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2. Ein schwieriges Projekt

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Eric sah noch einmal seine Unterlagen für das Gespräch mit Alfred Edelmann durch, doch immer wieder schweiften seine Gedanken ab. Seit Wochen hatte er nichts mehr von Chris gehört. Er fragte sich, was passiert war. Er konnte Chris keine E-Mail schicken, denn er befürchtete, dass er Chris damit in Schwierigkeiten bringen würde. Eric war sehr vorsichtig gewesen. Er hatte sich von Hank, einem befreundeten Computerspezialisten, in Windeseile einen Onlineshop einrichten lassen, um Chris' Kontoverbindung zu erhalten. Sein Freund Marc hatte das Geld an Chris überwiesen. Marc leitete eine Umweltorganisation und lebte in Brüssel. Auf diese Weise führte keine Spur nach Berlin.

Eric riss seine Gedanken mühsam von diesem Thema los. Er musste sich darauf konzentrieren, Edelmann das Konzept für seinen Supermarkt vorzustellen. Es war an der Zeit, das Geld zu verdienen, das er Chris bereits überwiesen hatte. Er würde seine ganze Konzentration brauchen, damit Edelmann ihn nicht übervorteilte. Er packte seinen Laptop ein und zog seinen Anzug an. Er bemühte sich, mit dem Anzug auch wieder in die Rolle des arroganten Beraters zu schlüpfen. Seine Moonwatch hatte er verkauft. Sein Handgelenk fühlte sich ohne die Uhr nackt an.

Eric ging die zehn Minuten zum Edelmarkt zu Fuß. Er schritt durch den Laden und sah sich um. Er hatte das Gebäude in den letzten Wochen intensiv besichtigt und viele Verbesserungsmöglichkeiten erarbeitet, die sowohl den Energieverbrauch reduzieren würden, als auch ein angenehmeres Ambiente schaffen konnten.

Eric betrat das Büro des Besitzers. Er stellte seinen Laptop auf den Schreibtisch, begrüßte Edelmann und rief eine Animation des Supermarktes auf.

»Beginnen wir mit der Gebäudehülle Ihres Ladens. Diese ist bisher nicht gedämmt worden. Im Winter muss deutlich mehr geheizt und im Sommer stärker gekühlt werden, als es mit einer guten Außendämmung notwendig wäre. Außerdem sind die Fenster hier sehr alt. Ich schlage Ihnen vor, neue Dreischeiben-Wärmeschutzglasfenster zu installieren.«

»Das klingt aber ziemlich teuer«, warf Edelmann ablehnend ein.

»Durch diese Maßnahmen können Sie viel Geld für Heizung und Kühlung Ihres Ladens einsparen«, entgegnete Eric. Dann fuhr er mit seinem Konzept weiter fort. »Auf dem großen Flachdach können Sonnenkollektoren installiert werden, um Strom zu produzieren. Die Stromproduktion kann durch kleine Windturbinen auf dem Parkplatz ergänzt werden.«

»Windturbinen auf dem Parkplatz, das gefällt mir.« Edelmann nickte zustimmend.

»Ein Gebäude wie dieses verschlingt viel Energie für die Beleuchtung. Ich nehme an, dass Sie bereits alles auf LED-Lampen umgestellt haben?«

»Natürlich«, sagte Edelmann herablassend. Das Einsparpotenzial dieser Maßnahme hatte er selbst erkannt.

»Allerdings müssen Sie fast den gesamten Innenbereich künstlich beleuchten, da es nicht ausreichend Fenster gibt. Durch einen Einbau von Oberlichtern im Dach wird das Tageslicht besser genutzt und viele Ihrer Lampen sind dann überflüssig.«

»Sie wollen Löcher in mein Dach bohren?«, bemerkte Edelmann skeptisch. »Nicht, dass es dann undicht wird.«

»Ich versichere Ihnen, dass es Firmen gibt, die in der Lage sind Oberlichter einzubauen, ohne dass es hinterher in Ihren Laden tropft.« Eric war genervt von diesem Mann. »Oberlichter, die natürliches Licht in das Gebäude lassen, schaffen außerdem ein angenehmeres Ambiente. Das wäre gut für Ihre Mitarbeiter.«

»Ich gebe doch kein Geld aus, damit sich die Mitarbeiter hier wohl fühlen. Die sollen arbeiten. Mein Laden ist keine Wellnessoase!«

»Studien haben ergeben, dass Angestellte produktiver sind, wenn sie nicht den ganzen Tag in künstlicher Beleuchtung arbeiten müssen, sondern in Räumen tätig sind, in denen Tageslicht vorhanden ist. Außerdem wäre es für die Kunden angenehmer, sie würden länger im Laden verweilen und mehr kaufen.« Dieses Argument gab Alfred Edelmann zu denken. »Für die Bereiche, die weiterhin künstlich beleuchtet werden müssen, ist es ratsam, Anwesenheitssensoren einzubauen, so dass das Licht gedimmt oder abgeschaltet wird, wenn sich niemand dort aufhält.«

Dagegen sagte Edelmann zur Abwechslung einmal nichts.

Eric fuhr weiter fort. »Die Überprüfung des Leitungssystems von Heizungen und Klimaanlagen hat ergeben, dass diese schlecht isoliert sind. Hier müssen die Lecks beseitigt werden.«

»Die Heizung und die Klimaanlage des Ladens funktionieren tadellos. Da ist absolut nichts kaputt!«, erwiderte Edelmann aufgebracht.

»Ich habe nicht gesagt, dass sie nicht funktionieren. Aber sie könnten effizienter arbeiten, wenn sie besser isoliert wären«, erwiderte Eric geduldig. »Bleibt noch ein Punkt. Die Kühlschränke für die Milchprodukte im Laden haben keine Türen. Sie benötigen viel Energie, um die Waren kalt zu halten. Die anderen Bereiche müssen Sie dagegen stärker heizen. Wenn Sie Kühlschränke mit Türen anschaffen, können Sie auch hier noch einmal sparen. Außerdem empfehle ich Ihnen, in Zukunft Ökostrom zu beziehen«, schloss Eric seine Vorschläge ab.

»Das klingt ja sehr interessant, aber ich glaube nicht, dass derartig umfassende Veränderungen notwendig sind«, sagte Alfred Edelmann ablehnend.

»Mit diesen Maßnahmen kommt der Edelmarkt auf den aktuellen technischen Stand. Im Moment ist das Gebäude hoffnungslos veraltet.«

»Die Idee mit den Windturbinen finde ich gut. Die Anwesenheitssensoren für das Licht und neue Kühlschränke sind auch in Ordnung. Über die Oberlichter werde ich noch einmal nachdenken, aber den Rest finde ich übertrieben.« Alfred Edelmann hatte sich die Maßnahmen herausgesucht, die für die Kunden eine offensichtliche Veränderung darstellten. Dem Mann ging es nicht um tatsächliche Verbesserungen. Er wollte sich nur einen ökologischen Anstrich geben.

»Eine detaillierte Kosten-Nutzenanalyse habe ich hier.« Eric erläuterte ausführlich, wie hoch die einzelnen Kosten der Maßnahmen waren und wie schnell sich diese amortisieren würden.

»Ich bin sicher, dass die von mir ausgewählten Veränderungen ausreichend sind. Den Rest brauche ich nicht«, lehnte Edelmann kategorisch ab.

»Wenn es das ist, was Sie wollen, werde ich Ihre Wünsche in Auftrag geben.« Eric sehnte das Ende dieses Termins herbei.

»Da Sie viele Vorschläge gemacht haben, die ich nicht benötige und ich nur einen kleinen Teil ihrer Ideen umsetzen werde, verlange ich einen Teil des Honorars zurück«, stellte Edelmann unverschämt fest.

Eric hätte sich denken können, dass der Mann versuchte, ihn um sein Geld zu betrügen.

»Herr Edelmann, die bisher vereinbarte Bezahlung hängt nicht davon ab, wie viele meiner Vorschläge Sie annehmen oder ablehnen. Sie bezahlen mich dafür, dass ich Ihnen ein Konzept erstellt habe, wie der Laden energieeffizienter gestaltet werden kann und das habe ich getan. Für den Fall, dass ich Ihr Projekt weiterhin betreuen soll, werden zusätzliche Zahlungen fällig. Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie Ihr Geld zurück haben wollen, weil Ihnen meine Ideen nicht zusagen, sollten Sie unseren Vertrag noch einmal intensiv studieren. Diese Möglichkeit ist darin ausdrücklich ausgeschlossen. Sie haben jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder Sie sprechen mit meinem Anwalt oder wir setzen die von Ihnen gewünschten Maßnahmen um«, wies Eric den Mann in seine Grenzen.

Alfred Edelmann sah sein Gegenüber grimmig an. Er hatte die Zähne fest aufeinander gebissen und schien vor Wut zu kochen.

Eric stand auf und nahm sein Laptop. »Geben Sie mir Bescheid, wofür Sie sich entschieden haben«, sagte er kühl und verließ den Raum.

Innerlich schäumte er. Er hatte schon viele unangenehme Kunden erlebt, doch dieser Mann war der Schlimmste von allen. Eiligen Schrittes verließ er den Laden und ging aufgebracht nach Hause. Den Auftrag würde er so schnell wie möglich hinter sich bringen, denn mit diesem schmierigen Halsabschneider wollte er so wenig wie möglich zu tun haben. Ihm taten die Leute leid, die im Edelmarkt angestellt waren.

Der Termin hatte länger gedauert, als Eric gedacht hatte. Inzwischen war es bereits Nachmittag. Die Sonne schien und es war drückend heiß. Eric kam an einem Café vorbei. Ihm fiel auf, dass nur die Plätze unter den Sonnenschirmen belegt waren. Die Menschen suchten im Schatten nach ein wenig Abkühlung. Sein Blick blieb zufällig an einem Schopf auffällig rotblonder Haare hängen. Er zögerte und nahm den Mann genauer in Augenschein. Dieser musterte Eric ebenfalls.

»Chris?« fragte Eric.

Der Angesprochene stand auf und grinste Eric breit an. Eric drängelte sich an ein paar anderen Gästen vorbei zu Chris. Die beiden Männer umarmten sich und klopften sich gegenseitig auf den Rücken.

»Ihr seid da. Ist alles in Ordnung mit euch?« Eric blickte von Chris zu der schwarzhaarigen Frau, die an dem kleinen Kaffeetisch saß. Sie hielt ein Baby im Arm.

»Ja, die Reise hat länger gedauert als geplant, aber wir sind endlich da«, erwiderte Chris. In seiner Stimme schwang Freude und Erleichterung mit. »Das ist meine Frau Rena.«

»Es freut mich, dich kennen zu lernen.«

»Nice to meet you«, erwiderte Rena lächelnd.

»Ich wusste nicht, dass euer Baby schon da ist«, sagte Eric verwundert.

»Sie ist auf dem Schiff zur Welt gekommen, vier Wochen zu früh«, erklärte Rena in überraschend gutem Deutsch.

Chris wurde bei der Erinnerung daran blass.

»Geht es euch gut?«, Eric sah Rena besorgt an.

Rena nickte. »Ja, ich habe schon ein paarmal bei Geburten mitgeholfen. Außerdem hat meine Hebamme mir für den Notfall erklärt, was wir beachten müssen.«

»Ich fand das schrecklich. So etwas möchte ich nie wieder erleben. Falls wir jemals wieder ein Kind bekommen, möchte ich, dass es in einem Krankenhaus mit ganz vielen Hebammen und Ärzten geboren wird, die sich um alles kümmern«, sagte Chris schaudernd. Die Geburt seiner Tochter hatte ihn sichtlich mitgenommen.

»Man braucht keine Ärzte, um ein Kind zu bekommen. Zu Hause hatten die meisten Frauen auch keinen Arzt. Solange es keine Komplikationen gibt, können Frauen das alleine und Komplikationen hatten wir nicht.« Rena legte Chris besänftigend ihre Hand auf den Arm. Sie schien das Erlebnis deutlich besser verarbeitet zu haben als ihr Mann.

»Zum Glück! Denn mitten auf dem Atlantik hätte uns niemand helfen können«, stellte Chris fest.

Eric hatte der Unterhaltung fasziniert gelauscht. »Wie heißt eure Tochter denn?«

»Sie heißt Melissa«, antwortete Chris mit einem stolzen Blick auf das Baby.

»Ihr seid bestimmt müde. Lasst uns in meine Wohnung gehen«, schlug Eric vor.

Die drei verließen das Café.

»Wie lange wartet ihr schon?«, fragte Eric.

»Wir sind seit ungefähr einer Stunde da. Wir haben bei dir geklingelt, aber es hat keiner aufgemacht. Also haben wir uns in das Café gesetzt und gehofft, dass wir dich sehen, wenn du nach Hause kommst«, erklärte Chris.

Sie betraten die Wohnung und Eric zeigte ihnen das Schlafzimmer, das sie in Zukunft bewohnen würden.

»Wollt ihr euch ausruhen, während ich etwas zu essen besorge?«, erkundigte sich Eric. Ihm war die Erschöpfung nicht entgangen, die sich in Renas Gesicht abzeichnete.

»Ja, gerne«, antwortete Rena verhalten.

Eric schulterte einen großen Rucksack und ging zur Markthalle. Auf dem flachen Gebäude thronte ein riesiges Gewächshaus. Eric wusste, dass es nicht nur ein simples Gewächshaus war. In diesem Bauwerk wurden Pflanzen mittels Hydrophonik angebaut. Dank dieser Technologie benötigten sie keine Erde, so dass eine Menge Gewicht gespart werden konnte. Das war wichtig, um die Traglast des Daches nicht zu überschreiten. Die Hydrophonik bot außerdem noch weitere Vorteile. Die Pflanzen benötigten weniger Wasser und es mussten keine Pestizide eingesetzt werden. Um Blattläuse zu bekämpfen wurden einfach Marienkäfer im Gewächshaus ausgesetzt. Eric blickte stolz auf die Konstruktion. Es war eines seiner Projekte.

Eric ging in die Markthalle und erstand Zucchini, Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch und frische Kräuter, die am Morgen auf dem Dach geerntet worden waren. Damit würde er eine Nudel-Zucchini-Pfanne zubereiten. Dann besorgte er alles andere, was sie in den nächsten Tagen benötigen würden.

»Jetzt erzählt doch mal, warum ihr so lange nach Deutschland gebraucht habt«, erkundigte sich Eric, während sie in seiner geräumigen Wohnküche aßen. Vor der dritten Ölkrise, als Flugzeuge noch allgegenwärtig gewesen waren, hätte die Reise nur einen Tag gedauert und sich nicht über Wochen hingezogen. Inzwischen standen Flugzeuge nur noch Privilegierten zur Verfügung.

»Eigentlich wollten wir das Geld, das du uns überwiesen hast, in Toronto von der Bank abholen. Wir haben diese Stadt dafür ausgewählt, weil wir hofften, dass es dort schwierig sein würde, unsere Spur zu verfolgen. Doch als wir in Toronto angekommen waren, war das Geld noch nicht da. Wir mussten zwei Tage in der Stadt warten. Als wir das Geld endlich hatten, sind wir weiter gefahren. Allerdings haben wir unseren Anschlusszug nicht mehr erreicht und dadurch insgesamt fünf Tage verloren«, erzählte Chris und schob sich eine Gabel mit Nudeln in den Mund.

»Ich hatte die Zusage eines Kunden für die Anzahlung eines Auftrages. Allerdings hat er nicht pünktlich gezahlt. Es hat ein paar Tage gedauert, an das Geld zu kommen«, erklärte Eric bedauernd.

»Als wir in Halifax angekommen sind, war das Schiff fort, mit dem wir fahren wollten. Das nächste hat uns nicht mitgenommen, weil ich schwanger war.« Rena aß mit Appetit weiter.

»Dieser Mistkerl von Kapitän hat uns einfach stehen gelassen«, sagte Chris und fuchtelte erbost mit der Gabel in der Luft. »Seinetwegen mussten wir noch eine Woche warten, bis das nächste Schiff ankam, auf dem wir mitfahren konnten. Dieses Mal sind wir kein Risiko eingegangen. Ich bin alleine zum Hafen gegangen, um unsere Passage zu buchen. Dann haben wir abgewartet, bis der Kapitän anderweitig beschäftigt war, um an Bord zu gehen. Zum Glück hat es geklappt. Sonst würden wir wahrscheinlich jetzt noch in Halifax festsitzen«, sagte er grimmig. »Insgesamt haben wir zwei Wochen verloren und wenn das nicht passiert wäre, wäre unser Kind in einem anständigen Krankenhaus in Deutschland geboren worden.«

Eric wusste nicht, was er darauf antworten sollte. Schließlich hatte er einen Teil zu der Verzögerung beigetragen. Rena bemerkte seine Verlegenheit.

»Wir danken dir, dass du uns geholfen hast. Das war sehr großzügig von dir und es war bestimmt nicht einfach«, sagte sie an Eric gewandt.

»Ich bin froh, dass ich euch helfen konnte. Aber warum musstet ihr Kanada so überstürzt verlassen?«

»Als wir erfahren haben, dass Rena schwanger ist, haben wir beschlossen aus Fort Chipewyan wegzuziehen. Es gibt in der Gegend sehr viele Krebsfälle und wir wollten, dass unser Kind gesund aufwachsen kann«, sagte Chris, der sich wieder beruhigt hatte.

»Meine Mutter ist vor einigen Monaten gestorben. Sie hatte Krebs«, erklärte Rena. »Mein Vater ist auch an Krebs erkrankt «, fügte sie leiser hinzu.

»Das tut mir leid«, sagte Eric betroffen.

»Wir wollten nicht, dass Melissa krank wird und das wäre bestimmt passiert, wenn wir geblieben wären.«

»Das liegt an dieser verdammten Ölfirma. Die sind nur darauf fixiert, wie sie ihren Gewinn steigern können. Was sie dabei anrichten, ist ihnen egal.« Wut klang in Chris' Stimme mit. »Beim Ölsandabbau wird das Wasser vergiftet. Die giftigen Abwässer, die die Ölfirma verursacht, gelangen in das Grundwasser und in den Athabasca River. Kein Wunder, dass die Menschen Krebs bekommen. Es ist inzwischen fast unmöglich an sauberes Trinkwasser zu gelangen und die Fische aus dem Athabasca River sind ungenießbar.«

Chris war Ranger im Wood Buffalo National Park gewesen. Er hatte viele Jahre Arbeit in den Erhalt und Schutz dieses Nationalparks investiert. Nun musste er mit ansehen, wie der Nationalpark immer weiter zerstört wurde. Er und seine Frau hatten versucht, sich gegen die Ölfirma zu wehren, doch sie war zu mächtig.

»Wir wollten aus Fort Chipewyan wegziehen. Ich habe mich um einen Job in einem anderen Nationalpark bemüht. Im Jasper Nationalpark sah es sehr gut aus, aber dann wurde Rena verhaftet.«

»Verhaftet?« Eric sah die Frau erstaunt an.

»Eigentlich war es eine Verwechslung, doch ich hatte brisantes Material bei mir, das die Polizei nicht finden durfte.«

»Rena hat Probleme mit dem Baby vorgetäuscht, um einem Verhör zu entgehen. Sie wurde nach Hause gebracht, allerdings stand sie unter Beobachtung. Die Hebamme hat jegliche Befragung durch die Polizei untersagt. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie Rena wieder in Gewahrsam genommen hätten. Sie hatte kein Alibi. Deshalb mussten wir Kanada auf dem schnellsten Wege verlassen«, erklärte Chris die Situation.

»Mein Vater hat uns dazu gedrängt, nach Deutschland zu gehen«, ergänzte Rena. »Er hat darauf bestanden. Er ist krank und braucht unsere Hilfe. Aber er sagte, dass Melissa wichtiger ist …« Renas Stimme versagte und Tränen traten ihr in die Augen. Sie wusste, dass sie ihren Vater nie wieder sehen würde. Chris nahm sie tröstend in den Arm.

Eric hatte ihrem Bericht betroffen gelauscht. Nun verstand er den Grund für Chris' Eile. Er wollte seine Familie in Sicherheit bringen.

Chris und Eric kannten sich bereits seit ihrer Schulzeit. Chris hatte immer davon geträumt in Kanada zu leben. Nach seinem Schulabschluss hatte er die Gelegenheit ergriffen, dort Ranger zu werden.

Nachdenklich betrachtete Eric das unruhige Baby in Renas Armen.

»Ich werde mich mal um Melissa kümmern«, sagte Rena und erhob sich. Chris sah den beiden nach, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf Eric.

»Eric…«, begann er unbehaglich, »…ich habe da eine Bitte.«

»Worum geht's denn?«

»Wir haben kaum Sachen für die Kleine. Ich weiß, das ist viel verlangt. Schließlich hast du uns schon die Reise bezahlt, aber wir haben kaum noch Geld. Sobald ich einen Job habe, werde ich dir alles zurückzahlen«, Chris zögerte, bevor er weiter sprach. »Allerdings glaube ich kaum, dass in Berlin jemand einen Ranger braucht.«

»Das kriegen wir schon irgendwie hin. Ich werde mich mal umhören, wo wir günstige Babysachen bekommen können. Beruflich könnte ich wahrscheinlich bald Unterstützung gebrauchen. Ich bin gerade dabei, einen Auftrag von Retramo, einer Textilfirma, an Land zu ziehen. Wenn das gelingt, gibt es hier eine Menge zu tun.«

»Ich dachte, in Deutschland gibt es gar keine Textilindustrie mehr«, erkundigte sich Chris verwundert.

»Vor der dritten Ölkrise war das der Fall. Zu dieser Zeit wurden nur noch fünf Prozent aller in Deutschland verkauften Textilien auch in Deutschland hergestellt. Aber in den letzten dreizehn Jahren hat sich vieles verändert. Seit der dritten Ölkrise haben die verbliebenen Unternehmen ihre Produktion stark ausgebaut. Kleidung aus Asien ist wegen der hohen Transportkosten auf dem deutschen Markt nicht mehr konkurrenzfähig. Die Firma Retramo hat sich lange mit der Herstellung von Trachtenmode über Wasser gehalten. Nach der Ölkrise haben sie vermehrt einfache und funktionale Kleidung hergestellt und sich damit dem Bedarf der Menschen angepasst.«

»Ich hoffe, ich kann dir dabei helfen. In der Textilindustrie kenne ich mich überhaupt nicht aus«, bemerkte Chris skeptisch.

»Dafür habe ich umso mehr Ahnung von dem Metier«, beruhigte ihn Eric.

»Okay, wenn du meinst, dass ich dir behilflich sein kann, freue ich mich auf unsere Zusammenarbeit«, entgegnete Chris zuversichtlicher.

Eric sah auf die Uhr, die an der Küchenwand hing.

»In einer Stunde habe ich einen Termin bei Retramo. Sie wollen heute darüber entscheiden, ob ich den Zuschlag bekomme. Drück mir die Daumen und wünsch mir Glück.«

Chris grinste. In der Schule war das vor jeder Prüfung sein Spruch gewesen. Eric hatte kein Glück nötig gehabt.

Eric eilte in sein Büro, packte seine Unterlagen zusammen und zog sich seinen dunkelgrauen Anzug an. Er verabschiedete sich von Chris, eilte die Treppen hinunter und schwang sich auf sein Fahrrad.

Verschwitzt und müde verließ Eric die Firmenzentrale von Retramo. Er lockerte seine Krawatte, aber das brachte ihm nicht die erhoffte Erleichterung. In dieser Sommerhitze sollte man einfach keinen Anzug tragen. Doch die Mühe hatte sich gelohnt. Nach langen zähen Verhandlungen hatte er die Firmenleitung von Retramo überzeugt, dass er ihnen bei der Lösung ihrer Probleme helfen konnte. Bei der Textilfirma handelte es sich um ein Familienunternehmen, das Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet worden war und nun in der vierten Generation geführt wurde. In seiner Anfangszeit als Umweltberater hatte Eric bereits für Retramo gearbeitet. Damals hatte die unsichere Energieversorgung dem Unternehmen Probleme bereitet. Durch eine eigene Solaranlage und eine Biogasanlage konnte die Energieversorgung gesichert werden. Das Unternehmen war in der Lage kontinuierlich zu produzieren und zugesagte Liefertermine einzuhalten, was nach der dritten Ölkrise keine Selbstverständlichkeit mehr war. Seitdem war das Unternehmen gewachsen und hatte seine Kapazität ausgeweitet. Doch seit einiger Zeit wurde die Beschaffung von Rohstoffen wie Baumwolle immer problematischer. Retramo hatte sich schon vor geraumer Zeit auf die Nutzung traditioneller Materialien wie Leinen und Wolle spezialisiert, aber für moderne Kollektionen war Baumwolle unverzichtbar. Aus diesem Grund hatte die Geschäftsführung Eric engagiert, um in den nächsten Monaten ein System zum Baumwollrecycling auf die Beine zu stellen.

Eric erreichte sein Fahrrad. Beim Nachhausefahren würde er in seinem Anzug noch mehr schwitzen. Er schwang sich auf sein Rad und fuhr gemächlich los. Von der hektischen Betriebsamkeit der anderen Radfahrer ließ er sich nicht anstecken. Viele versuchten eilig ihr Ziel zu erreichen und machten von ihren Klingeln reichlich Gebrauch. Autos waren mittlerweile fast völlig aus dem Straßenverkehr verschwunden. Radfahrer hatten die Herrschaft über die Straßen übernommen und bevölkerten sie mit hektischer Betriebsamkeit.

Schließlich verließ Eric die belebte Hauptstraße und bog in die ruhige Seitenstraße ein, in der er wohnte.

In der Wohnung angekommen entledigte Eric sich als erstes seines Anzugs. Renas und Chris' Stimmen waren vom Balkon zu hören. Er machte sich frisch und schlüpfte in bequeme Shorts und ein T-Shirt. So fühlte er sich schon viel wohler. Barfuß ging er in die Küche und genoss das angenehm kühle Gefühl der Holzdielen unter seinen Füßen. Er ließ sich aus dem Wasserhahn ein Glas Wasser einlaufen und trank es gierig aus. Beim zweiten Glas ließ er sich etwas mehr Zeit.

»Ziemlich heiß, was?«, fragte Chris, der in die Küche gekommen war. Eric nickte zustimmend.

»Ich hatte vergessen, wie heiß es hier in der Stadt werden kann«, stellte Chris fest. »In Kanada war es nie so warm.«

Rena war ihrem Mann in die Küche gefolgt. Sie lächelte wehmütig, als sie an ihre kühle Heimat dachte.

»Keine Sorge, ihr werdet euch daran gewöhnen. In ein paar Tagen wird es schon besser sein«, munterte Eric sie auf.

»Hast du den Auftrag bekommen?«, erkundigte sich Chris.

»Ja, in den nächsten Monaten wird eine Menge Arbeit auf uns zukommen«, antwortete Eric grinsend.

»Ich werde tun, was ich kann, um dich zu unterstützen«, versprach Chris.

Rena lehnte ihren Kopf an Chris Schulter. Auf dem Arm hielt sie Melissa. Mit der freien Hand aß sie einen Apfel. Eric sah die drei an. Sie wirkten so zufrieden, trotz der Strapazen, die sie hinter sich hatten. Einsamkeit durchzog Eric. Auch er hatte sich mit der Frau, die er liebte, eine Familie gewünscht. Doch es war anders gekommen. Immer noch blickte Eric die drei gedankenverloren an. Dann bemerkte er, dass das Baby unruhig geworden war. Rena legte den Apfel beiseite, um es zu beruhigen.

»Gib mir die Kleine«, bot Eric an.

»Danke, das ist lieb«, sagte Rena.

Eric nahm das Baby von Rena entgegen und ging mit dem kleinen Bündel auf den Balkon. Schnell hatte sich Melissa wieder beruhigt und lag zufrieden in Erics Armen. Eric blickte in die Ferne und dachte an Isabella. Mit ihr hatte er eine gemeinsame Zukunft geplant. Sie hatte ihn mit ihrem Mut und ihrem Durchhaltewillen beeindruckt. Außerdem war sie eine warmherzige schöne Frau und Eric hatte sich hoffnungslos in sie verliebt. Er hatte sie vor etwas mehr als drei Jahren kennen gelernt. Sie hatte ihn um Hilfe gebeten, um den Abbau von Methanhydrat zu verhindern. Zunächst hatte er ihr seine Unterstützung verweigert, aber sie war hartnäckig geblieben und letztendlich hatte er seine Meinung geändert. Eric lächelte bei der Erinnerung. Sein Lächeln schwand, als er an den Preis für ihren Erfolg dachte. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie sich gerade gegen einen Mann zur Wehr gesetzt, der sie entführen wollte. Seitdem war sie spurlos verschwunden. Eric hatte ein Jahr nach ihr gesucht, doch alle seine Bemühungen waren erfolglos geblieben. Er wusste nicht einmal, ob sie noch lebte.

»Alles klar hier draußen?«, fragte Chris, der auf den Balkon getreten war. »Melissa scheint sich bei dir richtig wohl zu fühlen.« Chris betrachtete seine kleine Tochter, die zufrieden in Erics Armen lag.

»Die Kleine ist wirklich süß. Die dunklen Haare hat sie eindeutig von ihrer Mutter«, stellte Eric fest und sah seinen Freund an. Mit seinen blauen Augen und den rotblonden Haaren sah er seiner Tochter nicht ähnlich.

»Ja, sie ist wunderschön.« Chris streichelte sanft die weiche Babywange.

»Ich werde mich jetzt nach einer Hebamme umhören. Danach können wir Sachen für Melissa besorgen.«

»Super«, antwortete Chris. Er ging zurück in die Küche. »Willst du mitkommen oder lieber hierbleiben, um dich auszuruhen?«, fragte er Rena.

»Ich bleibe mit Melissa hier. Uns beiden wird Ruhe gut tun.«

Eric und Chris betraten den Secondhandladen. Der Laden hatte einen rustikalen Dielenboden und an den Wänden zogen sich Regale entlang, in denen Baby- und Kindersachen lagen. Am Eingang stand ein Tresen, auf dem besonders hübsche Stücke präsentiert wurden. Sie wurden von der quirligen Ladenbesitzerin begrüßt, die die beiden Männer neugierig betrachtete. Normalerweise waren es hauptsächlich Frauen, die in ihren Laden kamen.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Wir suchen Sachen für meine Tochter«, antwortete Chris, während sein Blick ein wenig ratlos über die vielen Kleidungsstücke schweifte.

»Wie alt ist denn Ihre Tochter?«, erkundigte sich die Ladenbesitzerin.

»Sie wird morgen eine Woche alt.« Ein Strahlen erhellte Chris Gesicht.

»Was brauchen Sie denn für die Kleine?«

»Eigentlich so ziemlich alles«, gestand Chris.

Mit Hilfe der Ladenbesitzerin begannen sie Bodys, kleine niedliche Strampler, Babysöckchen sowie Jacken und Babymützen, für etwas kühlere Tage, auszusuchen. Sie empfahl ihnen wiederverwendbare Windeln, die auf Dauer deutlich günstiger wären als die teuren Wegwerfwindeln.

»Dann nehmen wir noch das Babybett.« Eric deutete auf ein weißes Bett mit Himmel, an dem eine rosa Spieluhr befestigt war. »Und dann noch den hier.« Er nahm einen vanillefarbenen Plüschhund mit langen Schlappohren und einem großen freundlichen Lächeln in die Hand.

»Das Bett brauchen wir nicht, Eric. Die Kleine kann doch bei uns im Bett schlafen«, wendete Chris ein. »Das können wir uns nicht leisten«, zischte er Eric zu und hoffte, dass die Frau ihn nicht hörte. Es war ihm unangenehm, dass er nicht in der Lage war, für seine Familie zu sorgen.

»Keine Sorge, Chris, das Bett und den kleinen Hund schenke ich Melissa zur Geburt.«

»Das können wir nicht annehmen! Du hast schon so viel für uns getan.«

Eric grinste seinen Freund an. »Ich werde dich in den nächsten Wochen so viel arbeiten lassen, dass ich das Geld doppelt und dreifach herausbekomme.«

»Du willst, dass ich in deiner Schuld stehe, damit ich wie ein Sklave für dich schufte?«

»Genau«, sagte Eric herausfordernd. »Wozu sind Freunde sonst da?«

Chris ließ sich von Erics Gerede nicht täuschen. Dieser wollte es ihm leichter machen, das Geschenk anzunehmen.

»Danke.« Chris war froh, dass sie ein Bettchen für Melissa hatten. Bisher hatte er sehr unruhig geschlafen. Immer wieder wachte er nachts auf, weil er befürchtete sich aus Versehen auf das Baby zu legen.

Gemeinsam brachten Eric und Chris die Sachen nach Hause. Renas Augen strahlten, als sie die Einkäufe sah. Endlich hatte sie Sachen für ihre kleine Tochter. Während sie sich begeistert ans Auspacken machte, begaben sich Eric und Chris mit Fahrrad und einem Fahrradanhänger noch einmal zum Laden zurück, um das Babybett zu holen. Sie luden das Bettchen wie es war auf den Anhänger. Da das Bett für Erics kleinen Fahrradanhänger zu groß war, musste Chris es halten, während Eric das Fahrrad schob. Die neugierigen Blicke der Passanten folgten ihnen und als sie mit ihrem Gefährt ein Straßencafé durchquerten, das auf beiden Seiten des Wegs seine Tische aufgestellt hatte, war ihnen die Aufmerksamkeit aller sicher.

Pechschwarzer Sand

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