste Chance bot. Diesmal blieb Rena im Hotel, während Chris die Passage buchte.
Als sie gemeinsam an Bord gingen, trafen sie nur ein paar Mannschaftsangehörige an. Einer kontrollierte ihr Ticket. Ansonsten bedachte er sie nur mit einem flüchtigen Blick. Vorsichtshalber blieben sie in ihrer Kabine, bis das Schiff den Hafen verlassen hatte. Nun gab es für den Kapitän keine Möglichkeit mehr, ihnen die Überfahrt zu verweigern.