Читать книгу Martina und der süße Beat des Herzens - Liz Kortuss - Страница 4

2.Kapitel

Оглавление

Rena sah sie erst am Abend dieses Montags wieder. Elisabeth bereitete einige belegte Brote für sich und die Mädchen zum Abendbrot vor. Richard kam nie vor zwanzig Uhr nachhause. Für ihn würde sie später die Reste vom Mittagessen aufwärmen. Martina grübelte darüber nach ob es richtig gewesen war, Herrmann zum Gitarrenunterricht zu animieren, als sie Renas Stimme unter dem Fenster zum Hof hörte. „Tina? Tina bist du da?“ Martina sprang von ihrem Stuhl auf und öffnete das Fenster. „Servus Rena. Du erinnerst dich also noch an mich?“ „Sei nicht bös. Ich konnte nicht eher kommen, gestern war halt Familientag. Komm doch bitte runter, ich muss dir was ganz Wichtiges erzählen!“ Martina schloss das Fenster wieder, schnappte sich ihre Zigaretten und machte sich auf den Weg. „Aber ausgehen tust heut nicht mehr, Tina, denk dran, du musst früh aufstehen“, ermahnte Elisabeth sie noch. Mit gemischten Gefühlen stand Martina wenig später Rena gegenüber. „Wo hast du denn am Samstag gesteckt? Ich bin mir richtig blöd vorgekommen!“, sagte sie anstelle einer Begrüßung und bemühte sich um einen beleidigten Gesichtsausdruck.

„Ich weiß“, wand sich Rena zerknirscht, „tut mir auch leid aber stell dir bloß vor, was passiert ist!“ Sie machte eine Kunstpause. Ich kann´s mir denken, dachte Martina. Laut sagte sie: „Na was denn?“ Unter Omas Küchenfenster im Hof stand eine Bank. „Komm, hock dich hin und erzähl, aber nicht so laut. Meine Oma braucht nicht alles mitzukriegen!“ Renas Augen begannen zu strahlen und ihr ganzes Gesicht leuchtete. „Du hast doch auch g´ sehen, dass der tolle Typ, dem wir immer begegnet sind, in der Halle war? Als du beim Tanzen warst, hat er mich angesprochen. Ach Tina, es war so bombastisch! Als hätt´ der Blitz eingeschlagen! Wir haben geredet und geredet und dann hat er gemeint, es wär so laut und da sind wir raus aus der Halle, sind gelaufen und haben wieder nur geredet. Er heißt Wolfgang und kommt aus München. Stell dir vor, aus München! Aber jetzt wohnt er hier und will auch hier bleiben. Ich bin ja soo verknallt, Tina. Er ist einfach klasse!“, sprudelte es nur so aus Rena heraus und sie seufzte selig hinterher. In Martina tobte ein Sturm. Also doch! Also doch! I c h werde wohl nie den bekommen, der m i r gefällt! Immer nur die anderen! Ach, ich werde nie mehr was essen, nie nie mehr! Martina bedauerte sich sehr, doch Rena sollte es nicht merken! „Der Wolfgang ist doch bestimmt schon über Zwanzig. Weiß er denn, dass du noch so jung bist?“, fragte sie Rena und kam sich im gleichen Moment wie eine Mutter vor. Das passte ja eh besser zu ihrer Figur! Rena schüttelte den Kopf. „Ich hab mich noch nicht getraut, es ihm zu sagen. Du musst mir helfen, Tina. Ich will Wolfgang doch nicht gleich wieder verlieren!“ „War schon was zwischen euch?“, fragte Tina atemlos. „Geschmust haben wir halt, mehr war nicht. Wolfgang ist nicht... ist nicht so einer. Darf ich meinen Eltern sagen, dass ich bei dir bin, wenn ich mich mit ihm treffe? Ach bitte, Tina!“ Rena sah sie mit einem solch flehenden Blick an, dass Martina gar nicht anders konnte! Ok, aber du musst vorsichtig sein und du musst ihm dein richtiges Alter sagen!“ Rena nickte. „Ich wusste ja, dass du eine tolle Freundin bist. Ich dank dir so! Ich hab Wolfgang schon viel von dir erzählt und er will dich kennen lernen!“ Das hätte er am Samstag schon haben können, dachte Tina ironisch. „Echt?“, fragte sie laut. Rena lachte. „Ja, komm ein Stück mit mir die Straße runter. Er wartet dort auf uns!“ Martina blieb fast das Herz stehen. Sie sollte gleich ihrem Traummann gegenüber stehen? Unmöglich! Sie war nicht geschminkt und überhaupt... Sie musste doch erst das Gehörte verarbeiten und nachdenken. Ach, es war sowieso total egal, von i h r wollte er ja nichts! Rena, die sich über Tinas betretenes Gesicht wunderte, fragte: „Hast du keine Lust?“ „Eigentlich sollte ich heute gar nicht mehr weg“, redete sie sich heraus, „gut, dann aber nur kurz!“ Martina zündete sich eine Zigarette an, als fände sie Halt an ihr. Dann folgte sie ihrer Freundin, die bereits voller Vorfreude auf ihren Wolfgang voraus lief. Als sie auf die Straße hinaustraten, sah sich Martina suchend um. „Er wartet unten beim Bäcker“, beantwortete Rena Martinas stumme Frage, „dort ist er aus dem Blickfeld meiner Eltern!“ Mit jedem Schritt stieg Martinas Nervosität, dabei wollte sie ganz locker sein! In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wollte und sollte sie Rena wirklich helfen? Die wusste doch, wie sehr ich für Wolfgang geschwärmt hatte und jetzt will sie mir ihr Glück vorführen! Martina mochte Rena sehr gerne. Soviel hatte sie bisher mit ihr verbunden und damit sie ihr nicht völlig abhandenkam und sie wenigstens ab und zu diesem Wolfgang nahe sein konnte, so blieb ihr gar nichts anderes übrig. Als die Mädchen um die Kurve bogen, kam ihnen Wolfgang entgegen, nicht ahnend, dass ihm gleich zwei Mädchenherzen entgegenschlugen! Er trug Jeans, ein T-Shirt und einen Blazer mit doppelter Knopfreihe, wie es gerade in Mode war. Sein halblanges, braunes Haar sah gepflegt aus und mit seinen ebenfalls braunen Augen blickte er Rena liebevoll an. Sein Gesicht mit den markanten Zügen erschien Martina nun hagerer als sie es im Gedächtnis hatte und größer schien er in ihrer Erinnerung auch gewesen zu sein. „Du bist also die Tina, grüß dich“, sagte er mit angenehmer Stimme und reichte ihr höflich die Hand. Ihr war nicht bewusst, wie schmachtend sie ihn ansah. „Servus Wolfgang. Das ist ja der Hammer!“, entfuhr es ihr. „Rena hat gesagt, dass ihre Eltern ziemlich streng sind und du uns helfen willst.“ „Na ja“, druckste Martina herum, trat ihre abgerauchte Kippe auf dem Asphalt aus und griff sich ins Haar, „na ja, Rena ist halt...“, Tina räusperte sich ihren Frosch aus dem Hals, „noch ziemlich jung und ihre Alten ziemlich rückständig (sie mögen mir verzeihen!), verstehst du? Ich würde dir schon raten, erst bei m i r anzuklopfen, wenn du sie sehen willst. Aber das geht auch nur, wenn ich Frühschicht hab oder am Wochenende, gell?“ Allein die Vorstellung, dieser himmlische Typ klopfte bei ihr an, war reizvoll. Es beflügelte sie und sie kam sich wichtig vor. Dass im Prinzip ihre Gutmütigkeit ausgenutzt werden sollte, verdrängte sie. „Was hast du denn vorhin zu deinen Eltern gesagt?“, fragte sie Rena. „Dass wir ein bisschen rumspazieren halt!“ „Okay, dann gehst jetzt eben mit Wolfgang spazieren, aber nicht zu lange bitte, ich warte hier auf dich!“ Rena freute sich. „Du bist ein Schatz!“ Wolfgang nickte zustimmend. „Dankschön auch, bis bald dann!“ Er reichte Martina zum Abschied noch einmal die Hand.

Ihre Forschheit war nur gespielt gewesen. Mit wehem Blick sah sie den beiden hinterher, wie sie Hand in Hand die Siedlung verließen und in eine unbewohnte Straße einbogen. Martina steckte sich erneut eine Zigarette an und wandte sich ab. Plötzlich fühlte sie sich wieder allein und ausgegrenzt und sie musste sich eingestehen, dass dieser Zustand nun schon recht lange dauerte. Sicher, ihre Kindheit war sehr behütet gewesen, mit der großen Familie um sich herum in dem engen Siedlungshaus. Tante Lottes Mädchen hatten inzwischen längst ihre eigenen Familien und wohnten längst nicht mehr dort, kamen aber oft zu Besuch. Ebenso wie zwei Onkels, die den Krieg überlebt hatten, mit ihren Familien. Großtanten gab es auch noch. Alle gehörten sie zu Martinas Leben und erst mit zunehmendem Alter begann sie sich nach mehr Freiraum zu sehnen. Als Rückzugsort diente ihr meistens die freie Natur. Bestückt mit einem kleinen Transistorradio mit Frequenz auf RIAS Berlin oder Radio Luxemburg hielt sie sich so oft es ging draußen auf. Im letzten Schuljahr wurden diejenigen, die eine kaufmännische Laufbahn einschlagen wollten, auf Abendkurse geschickt. Auch Martina lernte so auf der Volkshochschule Stenografie und Schreibmaschine. Das war die Zeit wo ihr Körper plötzlich aus dem Leim ging und die Verspottung begann. Dabei war sie immer ganz ordentlich im Sport gewesen und sehr viel am Laufen. Ihre Stimmungen wechselten sich fortan ab von aufmüpfiger Rebellion gegen alles, Trotz oder maßloser Depression. Sie ahnte ja nicht, dass in ihrem Körper die Hormone mit ihr Tango tanzten! Sie sah sich noch mit dem Schicksal hadernd und verzweifelt schluchzend im hohen Gras hinter dem Gartenzaun des Siedlungshauses liegen. Ihre Schulfreundinnen prahlten schon längst von ihren heimlichen Erlebnissen während Martina noch mit Ursel auf den Rummel oder Schlitten fahren ging. Mein Gott, ich will doch auch bloß ein bisschen begehrt werden, dachte Martina. Und wieder: Ich will nie mehr was essen, nie mehr!

„Wann soll ich denn zu dir kommen zum Gitarrenunterricht?“, fragte Herrmann sie am nächsten Tag. „Ach Hermi“, Martina sprach es „Hörmi“ aus, Herrmann klang so altbacken, „das eilt doch nicht. Schau, übermorgen habe ich Berufsschule, dann hast d u Berufsschule, dann ist Wochenende und nächste Woche habe ich Spätschicht!“, dozierte sie. „Dann lass es uns doch auf Samstagnachmittag festmachen.“ Herrmann wollte noch nicht so schnell aufgeben. „Aber nicht diesen, der ist schon verplant!“, entgegnete Martina schnell. „In Ordnung, dann halt dir den nächsten Samstag frei. Glaub ja nicht, Gitarre spielen lässt sich eben mal so fix lernen!“

„Ich brauche zwanzig Mark“, eröffnete Martina am Nachmittag ihrer Mutter. „Du hast doch erst letzte Woche Lohn bekommen und überhaupt, für was brauchst du zwanzig Mark von mir?“ Elisabeth war wirklich erstaunt. Für das Geld konnte sie die halbe Woche ihre Familie ernähren oder die Ratenzahlungen für Martinas Aussteuer abstottern. „Die achtzig Mark, die ich kriege, reichen doch hinten und vorne nicht, das weißt du doch Mutti“, maulte Martina. „Tja, deine Zigarett´chen fressen eben ein ganzes Stück davon auf, gell?“ „Ich will doch auch nur mit den andern mithalten, ich leiste mir doch sonst nix!“, verteidigte sich Martina. „Also, für was brauchst du die zwanzig Mark?“, bohrte Elisabeth nach. „Für ein Diät-Mittel aus der Apotheke. Ich muss einfach ein paar Kilo runterkriegen!“ Elisabeth war entsetzt. „Was? Womöglich mit solchen schädlichen Pillen, wie man immer hört. Davon kannst du Zyklusstörungen oder sonst was Schlimmes bekommen!“ Martina schüttelte den Kopf. „Aber nein Mutti, ich bin doch nicht blöd! Nein, da gibt es ein Weizengel, so ne Art Kleie. Das rührt man mit heißem Wasser an und isst das dreimal am Tag und sonst nichts. Das ist mit allem angereichert, was der Körper braucht, nur kein Fett halt. Ach Mutti, hilf mir doch! Ich will nicht mehr mit „du dicker Mops“ gehänselt werden“, schloss Martina flehend. „Die sowas sagen, sind deiner nicht wert, Tina“, sagte Elisabeth überzeugt, „lach die doch einfach aus!“ Als sie jedoch in das unglückliche Gesicht ihrer Tochter blickte, tat die ihr doch leid und sie lenkte ein. „Na schön, wenn du unbedingt willst. Hoffentlich hältst du das auch durch, da hast du dir ja Einiges vorgenommen!“ Sie griff nach einer Zuckerdose im Buffet, öffnete den Deckel und zog einen Geldschein daraus hervor. „Danke Mutti, danke!“, rief Martina erfreut, „ich lauf gleich zur Apotheke und hole es mir. Ich will so schnell wie möglich damit anfangen!“ „Schon gut, Mädel. Bring mir auch meine Kopfschmerztabletten mit, ja?“ Nachdem Martina gegangen war – Ursel war unten bei Oma Ernestine – setzte sich Elisabeth hin und ließ ihren Gedanken freien Lauf. Als s i e jung war, hatten ein paar Kilo mehr auf den Rippen keine Volksbewegung ausgelöst, zumal es in der Zeit war, in der die meisten Menschen nicht immer satt wurden. Schon in ihrer Kindheit Ende der Zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre war der Vater arbeitslos gewesen wie viele andere mit ihm und Ernestine musste sehr dahinter sein, dass er sein bisschen Stütze nicht gleich in der ersten Woche vertrank. Eine elfköpfige Familie satt zu bekommen, war nicht einfach. Ernestine schaffte es mit deftigem Essen. Ein halbes Pfund Fleisch musste ausreichen für genug Soße, damit alle ihre Klöße darin tunken konnten. Oder es gab belegte Brote mit Gänseschmalz. Reste wurden niemals weggeworfen. Mit Vergnügen gedachte Elisabeth der köstlichen Brotsuppe ihrer Mutter. Später gab es Lebensmittelkarten und alles wurde noch mehr rationalisiert. Niemand kam damals auf die Idee, eine Schlankheitskur zu machen. Schlank wurde man mit der Zeit ganz automatisch! Elisabeth begann, Martinas´ auf dem Tisch liegen gelassene Jugendzeitschrift durchzublättern. Bald blieb ihr Blick an einem jungen Mädchen hängen. Es war sehr schlank, dürr geradezu. Große Augen in einem schmalen Gesicht unter dem kurzgeschnittenen Bob blickten Elisabeth entgegen. Die Ärmchen und Beinchen waren erschreckend mager. „Twiggy“ hieß das Püppchen. Ist die etwa das Vorbild der heutigen Mädchen-Generation? fragte sich Elisabeth alarmiert. Mochte Martina eben ein paar Kilo abnehmen, doch dass sie jemals sooo aussah, würde Elisabeth zu verhindern wissen! Einige Seiten weiter waren die Beatles abgebildet, die kannte sie ja schon. Was die Leute nur hatten? Die konnte man doch nicht als Langhaarige bezeichnen, nur weil sie ihre Haare in die Stirn gebürstet trugen! Elisabeth legte die Zeitschrift zur Seite und stützte ihren Kopf in die Hände. Wenn Martina nur bald zurückkäme! Meine Kopfschmerzen werden langsam unerträglich, wie so oft in letzter Zeit. Es half ja nichts! Sie nahm sich noch einmal den „Fränkischen Boten“ vor und stieß auf einen Artikel, den sie bei der morgendlichen Lektüre überlesen hatte. Darin stand eine Kritik über das Beatkonzert vom Samstag in der Stadthalle. Von kopf- und hirnlosen Jugendlichen war die Rede, die durch die primitive Musik völlig entfesselt in Neandertaler-Manier Mobiliar und Geschirr hemmungslos zertrümmerten. So etwas hatte diese Stadt noch nie erlebt. Da schau her, dachte Elisabeth, von solchen Ausuferungen hatte Martina gar nichts erzählt! War ich doch zu arglos gewesen? Nachdem Martina zurückgekommen war, hielt sie ihr mit vielsagendem Blick die Zeitung unter die Nase. „Diese Seite reißen wir besser raus, damit Vater das nicht lesen kann“, sagte Elisabeth, „sonst könnte es Ärger geben!“ „Aber warum denn?“, wunderte sich Martina. Sie las den besagten Artikel durch. Einmal, zweimal und ein drittes Mal. Dann schüttelte sie empört den Kopf. „Das darf doch nicht wahr sein“, rief sie entrüstet, „die spinnen wohl! Ja, da sind zwei oder drei Tische zusammengekracht, aber das kann doch bei jeder anderen Veranstaltung auch passieren! Jedenfalls hat´s keine Schlägerei gegeben oder sowas. Wir haben nur ausgelassen getanzt. Das muss ich sofort Rena zeigen!“ Bevor Elisabeth den Mund aufmachen konnte, war Martina mit dem Feuilleton der Zeitung schon zur Tür hinaus. Am Gartentor stieß sie fast mit Wolfgang zusammen, so sehr war sie mit ihren finsteren, nach Rache dürstenden Gedanken beschäftigt. „Hoppla Tina, was ist denn los?“, fragte Wolfgang belustigt. „Huch“, machte Martina erschrocken, „du bist´ s! Passt gut, dass du da bist, ich wollte sowieso gerade zu Rena rauf. Da, les das inzwischen, ich bin gleich wieder zurück!“ Sie drückte dem verblüfften Wolfgang das Blatt in die Hand und eilte davon. Kaum eine Minute war vergangen, als sie schon bei Rena klingelte. Als diese nach dem Öffnen der Haustür ihre Freundin sah, huschte ein freudiges Lächeln über ihr Gesicht. „Du Mutti, die Tina ist da“, rief sie ins Haus hinein, „ich gehe noch eine Stunde zu ihr runter.“ „In Ordnung, aber zum Abendbrot bist´ wieder zurück!“ Rena zwinkerte Tina zu. Während die beiden die wenigen Häuser, die ihr Zuhause voneinander trennten, passierten, erzählte Martina Rena von dem Zeitungsartikel. Sie tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. „Der hat sie doch nicht alle, so einen Mist zu schreiben. Wahrscheinlich ist das so ein verknöcherter alter Sack! Dem werde ich aber die passende Antwort geben, Rena!“, ereiferte sie sich. Mittlerweile hatten sie Wolfgang erreicht. „Du willst einen Leserbrief schreiben, Tina?“, fragte er, denn er hatte ihre nicht gerade leise gesprochenen letzten Worte gehört. „Das glaubst´ aber“, antwortete sie, „kommt, wir laufen noch ein Stück runter.“ Bald erreichten sie die Kreuzung zur unbewohnten Straße. Hier, wo die Luft rein war, umarmte er Rena und küsste sie liebevoll. Tina blutete schier das Herz. „Wann willst du denn den Leserbrief schreiben?“, fragte er Tina später.

„Na gleich morgen in der Spedition. Heut werde ich mir noch überlegen, was ich antworte!“ „Super. Wann hast du Feierabend?“ Tina sagte es ihm verwundert. „Okay, dann hol ich dich ab und bring den Brief danach sofort zur Redaktion, einverstanden?“ „Das wär toll“, rief sie begeistert. „Sehr geehrte Damen und Herren der Redaktion“, begann Martina auf ihren Block zu schreiben. Sie saß unten in Tante Charlottes Stube, weil sie dort die Ruhe zum formulieren ihres Textes fand. Martina strich den Begrüßungssatz wieder durch. So begann man keinen Leserbrief! Sie setzte den Stift erneut an: Ihre Kritik über das Beatkonzert hat mich sehr verwundert, weil ich Journalisten bisher für neutral eingestellte, aufgeschlossene Menschen hielt, die sich niemals im Ton vergreifen. Der Musikgeschmack ändert sind aber offensichtlich Vorurteile nicht. Man kann doch nicht so weltfremd sein und wegen einer Handvoll Jugendlicher alle anderen Konzertbesucher über einen Kamm scheren! Gehen nicht bei anderen öffentlichen Veranstaltungen auch mal Tische oder Gläser zu Bruch? Gab es Schlägereien oder Verletzte? Nein! Ich denke, dass der Etat der Stadt nicht überstrapaziert wurde, im Gegenteil. Was hat man denn für uns, die wir nun mal die Beatmusik so sehr lieben wie andere die Blasmusik, bisher getan? Sehen Sie sich ruhig um. Glauben Sie, dass im Zeitalter des Radios und Fernsehens die Veränderungen an der Stadtmauer abprallen? Es gab und gibt in jeder Generation schwarze Schafe und nur weil wir Beatmusik lieben, gehören wir noch lange nicht dazu! Wenn Sie das nächste Mal im feinen Stadtpark-Café zu Ihren Lieblingsklängen tanzen, denken Sie bitte an uns. Denn für uns gibt es keinen Platz dafür! Wow, dachte Martina, das hat was. So lass ich es stehen! Später zeigte sie Elisabeth ihr Werk, sie brauchte unbedingt ein Echo! „Du willst das wirklich in die Zeitung bringen?“, fragte diese sie mit gemischten Gefühlen. Sie kannte Martinas ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, doch was würde sie schon erreichen? Noch nie war Martina gern so früh aufgestanden wie am nächsten Morgen. Sie fühlte sich beflügelt wie lange nicht mehr. Statt in der Pause mit Herrmann im Aufenthaltsraum eine Zigarette zu rauchen, hämmerte sie in der Telefonzentrale bei Frau Engelbrecht in die Tasten einer uralten Schreibmaschine. Pünktlich um Zwei erschien Wolfgang, zur Verwunderung Frau Engelbrechts und Herrmanns, der mit pikiertem Gesichtsausdruck durch die Trennscheibe glotzte. „Servus dann, bis übermorgen“, verabschiedete sich Martina, betont fröhlich in die Runde winkend. Insgeheim bedauerte sie, nur ein kurzes Stück mit Wolfgang zusammen gehen zu können, weil sie bald in ihren Abkürzungspfad einbiegen musste. Ausgerechnet heute hatte ihre Mutter etwas vor und sie sollte ein Auge auf Ursel haben! Wolfgang blieb unterwegs stehen und las Martinas Leserbrief durch. „Mei ist der guat“, entfuhr es ihm in reinem Münchner Dialekt, „Respekt Tina. Die werden sich wundern!“ „Meinst wirklich?“, fragte Tina glücklich. Sie hätte noch viel mehr getan, um ihm zu imponieren! Wolfgang nickte. „Spitzenmäßig. Also, ich liefere ihn gleich in der Redaktion ab und treffe mich dann mit Rena!“ Er reichte ihr die Hand. Sie wollte ihn noch nicht so schnell gehen lassen. Außerdem strampelte Herrmann gerade auf seinem Fahrrad an ihnen vorbei und schielte zu ihnen herüber! „Arbeitest du eigentlich irgendwo?“, fragte sie Wolfgang. Der zog überrascht die Brauen hoch und schüttelte, etwas verlegen fast, seine braune Mähne. „Ich bin ja erst seit vier Wochen hier und hab noch nichts gefunden, aber ein wenig Gespartes hab ich noch“, antwortete er. „So“, machte Tina und ohne zu überlegen sprudelte es aus ihr heraus, „soll ich mal bei uns in der Spedition nachfragen? Im Lager suchen sie immer mal wieder jemanden, ich meine, falls du sowas machen willst. Du müsstest halt in der Früh anfangen. Vielleicht kannst du ja auch eine andere Arbeitszeit aushandeln. Tagsüber kommen auch einige LKW´ s an, die auf- oder abgeladen werden müssen!“, redete sie sich in Eifer. Wolfgang dachte nach. In seinem Gesicht arbeitete es. „Das würdest du für mich tun? Ja, wenn das ginge, tät ich´s schon machen!“ Tina freute sich. „Klar doch, ich gebe dir dann Bescheid, gell?“ „Danke Tina, du bist klasse. Aber jetzt muss ich los. Servus dann!“

Martina schwebte geradezu nachhause. Sie fand das Leben wieder schön und aufregend. Daran konnte auch die fade Kleie-Pampe nichts ändern, die sie später tapfer herunterschlang. Man konnte ja so Vieles erreichen, wenn man nur wollte!

Währenddessen war Wolfgang Hartmann auf dem langen Weg in die Innenstadt unterwegs. Wie seltsam sich doch alles für ihn entwickelt hatte! Er hatte überhaupt nicht vorgehabt, lange in dieser Stadt zu bleiben. Mit seinem Vater hatte er sich vor einem halben Jahr überworfen. Der war alles andere als begeistert gewesen, dass sein Sohn sein Jurastudium hinschmiss und nicht zu wissen schien, welchen Weg in die Zukunft er einschlagen wollte. Wolfgang hatte darauf bestanden, wenigstens ein Jahr Auszeit zu nehmen. „Du wirst schon sehen, wo das hinführt“, hatte sein alter Herr nach dieser Eröffnung losgepoltert, „glaub ja net, dass ich dich dabei unterstütz! Ich halt´ doch keinen Gammler aus!“ Die Mutter war nachsichtiger gewesen und hatte ihm heimlich tausend Mark zugesteckt. Da er die Münchner Szene nur zu gut kannte und die Mieten rasant stiegen, ging er nach Nürnberg. Er war dorthin getrampt mit nur einem Koffer, voll mit dem Nötigsten. Die ersten Tage hatte er in der Bahnhofsmission übernachtet, bis er ein billiges, möbliertes Zimmer fand. Es lag in der Nähe des Rotlichtviertels bei der Burg. Wolfgang hatte sich hauptsächlich vom Schnellimbiss ernährt, seine Wäsche im Waschsalon gewaschen und sich nur eine schicke neue Schlaghose gegönnt, denn trotz allem wollte er gepflegt aussehen. Oft unternahm er Streifzüge durch die wie Pilze aus dem Boden schießenden Clubs. In einem davon hatte er sich mit einem etwa gleichaltrigen jungen Mann angefreundet. Werner stammte aus Kulmbach und spielte in jenem Live-Club mit seiner Band. Durch ihn hatte Wolfgang mit einem Schlag ein interessantes Völkchen, das sich als Fangemeinde um Werners Band scharte, kennen gelernt. Dadurch war endlich angenehme Abwechslung in sein Leben gekommen. Aber die kostete natürlich auch Geld und so schrumpfte sein Vorrat schneller zusammen, als ihm lieb war. Werner, der Wolfgangs Geschichte kannte und nun auch dessen Misere, beriet sich während einer Spielpause im Club, der fast wie eine Zweitwohnung für Wolfgang geworden war, mit ihm. „Tja, mit deinem abgebrochenen Studium und ohne Ausbildung wirst´ es schwer haben, irgendwo angestellt zu werden. Kannst´ mit irgendwas Musik machen?“ Wolfgang hatte lachen müssen. „Flöte spielen hab ich lernen müssen“, hatte er geantwortet. „Du, lach net. Kennst´ net die „Jethro Tull?“. Das kann sich ganz fetzig anhören. Na ja, aber a bissla mehr als Hänschen klein solltest du schon drauf haben. Und heim willst´ a net?“ Wolfgang hatte den Kopf geschüttelt. „Na, so bald net und ich lass mir noch alles offen!“ Werner hatte überlegt. Dann war er ein wenig näher an Wolfgang herangerückt und hatte mit gedämpfter Stimme gesagt: „Ich hab´ von einem Typ gehört, der mit LSD und Hasch dealt. Vielleicht könntest du bei dem einsteigen. Das soll recht einträglich sein. Soll ich an Kontakt herstell´ n?“ Darauf hatte Wolfgang Werner entgeistert angesehen. „Traust du mir sowas wirklich zu? Ich dachte, du kennst mich mittlerweile! Mit so einem Dreck hab´ ich nichts am Hut!“, hatte er sich ereifert. Werner hatte zu besänftigen versucht: „Tschuldigung, Zugetraut hätt ich dir das net wirklich. Ich dachte bloß wegen der Kohle. Da wird eben so Mancher schwach!“ Wolfgang hatte nichts erwidert, nur starr vor sich hin geblickt. „Weißt du was, Wolfi? Dann gehst´ halt noch die paar Monat zu meiner Tante rauf an die Zonengrenze. Dort ist`s billig und viel Fabriken gibt´s dort a, dort findest du garantiert was und ich ruf meine Tante an, dass sie dir mein altes Zimmer für umsonst gibt! Gehst ihr eben a bissla zur Hand, weil die Jüngste is sie a nimmer. Aber wie gesagt, sehr liberal. Und die Stadt is a net so übel. Besuchen tät ich dich a bald kommen!“ So war Wolfgang an der Zonengrenze gelandet und zu seiner Überraschung war die mittelgroße Textilstadt nicht so trostlos wie befürchtet. Auch die Umgebung war ganz idyllisch, außerdem kam man mit den Leuten schneller in Kontakt als in einer Großstadt. Billig lebte es sich hier wirklich und Dank Werners warmer Empfehlung wohnte Wolfgang mietfrei bei dessen Tante. Gut, das Zimmer war kein Kracher, karg und altmodisch möbliert, doch Wolfgang nutzte es sowieso überwiegend nur zum Schlafen. Alles in allem gefiel es Wolfgang recht gut und noch besser, nachdem er die süße Rena und ihre drollige Freundin Tina kennen gelernt hatte. Falls es noch mit einem Job klappen sollte, konnte er dem kommenden Winter sorglos entgegen sehen!

Es war ein erhebendes Gefühl für Martina, ihren geistigen Erguss in der Zeitung abgedruckt zu sehen, obwohl sie sich darüber ärgerte, dass man ihre Kritik über die Journalisten einfach gestrichen hatte. Sie genoss die Bewunderung, die ihr von ihrer Clique und den Freunden aus der Berufsschule für ihren Mut, sich gegen die Diskriminierung aufzulehnen, gezollt wurde. Sogar der eingebildete Günther von den „Scooters“ lobte sie: „Das war wirklich Zeit, dass mal jemand den „Großkopferten“ die Meinung geigt! Die leben ja, was uns betrifft (er sagte wirklich u n s) hinter dem Mond!“ Vor allem wurmte es ihn, dass seine Band mit keinem Wort erwähnt worden war. In dieser Phase der großen Euphorie blieb Martina standhaft und löffelte weiter tapfer ihren Kleie-Brei. Zwei Kilo hatte sie in dieser kurzen Zeit schon abgenommen und ein paar Gramm davon stammten ganz bestimmt aus ihrem Gesicht! Als am Montag der Briefträger kam, überreichte er Martina einen ganzen Stapel. „Na Tina? Kriegst´ schon Fanpost?“, witzelte er. „Ich werd´ s gleich wissen“, entgegnete Martina und lief mit ihrer Post zur Wohnküche hinauf. Dort war sie ungestört. Ursel war in der Schule und Elisabeth bei einer ihrer Putzstellen. Schade, dass sie Rena nicht dazu holen konnte, aber die drückte auch noch die Schulbank. Voller Spannung las Martina die Briefe durch. Bis auf einige wenige enthielten die meisten unglaubliche Hasstiraden, sodass ihr schier der Atem stockte. Sie solle froh sein, nicht mit ihrer „Gammlerbande“ aus der Stadt gejagt zu werden, oder sie solle doch mit ihren „langhaarigen Affen“ dorthin gehen, wo sie hingehörten. Nämlich in den Urwald. Es kam noch schlimmer: „Sowas hätten Sie sich beim Adolf nicht trauen dürfen! Ins Lager hätte der Sie gesteckt und Ihre bedauernswerten Eltern dazu!“ Martina war schockiert. Natürlich waren diese Briefe anonym abgefasst worden. Diese Feiglinge! Und sowas nannte s i e primitiv! Die konnten freilich noch von ihrem Adolf reden. Von denen hatte keiner sein Zuhause verloren oder die Heimat verlassen müssen! Am liebsten hätte sie die Arbeit geschwänzt, um mit Wolfgang und Rena über die Briefe zu reden aber das ging ja nicht, weil sie Wolfgang zu einem Job verhelfen wollte. So lief sie zu Oma Ernestine hinunter und erzählte ihr den Inhalt der Briefe. Ernestine schwieg eine Weile und sagte dann: „Die haben auch nichts gelernt! Weißt du, Tina, die Menschen hier sind schon ein spezielles Volk für sich. Damals als wir hierher kamen, haben sie sich ablehnend und anmaßend verhalten. Dabei waren wir auch Deutsche, hatten die gleiche Kultur und Religion. Wir wollten zusammenbleiben aber niemand hatte Platz für sechs Erwachsene und drei Kinder. Dein Vater und deine Onkels waren noch in Gefangenschaft. Uns blieb nur das Barackenlager oder die Räume der Spinnerei, in denen du später geboren wurdest!“ erzählte sie. „Warum seid ihr denn nicht woanders hingegangen?“, fragte Martina, „ich würde nicht bleiben wollen, da, wo man mich nicht will!“ „Ach Mädel, ich war ja eine Zeit lang sehr krank, hatte Typhus und deine Mutter und Tante Lotte hatten ziemlich schnell Arbeit in der Spinnerei gefunden. Außerdem war es damals überall so. Viele Flüchtlinge wurden auf Dörfer verteilt. Dort hätten wir vielleicht anfangs mehr zu essen gehabt, aber in der Stadt gibt es doch mehr Möglichkeiten. Mit der Zeit hatten sie sich ja an uns Fremde gewöhnt und gemerkt, dass wir keine Hottentotten sind. Du musst dich nicht aufregen, Tina. Die werden auch noch feststellen, dass du und deine Freunde keine Affen seid. Alles geht vorüber, Tina, alles!“ Etwas später rührte sich Martina wieder ihre Kleie-Suppe an und würgte sie mit Verachtung hinunter. Ein Stück kindliche Unbeschwertheit war ihr durch diese bitterbösen Briefe genommen worden. Ohne sich im Augenblick darüber bewusst zu sein, hatten sie den Keim in ihr gelegt, diese Stadt eines Tages zu verlassen.

Bevor sie zur Spedition hinauf musste, kam ihre Mutter zurück. Ihr Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck und Martina fragte erschrocken, was mit ihr los war. „Ich habe schreckliche Kopfschmerzen, ich halt ´s bald nimmer aus! Langsam glaub´ ich, da steckt was Ernstes dahinter!“, jammerte sie. „Denk bloß nicht sowas, Mutti! Wenn ich nachher im Büro bin, mach ich gleich einen Arzttermin für dich. Vielleicht brauchst´ ja nur eine Brille. Du sagtest doch schon länger, du tätest nicht gut sehen!“, versuchte Martina zu trösten. „Ich leg mich gleich hin, ich kann jetzt nichts kochen!“, klagte Elisabeth. „Mach dir keine Gedanken, die Oma hat bestimmt einen Teller Suppe für Ursel übrig. Ich sorge dafür!“

Martina und der süße Beat des Herzens

Подняться наверх