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4. Geschichten aus einer anderen Welt
ОглавлениеDie Überfahrt mit dem Frachtschiff verlief unspektakulär. Das Wetter war gut und Eric arbeitete die meiste Zeit. Im Fitnessstudio des Schiffes glich er den Bewegungsmangel aus. Seine Mahlzeiten nahm er gemeinsam mit den Offizieren des Schiffs ein. Nach zwölf Tagen erreichte er Halifax in Kanada. Dort hatte er einen Tag Pause. Diese Zeit nutzte er, um sich bei Chris und Rena über den Stand des Retramo-Projekts zu erkundigen und ihnen die Arbeit der letzten zwölf Tage zu schicken, denn auf dem Schiff hatte es keine Internetverbindung gegeben. Am nächsten Tag setzte er seine Reise in der kanadischen Eisenbahn fort. Vier Tage brauchte der Zug von Halifax nach Edmonton. Morgens um halb sieben hatte er die Stadt erreicht. Eric machte sich müde auf die Suche nach dem Bus, der ihn nach Fort McMurray bringen sollte. Im Bus holte er etwas Schlaf nach.
Als sie Fort McMurray erreichten, war er wach. Ihn beflügelte der Gedanke, dass er endlich am Ziel war. Er schaute aus dem Fenster und sah sich die Stadt an. Ein anderer Bus fuhr langsam an seinem vorbei und versperrte ihm die Sicht auf die Gebäude. Der Verkehr stockte und die beiden Busse blieben nebeneinander stehen.
Da sah er sie.
Keinen Meter von ihm entfernt saß Isabella. Schon häufiger hatte Eric geglaubt, sie zu erkennen, doch es war immer ein Irrtum gewesen. Diesmal war es anders. Sie sah ihn an und er konnte ihre Gefühle förmlich von ihrem Gesicht ablesen. Erst war es Erstaunen, dann wandelte sich ihr Ausdruck in Erschrecken.
Eric streckte die Hand aus, als könnte er sie durch die Scheibe berühren, als wollte er sich vergewissern, dass er sie wirklich vor sich hatte. In diesem Moment fuhren die beiden Busse an und sie verschwand aus seinem Blickfeld.
Isabella betrat das Burger-Restaurant durch die Hintertür. Sie war immer noch geschockt. Zunächst hatte sie geglaubt, ihre Fantasie würde ihr einen Streich spielen. Doch dann hatte sie erkannt, dass es sich bei dem Mann, den sie gesehen hatte, nicht um ein Trugbild handelte. Eric hatte sie in diesem entlegenen Zipfel von Kanada gefunden. Pures Glücksgefühl hatte sie bei seinem unerwarteten Anblick durchströmt. Doch dann wurden ihr die Konsequenzen dieser Begegnung klar. Wenn Eric es geschafft hatte, sie aufzuspüren, dann würde das auch anderen gelingen. Waren ihre Verfolger aus Brüssel ihr wieder auf den Fersen? Isabella konnte es nicht fassen. Sie war sich sicher gewesen, dass sie diesmal keine Spuren hinterlassen hatte.
Langsam ging sie den schmalen Gang entlang, der an den Toiletten vorbeiführte und spähte um die Ecke. Sie wollte sehen, ob Tom schon im Restaurant war. Sie arbeitete schon seit einiger Zeit mit Tom zusammen. In regelmäßigen Abständen trafen sie andere engagierte Umweltschützer oder Reporter, die sich für ihre Sicht über den Ölsandabbau interessierten. Dabei waren sie immer sehr vorsichtig. Niemand sollte wissen, wo sie wohnten. Sie trafen den Umweltschützer, der aus Europa gekommen war, in Fort McMurray und wollten ihm gründlich auf den Zahn fühlen.
Isabella entdeckte Tom an einem Tisch in der Ecke. Bei ihm saß ein Mann. Es war Eric. Isabella lehnte sich an die Wand und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Natürlich war es Eric. Er war der Umweltschützer, mit dem sie verabredet waren!
»Geht es Ihnen gut?«
Isabella riss die Augen auf. Vor ihr stand ein Mann, der sie musterte.
»Ja, es ist alles in Ordnung«, antwortete Isabella hastig.
Der Mann nickte und ging weiter.
Isabella atmete tief durch. Sie straffte die Schultern und ging entschlossen auf den Tisch zu. Ihr stand ein heikles Gespräch bevor. Tom wusste nichts von ihrer Vergangenheit. Er wusste nicht einmal, dass sie vor einigen Jahren aus Deutschland nach Kanada gekommen war und wenn es nach ihr ging, sollte das auch so bleiben.
»Hallo.« Sie zwang sich zu lächeln.
Sie warf einen Blick auf Eric. Es war deutlich zu erkennen, wie fassungslos er über diese Begegnung war.
»Eric, das ist meine Partnerin Amy Brown. Amy, das ist Eric Bergmann. Er kommt aus Deutschland«, ergriff Tom das Wort, da keiner der beiden etwas sagte.
»Es freut mich, dich kennen zu lernen«, sagte Isabella auf Englisch und reichte ihm die Hand. Sie zitterte leicht. Eric ergriff sie. Ein warmes Gefühl durchströmte Isabella.
»Ja, mich auch«, antwortete Eric mechanisch in derselben Sprache. Sein intensiver Blick ruhte auf ihr. Isabella verlor sich in den Tiefen seiner braunen Augen. Sie musterte sein vertrautes Gesicht und wurde von Erinnerungen geradezu überflutet. Erinnerungen an sein zärtliches Lächeln, sein freches Grinsen, wenn er sie neckte, wie sich seine Wange an ihrer anfühlte, seine Lippen, die über ihren Hals strichen, an ihrem Ohr knabberten und sie mal zärtlich, mal leidenschaftlich küssten.
Ein lautes Klirren riss sie aus ihrer Versunkenheit. Irgendwo war ein Glas zu Bruch gegangen. Sie registrierte, dass sie immer noch seine Hand in ihrer hielt und ließ sie los.
Sie erinnerte sich, dass Tom anwesend war. Sie wandte ihren Blick von Eric ab, damit sie sich konzentrieren konnte.
Tom schien nichts von dem mitbekommen zu haben, was sich gerade zwischen Isabella und Eric abspielte. Er begann Eric über seine Motive und Absichten zu befragen. Sie führten das Gespräch auf Englisch. Eric hatte in der Vergangenheit häufig internationale Kunden betreut und die Sprache bereitete ihm keine Mühe. Nach ein paar Minuten hatte sich Isabella so weit gefangen, dass sie ihren Teil beisteuern konnte. Isabella spürte Erics Blick auf sich ruhen. Doch sie vermied es ihn zu erwidern, um nicht aus dem Konzept zu geraten. Ihr war klar, dass Eric die Situation nicht verstand, doch er spielte mit. Schließlich nickte sie zufrieden. Sie hoffte, dass es für Tom so aussah, als ob auch sie Eric gründlich ausgehorcht hatte.
»Ich denke, es ist am besten, wenn Eric mit zu uns kommt«, wandte sie sich an Tom.
Dieser sah sie erstaunt an. Sie hatten noch nie einem Außenstehenden ihr Haus gezeigt. Bisher war es immer Isabella gewesen, die vehement dagegen war, Fremde in ihren Schlupfwinkel zu lassen.
»Warum?«, fragte Tom.
Isabella wusste genau, was er dachte.
»Wir werden viel mit Eric besprechen müssen. Wenn wir das jedes Mal in der Öffentlichkeit tun, könnten die falschen Leute auf uns aufmerksam werden«, antwortete sie.
»Bist du dir sicher?« Tom sah sie eindringlich an. Isabella erwiderte seinen Blick.
»Ja.«
»Also gut.« Tom stand auf.
Sie verließen das Restaurant und nahmen einen Bus, der Fort McMurray durchquerte. In einem der westlichen Außenbezirke stiegen sie aus.
»Ich gehe Sunny abholen«, sagte Isabella und ging zu einem Haus in der Nähe. Es war ein Waisenhaus.
Sie unterhielt sich kurz mit einer Frau und kam dann mit einem Mädchen an der Hand zu Tom und Eric zurück. Eric schätzte, dass das Mädchen fünf oder sechs Jahre alt war. Es hatte braune lockige Haare.
»Das ist Sunny«, stellte Isabella ihm das Mädchen vor. »Sunny, das ist Eric. Er wird ein paar Tage bei uns wohnen.«
Eric lächelte das Mädchen an, während Sunny ihn skeptisch musterte.
»Lasst uns gehen. Wir haben noch eine halbe Stunde Fußmarsch vor uns und ich habe Hunger«, forderte Tom die anderen auf.
Sie erreichten ein Holzhaus, das einsam im Wald stand.
»Hier wohnen wir«, bemerkte Isabella, während sie die Tür öffnete und eintrat. »Das ist unser Büro«, sie deutete auf einen Raum, der gleich rechts vom Flur abging.
Eric folgte ihr und sah sich in dem kleinen Raum um. Es passten nur zwei Schreibtische und ein paar Regale hinein.
Isabellas Blick fiel auf die Tasche, die Eric in seiner Hand trug.
»Ich zeige dir, wo du deine Sachen abstellen kannst«, sagte sie und verließ das Büro.
Sie durchquerten den Flur und Isabella öffnete eine Tür.
»Hier ist dein Zimmer. Ich hoffe, es ist in Ordnung für dich.« Isabella sprach immer noch Englisch.
»Sicher«, antwortete Eric und ging hinein.
Das Zimmer war sehr klein. Die Möblierung bestand aus einem Doppelstockbett, an das sich ein schmales Regal anschloss. Ein paar Haken an der Wand vervollständigten die Einrichtung. Eric ließ seine Tasche auf den Boden fallen. Dann sah er Isabella an. Sie war es wirklich. Er konnte es kaum glauben.
»Wie hast du mich gefunden?«, fragte sie leise. Nun wechselte sie ins Deutsche.
Die verschiedensten Gefühle waren in ihrem Gesicht zu lesen. Verwirrung, Freude und Angst. Angst? Er verstand nicht, warum sie Angst vor ihm haben sollte.
»Ich habe dich nicht gefunden«, beantwortete er ihre Frage. »Ich bin zufällig hier. Ich wusste nicht, dass du dich in Alberta aufhältst.«
Mit einem Schritt war er bei ihr. Er umschlang sie und zog sie an sich. Die andere Hand legte er an ihre Wange. Er lehnte seine Stirn an ihre und sah in die Tiefen ihrer grünen Augen.
»Oh Isa, ich bin so froh, dass es dir gut geht. Ich habe dich so lange gesucht, aber es gab keine Spur von dir. Es tut mir so leid«, murmelte er. Er senkte seinen Mund zu ihren Lippen. Isabella befreite sich hastig aus seiner Umarmung. Eric hörte Schritte und einen Moment später erschien Tom.
»Alles in Ordnung hier?«, erkundigte er sich.
»Ja, alles in Ordnung«, antwortete Isabella.
»Eric, hast du Hunger?«, fragte Tom.
»Ja«, antwortete Eric mit einem zwanglosen Lächeln.
»Dann werde ich mal was vorbereiten. Amy, hilfst du mir?«
»Ja, natürlich.«
Eric sah Isabella nach und fragte sich, in welcher Beziehung die drei Menschen, die hier lebten, zueinander standen.
Eine Stunde später saßen sie gemeinsam am Tisch und ließen sich einen kräftigen Eintopf schmecken.
»Warum wohnt ihr alleine im Wald?«, erkundigte sich Eric.
»ENTAL macht uns das Leben sehr schwer. Wir sind vielen Anfeindungen ausgesetzt und müssen uns vor Übergriffen schützen. Deshalb leben wir sehr zurückgezogen«, beantwortete Isabella seine Frage.
»Ich habe schon gehört, dass es hier gefährlich werden kann«, bemerkte er und widmete sich wieder seiner Suppe.
Tom sah ihn misstrauisch an. »Von wem hast du das gehört?«
»Freunde von mir haben bis vor kurzem in Alberta gelebt. Sie mussten das Land verlassen, weil der Druck, den ENTAL auf sie ausgeübt hat, zu groß geworden ist.«
»Wie heißen deine Freunde?«, kam es sofort von Tom.
Eric musterte Tom einen Moment und überlegte, ob er die Namen preisgeben sollte. Er warf Isabella einen kurzen Blick zu. Auch sie schien sehr interessiert an seiner Antwort zu sein. »Es sind Chris und Rena Siebach.«
Toms Gesicht hellte sich bei dieser Antwort auf. »So klein ist die Welt«, stellte er lachend fest.
»Chris und Rena haben während ihrer Flucht bei uns Station gemacht«, erklärte Isabella. »Wie geht es ihnen?«
»Gut. Sie wohnen bei mir in Berlin.«
Bei dieser Antwort überkam Isabella plötzlich heftiges Heimweh. Sie spürte Erics warmen Blick auf sich und ihr war schmerzlich bewusst, wie viel sie durch ihr Engagement gegen den Abbau von Methanhydrat verloren hatte.
Eric riss seinen Blick von Isabella los. »Ich muss Renas Vater besuchen. Wie ihr sicher wisst, wohnt er in Fort Chipewyan. Ich will ihm mitteilen, dass Chris und Rena wohlbehalten in Berlin angekommen sind. Außerdem habe ich ein Foto von seiner Enkeltochter.«
»Es wird nicht einfach sein, dort hinzukommen«, bemerkte Tom. »Fort Chipewyan ist 280 km von hier entfernt und im Sommer gibt es keine befestigte Straße. Im Winter, wenn hier alles gefroren ist, kommt man leichter dorthin.«
»Und was machen die Leute, die im Sommer nach Fort Chipewyan wollen? Es muss doch auch zu dieser Jahreszeit Möglichkeiten geben?«, hakte Eric nach.
»Klar gibt es die«, antwortete Tom. »Man kann sich ein kleines Flugzeug chartern, aber das kostet natürlich. Außerdem kontrolliert ENTAL, wer über die Abbaugebiete fliegt. Sie wollen nicht, dass Fotos von dieser verpesteten Mondlandschaft gemacht und veröffentlicht werden«, bemerkte er verächtlich. »Ich werde mich nach einer anderen Mitfahrgelegenheit für dich umhören.«
»Vielen Dank.«
»Eric, hat Amy dir schon von unserem Treffen morgen erzählt?«
Eric schüttelte den Kopf.
»Morgen wollen sich alle Umweltschützer aus der Gegend treffen. Wir wollen versuchen unser Vorgehen besser zu koordinieren. Du bist also genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen.«
Tom berichtete Eric von den Aktionen, die in der Gegend liefen. Isabella beteiligte sich kaum an dem Gespräch und Sunny begnügte sich damit, Eric hin und wieder misstrauische Blicke zuzuwerfen.
»Zeit fürs Bett«, erinnerte Isabella Sunny schließlich.
Diese stand ohne Widerrede auf und verließ die Küche. Isabella folgte ihr. Aus dem Bad hörten sie Wasserrauschen. Isabella ging ins Schlafzimmer und schlug die Bettdecke zurück. Dann erschien Sunny, zog sich ihren Schlafanzug an und schlüpfte ins Bett.
»Erzählst du mir eine Geschichte?« Erwartungsvoll sah sie Isabella an. »Oder hast du keine Zeit?«, fragte sie unsicher.
»Auf jeden Fall habe ich Zeit für eine Gutenachtgeschichte«, erwiderte Isabella. »Welche möchtest du hören?«
»Eine von Lilly und Ole.«
Natürlich, dachte Isabella lächelnd. Sie kuschelte sich mit Sunny ins Bett und begann zu erzählen.
Sie erzählte von einem weit entfernten Land, ein Land, in dem es riesige Wälder gab, hohe Berge, unzählige Seen und sprudelnde Gebirgsbäche. Diese Geschichte handelte von einem Mädchen namens Lilly und ihrem besten Freund Ole. Ole war ein Trolljunge. Sie erzählte Sunny, wie die beiden durch den Wald streiften, Blaubeeren aßen und spannende Abenteuer erlebten. In jedem ihrer Worte lag eine tiefe Sehnsucht nach diesem Land, das unerreichbar schien.
»So, und nun schlaf schön, mein Schatz.« Isabella umarmte Sunny liebevoll. Dann erhob sie sich vom Bett und ging hinaus. Die kleine Nachttischlampe ließ sie brennen, wie sie es immer tat.
Richard Sullivan nippte an seinem Champagner. Seine Frau Leanne sah im weichen Kerzenlicht beinahe aus wie vor 26 Jahren, als er sie kennen gelernt hatte. Das dunkelblaue Abendkleid umschmeichelte ihre schlanke Figur. Ihre platinblonden Haare waren zu einer eleganten Hochsteckfrisur arrangiert und das Saphircollier, das er ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte, stand ihr ausgezeichnet.
Leanne musterte seine Erscheinung. Er hatte eine sportliche Figur, die in dem Smoking gut zu Geltung kam. Seine von silbernen Strähnen durchzogenen braunen Haare waren akkurat frisiert und verbargen die allmählich entstehenden Geheimratsecken. Zufrieden mit dieser Bestandsaufnahme sah sich Leanne im Saal um. Die Organisation dieser Benefizveranstaltung hatte sie in den letzten Wochen sehr in Anspruch genommen. Der Erlös der Veranstaltung sollte dem Kampf gegen Krebs zugutekommen.
Leanne machte ihren Mann auf die gemeinsame Tochter aufmerksam. Richard beobachtete, wie ihre Tochter charmant mit einer älteren Dame plauderte.
»Lindsay weiß, wie man sich auf dem gesellschaftlichen Parkett bewegt und auch den knauserigsten Zeitgenossen eine Spende entlockt«, bemerkte Leanne stolz.
»Sie macht sich wirklich gut«, stimmte Richard seiner Frau zu.
»Entschuldige mich bitte kurz. Ich muss Gwen begrüßen.«
Richard blieb alleine zurück und nippte an seinem Champagner.
»Guten Abend, Mr. Sullivan«, vernahm er hinter sich eine vertraute Stimme.
»Guten Abend, Mr. Baxter. Schön, dass Sie es einrichten konnten.«
Die beiden Männer plauderten einige Minuten über die Abendveranstaltung, doch schnell wendete sich das Gespräch der gemeinsamen Arbeit zu.
»Unserer Geologen haben ergiebige Vorkommen im Herzen des Wood Buffalo Nationalparks entdeckt. Wenn wir die ausbeuten, können wir Milliarden Gewinne machen«, sagte Richard Sullivan.
»Der Nationalpark ist per Gesetz vor unserem Zugriff geschützt«, gab Charles Baxter zu bedenken.
»Dann müssen die Gesetze geändert werden. Sie sind der Anwalt. Wenn jemand das kann, dann Sie.«
Charles überlegte, wie er das ermöglichen könnte.
»Wir können eine Ausnahmegenehmigung erwirken. Doch dafür müssen Sie die Politiker auf unserer Gehaltsliste erinnern, wem ihre Loyalität gilt.«
»Ich werde mich darum kümmern«, erwiderte Richard Sullivan, der Vorstandsvorsitzende von ENTAL.
»Dann gehen wir den üblichen Weg. Wir konsultieren die First Nations. Dieses Mal muss ich die Unterlagen allerdings noch umfangreicher und komplizierter gestalten lassen. Im letzten Jahr haben sie häufiger die kritischen Punkte gefunden.«
»Das darf nicht geschehen.«
»Keine Sorge, das wird es nicht. Selbst wenn sie Klage einreichen, werden wir das Verfahren in die Länge ziehen. Währenddessen fördern wir weiter. Das neue Gesetz, das auf unsere Initiative hin verabschiedet wurde, macht es möglich.«
Richard nickte zufrieden.
»Letztendlich werden wir den Prozess gewinnen, so wie immer«, bemerkte Charles Baxter.
»Redet ihr schon wieder über die Arbeit?«, wurden sie von Leanne unterbrochen. Sie sprach leise, damit die Umstehenden sie nicht hörten. »Ich habe dich mehr als einmal darum gebeten, auf unseren Benefizveranstaltungen nicht darüber zu sprechen.« Der scharfe Unterton in ihrer Stimme strafte das Lächeln Lügen, das sie aufgesetzt hatte.
Richard wusste, dass seiner Frau die Art, wie er sein Vermögen gemacht hatte, nicht gefiel. Doch ihre moralischen Bedenken hielten sie nicht davon ab, den Lebensstil einer wohlhabenden Frau zu genießen.
»Guten Morgen«, begrüßte Eric Isabella.
Sie bereitete das Frühstück vor. Er beobachtete ihre schnellen routinierten Bewegungen, immer noch ungläubig und staunend, dass sie leibhaftig vor ihm stand. Er wollte nichts lieber als ungestört mit ihr reden, sie in seine Arme schließen, sein Gesicht in ihrem Hals vergraben, sie küssen und nie wieder loslassen. Doch die Gelegenheit für ein ungestörtes Gespräch hatte sich noch nicht ergeben. Ständig war Tom in der Nähe.
»Guten Morgen«, hörte Eric Toms Stimme hinter sich. Er begrüßte ihn ebenfalls und wandte sich dann an Isabella.
»Kann ich dir helfen?«
»Ja, du kannst den Tisch decken.«
Sie zeigte ihm, wo sich das Geschirr befand.
»Tom, kannst du bitte nach Sunny sehen?«
Kaum hatte Tom die Küche verlassen, fasste Eric Isabella eindringlich am Arm: »Wir müssen reden!«
»Ja, ich weiß, aber nicht jetzt«, wich Isabella ihm aus.
Eric nickte und half ihr weiter bei den Frühstücksvorbereitungen. Immer noch kämpften unterschiedliche Gefühle in ihm. Er war froh und erleichtert, dass es ihr gut ging. Doch er empfand auch Enttäuschung und Eifersucht, weil Isabella mit einem anderen Mann zusammenlebte.
Nach dem Frühstück begaben sie sich auf den Weg zum Treffen der Umweltschützer. Es war ein Fußmarsch von einer Stunde. Sie bewegten sich nur auf schmalen Waldpfaden. Als Umweltschützer musste man in dieser Gegend sehr vorsichtig sein. ENTAL verfolgte jeden, der ein vermeintlicher Gegner war und das konnte sehr gefährlich werden.
Isabella ging mit Sunny voran, Tom und Eric folgten ihnen.
»Hallo Amy, hallo Tom«, wurden sie begrüßt, als sie in das Haus eintraten, in dem die Versammlung stattfand. Sie betraten das große Wohnzimmer. Es hatten sich bereits einige Personen eingefunden.
»Wer ist das?«, fragte ein junger Mann mit schwarzen Haaren misstrauisch und deutete auf Eric.
»Das ist Eric. Er ist aus Europa gekommen, um uns zu unterstützen«, antwortete Isabella.
»Woher sollen wir wissen, dass er kein Spitzel ist?« Der junge Mann funkelte Eric unfreundlich an.
»Er ist kein Spitzel. Ich verbürge mich für ihn.« Isabella trat einen Schritt näher an den Mann, der sich vor ihr aufgebaut hatte und sah ihm mit festem Blick in die Augen.
Der junge Mann wollte etwas entgegnen, aber ein älterer kam ihm zuvor. Er hatte graue Haare, die zu einem langen Pferdeschwanz zusammengebunden waren.
»Eric, es freut mich, dich kennen zu lernen. Ich bin James. Setzt euch und lasst uns anfangen.«
Zu Beginn der Versammlung gab es eine kurze Diskussion darüber, wie die Lebensverhältnisse in der Gegend verbessert werden konnten. Dann gingen sie zu der Frage über, wie der Abbau von Ölsand gestoppt werden könnte, wobei letzteres mehrere Nummern zu groß für die hier Anwesenden war. Isabella und James vertraten eine gemäßigte praktische Position, die die ohnehin schon prekäre Situation der Umweltschützer nicht unnötig verschlimmerte. Die radikaleren, allen voran der junge Tyrell, waren der Meinung, man solle am besten die Anlagen von ENTAL in Brand setzen. Daraufhin erklärte Isabella, welche furchtbaren Folgen so eine Aktion haben würde. Eric bewunderte sie für ihre Geduld mit diesem Wichtigtuer.
»Dann müssen wir die Zufahrten blockieren«, rief Tyrell.
»Und was soll das bringen?«, fragte Isabella.
»Was willst du eigentlich hier, wenn du alle Vorschläge nur schlecht machst?«, fragte eine junge Frau, die begeistert von Tyrells Vorschlägen war.
»Nun mal sachte. Es ist völlig legitim, wenn Amy ihre Meinung sagt. Ihre Einwände sind schließlich nicht unbegründet«, schaltete James sich ein, in dem Versuch die Wogen zu glätten. »Wir haben schon häufiger versucht, die Zufahrten zu blockieren. Spätestens nach einer halben Stunde taucht der Sicherheitsdienst auf und die Aktion ist beendet. Dann findest du dich im Gefängnis wieder.«
»Wir könnten ein Video von der Blockade ins Internet stellen«, überging Tyrell die Einwände.
Tyrell fand mehrere Unterstützer für seine Idee und schließlich fragte er jeden Einzelnen, ob er bei der Aktion mitmachte. Als er bei Isabella ankam, verneinte diese und erklärte noch einmal, warum sie die Idee für schlecht hielt. Tyrell wollte davon jedoch nichts hören.
»Du kannst dich nicht immer nur in deiner Hütte verstecken und darauf warten, dass sich die Probleme von alleine lösen. Manchmal muss man auch ein Wagnis eingehen. Aber dazu bist du wohl zu feige!«
Eric ballte wütend die Fäuste. Wie konnte dieser Spinner Isabella vorwerfen, dass sie feige war. Schließlich hatte sie sich vor drei Jahren einem mächtigen Energiekonzern entgegengestellt und war mehr als einmal bedroht worden. Sie wusste genau, wovon sie sprach. Es folgte betretenes Schweigen auf Tyrells Vorwurf.
»Es kann eben nicht jeder so mutig sein wie du, Tyrell«, antwortete Isabella ruhig. Sie stand auf und verließ den Raum. Alle sahen ihr hinterher. Nach einem kurzen Moment des Schweigens ging die Diskussion weiter. Eric hatte keine Lust mehr, sich das weiter anzuhören und folgte Isabella.
Vor dem Haus angekommen, atmete Isabella tief durch. Sie ging vom Eingang weg in Richtung Wald. Eric hatte sie schnell eingeholt.
»Wie kannst du dich von diesem Grünschnabel so beleidigen lassen?«, fragte er erbost.
»Was sollte ich denn machen? Ihn verprügeln? Ich habe gesehen, wie du mit geballten Fäusten dagesessen hast.«
»Dieser respektlose Kerl hätte eine Abreibung wirklich verdient.«
»Die wird er ja bald bekommen. Wenn er versucht die Zufahrtswege zum Firmengelände von ENTAL zu blockieren, wird sich der Sicherheitsdienst um ihn kümmern.«
»Ich habe gestaunt, wie ruhig du geblieben bist. Früher warst du impulsiver. Wenn ich daran denke, was du mir so an den Kopf geworfen hast...«, erinnerte sich Eric mit einem melancholischen Lächeln.
»Ich habe gelernt, mich zu beherrschen. Schließlich hängt mein Leben davon ab, ruhig und unauffällig zu sein.« Isabella wich Erics Blick aus und sah zum Haus. »Da kommen Tom und Sunny«, sagte sie leise.
Eric verstand und ließ das Thema fallen. Sie ging den beiden entgegen. Sunny kam sofort zu Isabella und Isabella umarmte sie liebevoll. Sie nahm Sunny nicht gerne mit zu solchen Veranstaltungen, doch sie allein in der Hütte zu lassen kam auch nicht infrage und die Strecke zum Waisenhaus wäre ein zu großer Umweg gewesen.
»Bei euch geht es ja ganz schön heiß her«, sagte Eric zu Tom.
»Ja, Tyrell schießt manchmal über das Ziel hinaus, aber er hat das Herz am richtigen Fleck.«
Sie machten sich auf den Rückweg und Tom berichtete Eric einiges über die Leute auf der Versammlung. Isabella blieb mit Sunny etwas hinter den beiden zurück und erzählte ihr eine neue Geschichte von Lilly und Ole, dem Troll, um das Mädchen von der unerfreulichen Versammlung abzulenken.
»Wie können wir Tyrell von seinem verrückten Plan abbringen?«, fragte Tom.
Sie saßen in der Küche und hatten gerade ihr Mittagessen beendet. Isabella ließ das Gesicht in die Hände sinken.
»Ich weiß es nicht«, murmelte sie resigniert. Die ganze Situation brachte sie an ihre Grenzen. Sie hatte es mit Mühe geschafft, ihr Leben halbwegs auf die Reihe zu bringen und nun war Eric aufgetaucht. Alle Sehnsüchte und Hoffnungen regten sich wieder in ihr. Sie hatte drei Jahre versucht sie zu unterdrücken.
»Warum könnt ihr diesen Typen nicht einfach machen lassen?«, fragte Eric.
»Weil es dann gefährlicher für uns alle wird. ENTAL wird nach so einem Vorfall wesentlich wachsamer sein«, erklärte Tom.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Eric Isabella und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Toms Augen verengten sich, als er die Berührung sah. Isabella sah Eric an.
»Ja, sicher«, antwortete sie wenig überzeugend. Sie stand auf und Erics Hand glitt von ihrer Schulter. Sie räumte die Teller vom Tisch und begann zu spülen. »Sunny, trocknest du ab?«
»Ja, mache ich.« Das Mädchen stand auf und gesellte sich zu Isabella.
»Ihr könnt schon mal ins Büro gehen. Ich komme nach, wenn ich hier fertig bin.« Isabella wollte die Männer für ein paar Minuten loswerden. Sie brauchte ein bisschen Zeit für sich.
Sie begann mit Sunny zu plaudern. Isabella bedauerte, dass sie nicht mehr Zeit für sie hatte. Doch Sunny nahm das klaglos hin. Sie hatte schon Schlimmeres erlebt.
»Ich habe dir ein neues Malbuch mitgebracht«, bemerkte Isabella, während sie sich die Hände abtrocknete. Sie ging zu ihrer Tasche und nahm das Malbuch heraus. Sie überreichte es Sunny, die sich sichtlich darüber freute. »Ich hoffe, morgen habe ich wieder Zeit zum Lesen üben.«
Sunny war sehr wissbegierig und wollte in der Lage sein, ihre Lieblingsbücher selbst zu lesen. Deshalb hatte Isabella beschlossen, ihr das Lesen beizubringen. Sunny war sechs Jahre alt und müsste eigentlich in ein paar Wochen eingeschult werden. Doch das war problematisch. Isabella konnte sie nicht jeden Tag nach Fort McMurray zur Schule bringen. Das würde zu viele Fragen aufwerfen. Außerdem hatte Sunny alleine unter Fremden Angst. Als Isabella das Thema einmal aufgebracht hatte, hatte das Mädchen sich vehement geweigert darüber zu sprechen. Isabella versuchte Sunny zu Hause zu unterrichten, doch es war schwierig diese Aufgabe mit ihrem Engagement gegen ENTAL zu vereinen.
»Okay, wie können wir dir helfen, Eric?«, erkundigte sich Isabella entschlossen, als sie sich zu den Männern gesellte.
»Wir haben eventuell eine Möglichkeit gefunden, wie wir die Lieferung dieses Bauteils nach Kanada unterbrechen können«, informierte Eric die beiden.
Tom sah verwirrt aus, doch Isabella lächelte, als sie das hörte. Eric hatte sich gewundert, wie jemand so genau über die technische Seite der Ölsandförderung Bescheid wissen konnte. Als er Isabella getroffen hatte, war diese Frage beantwortet worden. Sie war eine Spezialistin im Bereich Wechselwirkungen von Klima und Technologie. Mit solchen Sachen kannte sie sich aus.
»Könnte mich jemand darüber aufklären, worüber ihr redet?«, erkundigte sich Tom.
»Eric hat sich vor einigen Wochen bei mir nach der Achillesferse von ENTAL erkundigt. Zumindest denke ich, dass du es warst?« Fragend sah sie ihn an.
Eric nickte zustimmend.
»Ich habe ihm von den Hydrozyklonen berichtet, die ENTAL aus Deutschland bezieht. Wenn die nicht mehr geliefert werden, wird es für die Ölfirma sehr schwer einen adäquaten Ersatz zu finden«, erklärte sie.
»Die Idee ist gut, aber ich denke, das allein wird nicht ausreichen«, sagte Eric. »Wir brauchen noch mehr Munition.«
»Du willst den Abbau der Ölsande komplett stoppen?«, fragte Isabella und sah Eric erstaunt an.
»Ja, ich will das Unmögliche möglich machen.« Eric lächelte Isabella an. Ihre Blicke verfingen sich und für einen Moment gab es nur sie beide.
»Hast du Erfahrung damit?«, unterbrach Tom ihr stummes Zwiegespräch.
»Ein bisschen«, erwiderte Eric mit einem kurzen Seitenblick zu Isabella, der Tom nicht entging.
»Bisher wurden immer wieder Missstände an die Öffentlichkeit gebracht. Es wurde über die Zerstörung der Natur, den immensen Verbrauch von Wasser und Erdgas berichtet. Es ist bekannt, dass durch den Ölsandabbau Schadstoffe ins Wasser gelangen, die Krebs auslösen. Es gab in den letzten 30 Jahren viele Leute, die versucht haben, die Probleme ans Licht zu bringen. Aber den Abbau von Ölsanden konnte das nicht stoppen«, entgegnete Isabella.
Sie diskutierten den ganzen Nachmittag über mögliche Vorgehensweisen. Tom bemerkte zwischen Eric und Isabella eine Vertrautheit, die für zwei Leute, die sich gerade erst kennen gelernt hatten, nicht normal war. Das gefiel ihm nicht.
Nach dem Abendessen brachte Isabella Sunny ins Bett. Sie war froh, der spannungsgeladenen Atmosphäre eine Weile zu entkommen. Sie erzählte Sunny eine besonders lange Gutenachtgeschichte. Sie hatte es nicht eilig sich wieder zu den Männern zu gesellen. Sie gab Sunny einen Kuss auf die Wange und stand auf. Das Mädchen lag warm zugedeckt im Bett und hielt ihren Kuschelbären im Arm. Unwillkürlich musste Isabella bei diesem Anblick lächeln. Sie liebte Sunny wie eine eigene Tochter und würde alles tun, um das Mädchen zu beschützen.
Sie verließ das Schlafzimmer und stieß beinahe mit Tom zusammen. Er war ihr so leise gefolgt, dass sie ihn nicht gehört hatte.
»Du hast mich erschreckt«, sagte sie lächelnd und legte die Hand auf ihr Herz.
»Kennst du Eric von früher?«.
Isabellas Lächeln schwand. Tom sah sie forschend an.
»Wie kommst du darauf?«
»War nur so ein Gedanke.«
Isabella sah Tom unbewegt an. Tom wurde unbehaglich unter diesem Blick. »Ihr macht so einen Eindruck«, versuchte er zu erklären.
Isabella schüttelte den Kopf. »Du kommst auf Ideen«, sagte sie beiläufig.
Im Inneren war sie jedoch alles andere als ruhig. Wie war es möglich, dass Tom die Vertrautheit zwischen Eric und ihr so schnell bemerkt hatte? Sie hatte sich viel Mühe gegeben, Eric wie einen Fremden zu behandeln. Bis jetzt wusste Tom nicht einmal, dass sie erst vor drei Jahren aus Europa gekommen war. Er glaubte, dass sie schon seit ihrer Kindheit in Kanada lebte. Eine Verbindung zu Eric würde zu viele ihrer Geheimnisse offenbaren. Sie zwang sich Tom ruhig anzusehen.
»Wollen wir weitermachen?«, fragte sie.
»Sicher, geh schon mal zu Eric. Ich bin in ein paar Minuten da.«
Isabella ging wieder in die Küche. Eric stand auf und kam zu ihr. Endlich war er mit ihr allein.
»Isa, wir müssen reden«, sagte er ernst und legte seine Hände auf ihre Schultern.
»Das geht jetzt nicht«, wehrte Isabella ab und machte sich los.
»Du vertröstest mich, seit ich hier bin. Mir reicht es jetzt. Ich will wissen, warum du spurlos verschwunden bist und es nicht für nötig gehalten hast, dich bei mir zu melden.« Eric war aufgebracht.
»Weil ich Angst um mein Leben hatte«, flüsterte Isabella.
Tom betrat den Raum. Er hatte ihren Wortwechsel gehört, aber nicht verstanden, was sie gesagt hatten. Sie hatten ihre Unterhaltung auf Deutsch geführt. Doch ihm war die Angst in Isabellas Stimme nicht entgangen.
»Was ist hier los?«, griff er ein.
Eric ignorierte Tom einfach. »Ich will mit dir allein sprechen und zwar sofort!«, forderte er aufgebracht.
»Also gut«, seufzte Isabella resigniert und machte Anstalten mit Eric nach draußen zu gehen. Tom hielt sie am Arm fest.
»Amy, du musst nicht … «, setzte er an.
»Du verstehst das nicht, Tom«, sagte sie erschöpft. »Lass mich bitte los.«
Tom reagierte nicht und hielt ihren Arm weiterhin fest.
»Lass mich sofort los!«, befahl sie. Doch sie gab ihm keine Zeit zu reagieren. Mit einer schnellen Bewegung befreite sie sich aus Toms Griff. Dieser sah sie überrascht an. Kommentarlos verließ sie die Hütte und lief los. Eric musste sich beeilen, um an ihr dran zu bleiben. Nach ein paar Minuten bog sie in den Wald ab und folgte einem kaum sichtbaren Pfad.
Schließlich blieb sie stehen, wandte sich zu Eric und sah ihn abwartend an. Eric betrachtete schweigend die Frau, die er die letzten drei Jahre so schmerzlich vermisst hatte, von der er so oft geträumt und um die er getrauert hatte, weil er dachte, er hätte sie für immer verloren.
»Isabella, ich...«, begann er. Doch dann verfiel er wieder in Schweigen. Er wollte ihr so viel sagen und sie so viel fragen, dass er nicht wusste, wo er anfangen sollte. »Isa, ich habe dich schrecklich vermisst. Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht. Ich dachte sogar, du wärst vielleicht...« Diesen Gedanken sprach er nicht zu Ende aus. »Warum hast du dich in Brüssel nicht wie verabredet mit mir getroffen? Wenn du deine eigenen Wege gehen willst, ist das in Ordnung, aber ich finde es nicht fair, dass du mich im Ungewissen lässt und einfach verschwindest.« Anklagend sah er Isabella an.
»Eric, so war es nicht«, entgegnete Isabella traurig.
»Dann erklär mir doch bitte endlich, wie ich dein Verschwinden richtig verstehen soll!«, rief Eric gereizt.
Isabella sank erschöpft zu Boden. »Ich hätte nichts lieber getan, als mich in Brüssel mit dir zu treffen«, begann sie leise und sah zu Boden. »Aber ich konnte nicht. Die haben mich verfolgt. Ich bin aus Versehen in den falschen Bus gestiegen. Mir war der Rückweg versperrt. Wäre ich zurückgefahren, wäre ich denen geradewegs in die Arme gelaufen. Ich wollte dich anrufen.« Tränen standen ihr in den Augen, als sie Eric ansah. » Glaub mir, ich hätte dich so gerne angerufen, aber es ging nicht.« Sie hielt kurz inne. »Ich vermute, die haben mich über mein Handy geortet. Wie hätten sie mich sonst so schnell finden können? Ich dachte, wenn ich dich anrufe, hören die uns ab. Also habe ich es ausgemacht, in der Hoffnung zu entkommen.«
»Das wusste ich nicht.« Eric hockte sich zu ihr und nahm ihre Hand in seine. »Aber warum hast du dich nicht später gemeldet, als du außer Gefahr warst?«
»Ich hatte zu große Angst«, gestand Isabella. »Diese Typen haben uns immer wieder aufgespürt, egal, wo wir uns versteckt haben. Ich wollte sie nicht wieder durch einen dummen Fehler auf meine Spur führen. Also habe ich die Einzelteile meines Handys im Atlantik versenkt, um nicht irgendwann in Versuchung zu kommen. Außerdem...«, fügte sie zögernd hinzu, »was hätte es genützt, wenn du gewusst hättest, wo ich bin? Du hast...«
Eric ließ sie nicht weiterreden.
»Was es genutzt hätte?«, fragte er aufgebracht und sprang auf. »Ich habe dich überall auf der Welt gesucht! Ich habe mich schuldig gefühlt, weil ich dachte, dir ist etwas Schreckliches zugestoßen. Wenn ich gewusst hätte, wo du bist, hätte ich sofort alles stehen und liegen gelassen und wäre zu dir gekommen. Verdammt, Isabella, ich liebe dich!«
Isabella starrte Eric sprachlos an. Sie war überrascht, sowohl von Erics Liebeserklärung als auch von deren Heftigkeit. Sie waren nur kurz zusammen gewesen, zu kurz für Liebeserklärungen.
Eric interpretierte Isabellas Schweigen falsch.
»Es tut mir leid. Du hast jetzt ein anderes Leben. Darin ist offensichtlich kein Platz mehr für mich. Sobald ich meine Arbeit hier erledigt habe, werde ich verschwinden.« Er wandte sich um und wollte fortgehen.
»Nein!« Isabella sprang erschrocken auf.
Eric drehte sich wieder zu ihr. Isabella lief zu ihm.
»Nein«, wiederholte sie etwas sanfter und ergriff Erics Hand. »Du verstehst das falsch. Ich habe dich schrecklich vermisst. Es ist so schön, dass du da bist. Für mich ist es ein Wunder, dass wir uns hier am anderen Ende der Welt begegnet sind. Eric, ich liebe dich auch.«
»Was ist mit Tom?«, fragte Eric skeptisch.
»Was meinst du? Was soll mit Tom sein?«
»Du bist jetzt mit Tom zusammen.« Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Nein, bin ich nicht.«
»Er verhält sich aber so.«
»Ich weiß, er ist ziemlich besitzergreifend. Aber wir sind nicht zusammen.« Isabella strich mit ihrer Hand sanft Erics Wange entlang. Sie konnte immer noch Zweifel in Erics Augen erkennen. Ihre Hand glitt in seinen Nacken. Sie spürte seine warme Haut unter ihren Fingern. Sie zog sein Gesicht zu sich und küsste ihn zärtlich. Eric wollte den Kuss vertiefen, doch Isabella legte eine Hand auf seine Brust und schob ihn ein paar Zentimeter von sich.
»Ich liebe dich. Ich bin mit keinem anderen zusammen. Hast du das verstanden?«, erklärte sie nachdrücklich.
Ein Grinsen blitzte in Erics Gesicht auf.
»Yes, Ma‘am.« Er zog sie an sich und küsste sie wieder. Ihre Zungen verschmolzen miteinander. Isabella ließ ihre Hände über seinen Körper gleiten. Sie konnte nicht genug von ihm bekommen, er fühlte sich so unglaublich gut an. Ihr Kuss wurde leidenschaftlicher und es schien, als würde die Last der letzten drei Jahre einfach von ihnen abfallen.
»Ich habe dich so vermisst«, murmelte Eric in Isabellas Ohr.
Die beiden schienen alles um sich herum vergessen zu haben. Sie bemerkten nicht, wie der Wind auffrischte und das leise Wispern der Bäume sich in ein Rauschen verwandelte. Sie wurden von Regentropfen aus ihrer Zweisamkeit gerissen. Lachend liefen sie tiefer in den Wald hinein und suchten Schutz vor dem Regen.
»Wir sollten wieder zurückgehen. Tom ist bestimmt schon ganz krank vor Sorge«, bemerkte Isabella widerstrebend. Sie gab die Zweisamkeit mit Eric nur ungern auf.
»Ich habe das Gefühl, Tom mag mich nicht besonders. Er benimmt sich, als ob ich dir etwas Schlimmes angetan hätte.«
Isabella blickte verlegen zu Boden. Das entging Eric nicht.
»Was hast du ihm über mich erzählt?«
»Ich habe ihm gar nichts über dich erzählt«, verteidigte sie sich.
»Wie erklärst du dir dann sein Verhalten? Er führt sich auf wie der große Beschützer, der dich vor einem bösen Exfreund retten will.« Auf einmal ging Eric ein Licht auf. »Ist es das?«
»Irgendwie musste ich mein Verhalten erklären«, antwortete Isabella verhalten. »Er hat gemerkt, dass ich oft traurig war und Liebeskummer ist eine gute Erklärung dafür.«
»Also denkt er, dass ich dein Exfreund bin? Wie kommt er darauf?«
»Er hat gemerkt, dass wir uns nicht zum ersten Mal begegnet sind. Unser Gespräch in der Küche hat wahrscheinlich sein Übriges dazu beigetragen, diesen Eindruck zu bekräftigen. Tom ist ein guter Freund. Allerdings weiß er nichts von meinem früheren Leben. Er weiß nicht mal, dass ich aus Deutschland bin.«
»Warum? Vertraust du ihm nicht?«
»Ich vertraue niemandem mehr. Alle hier kennen mich unter dem Namen Amy Brown. Sie denken, ich komme aus Toronto. Bis jetzt habe ich es geschafft unerkannt zu bleiben. Ich habe mich immer im Hintergrund gehalten, habe es vermieden fotografiert oder gefilmt zu werden, damit die Leute von Veller Energy nicht wieder auf mich aufmerksam werden. Du weißt sicherlich noch, was in Norwegen passiert ist. Dort bin ich nur durch eine Mautstation gefahren und schon haben die uns aufgespürt. Ich versuche einfach jeden Fehler zu vermeiden und dazu gehört auch, alle Verbindungen zu meinem alten Leben zu verbergen.«
»Du erwartest aber hoffentlich nicht, dass ich jetzt den bösen Exfreund spiele.«
»Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird. So wie ich Tom kenne, wird er eine Erklärung verlangen.«
»Du könntest lügen«, schlug Eric vor.
»Nein, das kann ich Tom nicht antun. Ich bin ihm die Wahrheit schuldig.« Isabella wischte sich ein paar Regentropfen aus dem Gesicht.
»Also vertraust du ihm doch«, stellte Eric fest.
»Ja, sieht so aus«, murmelte Isabella. Sie hauchte Eric einen Kuss auf den Mund. »Lass uns gehen, bevor Tom anfängt den Wald nach uns abzusuchen.«
»Da bist du ja!« Die Erleichterung in Toms Stimme war unüberhörbar.
Isabella stand tropfend nass in der Eingangstür.
»Geht es dir gut?«, fragte er besorgt.
»Ja, es ist alles in Ordnung«, beruhigte sie ihn. »Ich muss mir etwas Trockenes anziehen.« Sie ging an Tom vorbei.
Nun geriet Eric in Toms Blickfeld, doch er begnügte sich mit einem bösen Blick in Erics Richtung.
Isabella ging leise in ihr Schlafzimmer, um Sunny nicht zu wecken. Diese Mühe hätte sie sich sparen können, denn Sunny saß ängstlich zusammengekauert am Kopfende ihres Bettes.
»Sunny, was ist los?«, fragte Isabella besorgt und eilte zu dem Kind. Sie nahm Sunny in die Arme. Vergessen waren ihre nassen Sachen und auch Sunny schienen sie nicht zu stören.
»Sunny, was ist passiert? Wovor hast du solche Angst?«, fragte Isabella noch einmal.
»Ich habe gehört, wie ihr euch gestritten habt und dann bist du plötzlich mit diesem Mann verschwunden …«
»Ach Kleines, es tut mir leid, dass ich dir Angst gemacht habe. Ich glaube, ich bin dir eine Erklärung schuldig und Tom auch«, stellte Isabella seufzend fest. »Aber vorher brauche ich ein paar trockene Sachen, denn das wird länger dauern.« Sie zog sich um.
»Komm, Sunny.« Auffordernd hielt Isabella dem Mädchen ihre Hand hin. Sunny krabbelte aus dem Bett und ergriff die Hand. Isabella nahm die Bettdecke. Gemeinsam gingen sie in die Küche. Tom lief unruhig hin und her und blickte Isabella ärgerlich an, als sie den Raum betrat.
»Wir müssen reden«, sagte Isabella leise.
»Das glaube ich allerdings auch!«, sagte Tom aufgebracht.
Nun kam auch Eric in die Küche. Er hatte sich ebenfalls umgezogen. Tom funkelte ihn wütend an.
»Setzt euch«, sagte Isabella so ruhig wie möglich.
Sie nahm mit Sunny auf der Eckbank Platz und wickelte das Mädchen fürsorglich in die Decke. Ihren Arm schlang sie um Sunnys Schulter.
»Ich denke, ich bin euch eine Erklärung schuldig«, wandte sie sich an Sunny und Tom.
Sunny sah sie abwartend an, Tom wirkte immer noch aufgebracht.
»Du hattest mit deiner Vermutung recht, Tom. Ich kenne Eric von früher. Allerdings ist er nicht mein Exfreund. Ich bin vor drei Jahren aus Deutschland nach Kanada gekommen. In Deutschland habe ich in einem Umweltforschungsinstitut gearbeitet. Dort bin ich auf die Gefahren aufmerksam geworden, die der Abbau von Methanhydrat mit sich bringt. Ich wollte die Öffentlichkeit warnen, damit der Abbau von Methanhydrat verboten wird. Dabei hat Eric mir geholfen.«
»Du warst an dem Gesetz gegen den Abbau von Methanhydrat beteiligt?«, fragte Tom ungläubig. Staunend sah er Isabella an. Inzwischen hatten auch Kanada und die USA ein Abkommen unterzeichnet, das den Abbau von Methanhydrat an ihren Küsten verbot.
»Ja«, bestätigte Isabella. »Ich musste nach Brüssel zu einer Anhörung. Nur so konnte ein Gesetz verabschiedet werden. Dort erwarteten mich die Gegner des Vorhabens. Sie wollten verhindern, dass ich an dieser Anhörung teilnahm. Ich habe es geschafft, unbehelligt zu der Versammlung zu gelangen und von den Gefahren zu berichten, die der Abbau von Methanhydrat mit sich bringt. Danach haben sie mir aufgelauert. Ich wollte mich mit Eric treffen, der mich in Sicherheit bringen sollte. Aber unsere Verfolger haben mich in die Enge getrieben und mir den Weg zu Eric abgeschnitten. Ich bin Hals über Kopf aus Brüssel geflohen und schließlich hier in Kanada gelandet.«
»Warum hast du nichts davon erzählt? Vertraust du mir etwa nicht?« Tom sah sie gekränkt an.
»Wenn ich dir nicht vertrauen würde, hätte ich schon längst meine Sachen gepackt und wäre mit Sunny verschwunden.« Isabella ergriff Toms Hand. »Ich habe noch nie jemandem davon erzählt, denn ich hatte Angst.« Eindringlich sah sie Tom an.
»Wie ist dein richtiger Name?«
Isabella ließ Toms Hand los. »Ich heiße Isabella.« Eric konnte sehen, wie sie mit sich rang. »Isabella Filanders«, sagte sie leise.
Tom nahm diese Erklärung schweigend zur Kenntnis.
»Sollen wir dich jetzt Isabella nennen?«, erkundigte sich Sunny sachlich. Sie hatte Isabellas Erklärungen bis jetzt gleichmütig gelauscht.
»Nein, ich bin weiterhin Amy.«
»Warum?«, fragte Tom scharf.
»Ich habe immer noch Angst davor, dass diese Männer mich wieder aufspüren könnten«, gab Isabella zu.
»Was hat das für Konsequenzen?«, erkundigte sich Tom.
»Alles geht weiter wie geplant«, erwiderte Isabella. »Wir werden Eric helfen, so gut wir können. Vielleicht ist er in der Lage, etwas gegen ENTAL zu erreichen.«
Beide Männer sahen sie vorwurfsvoll an. Tom war gekränkt, weil sie ihm nicht eher von ihrer Vergangenheit erzählt hatte und Eric war verärgert, weil sie den Eindruck erweckte, er wäre nur ein Bekannter aus früheren Tagen.