Читать книгу Martina und der süße Beat des Herzens - Liz Kortuss - Страница 5

3.Kapitel

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Das würde keine angenehme Woche werden! Wenn alles gut lief, würde sie um halb Elf zuhause sein können und da war auch nichts mehr los, weil alle schon schliefen. Selten freute sie sich auf ihren Berufsschultag, außer wenn sie Spätdienst hatte. Dazu kam, dass sie mit Stefan Meyer zusammenarbeiten musste, der sie beim kleinsten Flüchtigkeitsfehler zur Schnecke machte! Zum Glück musste sie Herrmann nicht begegnen, weil der nochmal eine Woche Frühschicht schob, mit Elsbeth. Herr Brunner hatte sich krank gemeldet. Um bei Stefan nicht anzuecken musste sie sich völlig auf die Arbeit konzentrieren und durfte nicht mehr an die hässlichen Briefe denken. Zu ihrer Verwunderung sagte er jedoch: „Wir haben deinen Zeitungsartikel gelesen, Tina, nicht schlecht. Du traust dich fei was!“ Martina errötete wegen des plumpen Komplimentes. Nie hätte sie das dem Stefan zugetraut. „Die ersten Reaktionen sind heute Morgen mit der Post gekommen“, erzählte sie deshalb freimütig, „ein paar waren ganz nett, aber der Rest...na ja, ich sag´s dir“, endete sie mit einer abwinkenden Handbewegung. Stefan grinste. „Da scheinst du einigen ganz schön auf den Schlips getreten zu sein. Mach dir nix draus. Man kann es nicht allen recht machen!“, sagte er. „Kann sein“, antwortete Martina, „doch sowas Boshaftes hab ich noch nie erlebt!“ „Tja die Welt ist eben schlecht. So, jetzt darfst´ aber ein paar Angebote tippen. Unser Akquisiteur hat wieder neue Aufträge für uns ergattert.“ Damit war das Thema Leserbrief für Stefan erledigt. Später, als sie eine kleine Pause hatte, erledigte sie in der Telefonzentrale einen raschen Arzttermin für ihre Mutter und lief dann den langen Gang hinab, an dessen Ende eine Stahltür zu den Lagerräumen führte. Dort wurden gerade zwei Fernlaster entladen. Herr Preisinger, der Leiter des Umschlaglagers, prüfte gerade die Frachtpapiere der unzähligen Paletten und Gitterboxen nach den Zielorten, um die Fracht auf die dafür zuständigen Nahverkehrs-LKW s umladen zu lassen. Für die Fahrer der Fern-Sattelzüge war mit dem Andocken an die Rampe auch schon der Feierabend gekommen- Die durften sich jetzt in den Aufenthaltsräumen im Souterrain duschen und bis zur nächsten Abfahrt auf den schmalen Liegen ausruhen, falls sie nicht anderen Freizeitvergnügungen nachgehen wollten. „Herr Preisinger, hätten Sie mal zwei Minuten Zeit für mich?“, rief Martina. Der hochgewachsene Mann mit den dunklen, kräftigen Haaren, sah fast unwillig von seinen Papieren auf. „Na, dann macht mal genau zwei Minuten Pause“, knurrte er seine Lagerarbeiter an. Niemand nahm es ihm krumm, denn hinter seiner poltrigen Art verbarg er sein gutes Herz. Das wusste auch Martina. „Also Herr Preisinger, es ist so“, begann sie verlegen, „der Freund meiner Freundin ist noch nicht lange hier. Er kommt aus München und sucht Arbeit. Er heißt Wolfgang Hartmann, ist Mitte Zwanzig und kräftig. Wolfgang hat zwar die Haare a bissla länger – wies heut halt so ist – aber er ist ein feiner Kerl. Wir könnten doch bestimmt noch Jemand im Lager brauchen?“ Herr Preisinger musste unwillkürlich über Tinas Eifer schmunzeln. Sie hatte jedoch Recht. Die Fluktuation, gerade bei den Lagerarbeitern, war wirklich sehr hoch. „Was hat er denn sonst so gearbeitet?“, fragte er. Martina erschrak. „Oh, das weiß ich net mal, nur dass er es wirklich will, wo man doch immer sagt, alle Langhaarigen seien Gammler! Könnten´ s net ein gutes Wort für ihn beim Chef einlegen?“ Herr Preisinger lachte. „Also dann schick mir deinen verhinderten Gammler halt vorbei, damit ich ihn mir anschauen kann!“, erwiderte er. Martina strahlte über ihr ganzes Gesicht. „Vielen Dank Herr Preisinger, ich werd´ s ihm ausrichten. Vielen Dank!“ Immer noch strahlend drehte sich Martina schwungvoll um und rempelte fast mit Adi zusammen. Der war Fernfahrer und pendelte seit einiger Zeit regelmäßig zwischen dem Stammhaus im Ruhrgebiet und der Filiale in Oberfranken hin und her. Pech, dass sie ihm begegnen musste! Wenn er hier war, latschte er ihr neuerdings wie ein Hündchen hinterher und schmachtete sie an. Manchmal brachte er ihr sogar kleine Aufmerksamkeiten von unterwegs mit. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte, denn soweit ihr bekannt war, war Adi verheiratet. Selbst wenn er frei gewesen wäre...ach, Martina interessierte sich eben nicht für ihn. Mancher Frau mochte er bestimmt gefallen, schlank und drahtig wie er war, mit schmaler Taille und seiner fast südländisch anmutenden Ausstrahlung. Sein dichtes schwarzes Haar, seine dunklen Augen und der stets gebräunte Teint erinnerten eher an einen Piraten als an einen Ruhrpott` ler. „Hallo Tina“, sprach er sie mit seiner tiefen Stimme an, „wollen wir noch was zusammen trinken gehen, wenn du Feierabend hast?“ Martina strahlte jetzt nicht mehr. Ihre Miene wurde hochmütig, denn wohin ihre einstige unverbindliche Freundlichkeit geführt hatte, begriff sie mittlerweile. „Spinnst du? Meine Eltern täten mir was husten! Musst du denn nicht bald wieder losfahren?“ Er schüttelte den Kopf. „Erst morgen früh. Ich muss meine acht Stunden Pause einhalten. Darf ich dich dann wenigstens heimfahren?“ Er sprach immer isch statt ich und disch statt dich! Tina lachte spöttisch. „Womit denn? Ich kann deinen Ferrari nirgends sehen!“ Adi, mit dem klangvollen Namen van Dyk, lachte auch. „Mit meiner Zugmaschine natürlich. Die hat sogar noch ein paar PS mehr unter der Haube, wenn dir nur daran etwas liegt!“ „PH!“, machte Martina. Dann überlegte sie. Der Stefan würde sie bestimmt nicht heimfahren und der andere Disponent arbeitete sicher länger wegen der Übergabe an die Frühschicht. Über den Trampelpfad mochte sie in dieser stockdunklen Nacht auch nicht laufen. Heute, da Adi im Lande war. Womöglich schlich er ihr wieder hinterher! Da war sie auf dem Bock schon sicherer. Schließlich brauchte er ja beide Hände fürs Lenkrad! „Okay, du darfst mich nachhause fahren aber bilde dir bloß nichts darauf ein!“ Sie sagte es in huldvoller Manier, wie eine Königin, die ihrem Lakai einen Auftrag erteilt. „Jetzt muss ich aber wieder zurück, sonst kannst du später Hackfleisch durch die Gegend fahren!“ „Ich freu mich!“, antwortete Adi glücklich und sah Tina hinterher. Wie er dieses dralle Mädchen mochte! Sie war so herzerfrischend und süß! Er sehnte sich nach nichts mehr als sie einmal in seinen Armen halten zu dürfen, aber er wusste auch, dass er behutsam vorgehen musste! Auf Martina wirkte er suspekt. Obwohl sie ihn nie beachtete, wenn er ihr hinterher lief, ließ er es nicht bleiben. Zwar träumte sie davon, begehrt zu werden aber doch nicht so auf diese Art von Katz- und Maus-Spiel! Adi war nie zudringlich geworden, nervte jedoch sehr. Die Luft knisterte schier von aufgestauter Elektrizität wenn er in ihrer Nähe war. Er war das Raubtier und s i e seine Beute. Noch lauerte es mit hungrigem Blick im Hinterhalt und wartete auf den passenden Moment, wo es sich auf sein hilfloses Opfer stürzen konnte! Genauso empfand es Tina, aber hilflos war sie durchaus nicht! Als sie kurz nach 22.00 Uhr das Gebäude verließ und auf den Hof hinaus trat, wartete Adi bereits in lässiger Pose neben der Motorhaube seiner Zugmaschine. Er trug Jeans und ein kariertes Flanellhemd und lächelte ihr entgegen. Martina erwiderte dieses Lächeln nicht. Aus keiner Miene, durch kein Wort von ihr sollte er auch nur einen Hauch von Entgegenkommen deuten! Vielleicht sollte sie wieder zurückgehen und Stefan bitten, sie heim zu fahren. Sie nagte an ihrer Unterlippe. Wenn sie Unsicherheit zeigte, wer wusste schon, was Adi daraus schloss? Adi öffnete die Beifahrertür und half ihr galant auf den Sitz. Während er das Fahrzeug umrundete und sich geschmeidig wie eine Katze auf den Fahrersitz schwang, zündete sich Martina eine Zigarette an. „Hast du für misch auch eine?“, fragte er in einem Tonfall, als wollte er ihr einen Heiratsantrag machen. Damit bei der Übergabe einer Zigarette nicht versehentlich eine Berührung zustande kam, reichte ihm Martina gleich die ganze Packung hin. Adi fischte sich – Martina anhimmelnd – eine Zigarette. Verlegen drehte sie rasch ihr Gesicht weg und kurbelte das Seitenfenster etwas herunter. Ja, wenn WOLFGANG sie so ansehen würde! Gut, er war nicht an ihr interessiert, doch deswegen schmiss sie sich nicht gleich dem Nächstbesten an den Hals! Endlich startete Adi den Motor und das Führerhaus vibrierte. Bald fuhren sie in gemäßigtem Tempo durch die nächtlichen Straßen. „Du Tina, wenn ich das nächste Mal komme, häng ich einen Tag dran und wir beide machen uns eine schöne Zeit, ja?“, sagte Adi. Martina erschrak. Fast verschluckte sie sich am Rauch! „An der nächsten Kreuzung musst du links abbiegen“, antwortete sie nur darauf. „Du bist also einverstanden?“ Adi freute sich sichtlich. Martina schüttelte verwirrt ihren Kopf. „Naa, überhaupt net! Ich hab überhaupt keine Zeit und du sollst dir, verdammt nochmal, keine Hoffnungen machen!“ Adi blieb gelassen. „Die mach ich mir nicht“, log er, „ich mag dich halt, ist das so schlimm?“ „Hast du denn kein schlechtes Gewissen deiner Frau gegenüber?“, fragte Martina empört. „Warum? Was hat meine Frau damit zu tun?“, lautete seine trockene Gegenfrage. Martina stieß die Luft aus. „Also weißt du, ich will sowas nicht hören!“ Gott sei Dank waren sie ihrer Siedlung schon recht nahe gekommen. „Du hast ja noch ein paar Tage Zeit zum Überlegen“, tröstete er. „Wenn ich gewusst hätt, dass du eine Gegenleistung von mir erwartest, hätt ich mich nicht von dir heimfahren lassen!“, entgegnete sie schroff. „Da vorn kannst du übrigens anhalten. Die paar Schritte kann ich gerade noch laufen. Außerdem brauchst du mit deinem Brummi nicht gleich die ganze Siedlung aufzuwecken!“ Sofort drosselte Adi das Tempo und lenkte gegen den Bordstein. „Du musst vor mir keine Angst haben, ich tue dir schon nichts. Ich würde mich jedenfalls freuen!“ Martina war froh, endlich aussteigen zu können und stieß hastig die Tür auf. „Danke fürs Heimbringen“, rief sie im Herabspringen, „gute Nacht!“ „Gute Nacht Mädchen, schlaf gut!“ rief Adi ihr durchs Seitenfenster nach, denn sie hastete bereits über die Straße. Er blickte ihr nach, bis er sie nach einer Biegung nicht mehr sehen konnte. Erst dann startete er ein Wendemanöver. Sie ist so drollig, dachte er, und sie hat Angst vor der Liebe!

Martina strengte sich an, so schnell wie möglich den Rest des Heimwegs hinter sich zu bringen. Dabei drehte sie sich immer wieder misstrauisch um, ob sie wirklich nicht verfolgt wurde. Erst als sie das LKW-Motorengeräusch in der Nacht verklingen hörte, normalisierte sich ihr Puls wieder! In dieser Nacht träumte sie schlecht. „Geht doch in den Urwald, ihr Affen, dort gehört ihr hin“, riefen ihr Stimmen zu. Und: „Fortjagen sollte man euch!“ Herr Preisinger lachte dröhnend. „Bring mir deinen Gammler nur her, den steck ich in ein Arbeitslager, ho ho ho!“ Plötzlich spürte sie eine eigenartige Beklemmung. Martina sah sich durch einen dunklen Wald gehen und das Herz klopfte ihr bis zum Hals. Dann bemerkte sie eine große Schlange sich neben ihr einen Baumstamm hinabwinden. Deren Haut war dunkel und glänzte und sie zischelte ihr zu: „Ich tue dir nichts, ich tue dir nichts, ich mag disch doch!“ Tina ekelte sich und war fasziniert zugleich. Sie antwortete: „Ich bin nicht hilflos!“ Dann wachte sie auf. Ihr erster Blick fiel auf ein Beatles-Poster und sie lächelten auf sie herunter. Sofort fühlte sich Martina besser. Sie war allein im Schlafzimmer. Weder ihren Vater, noch ihre Mutter und Ursel hatte sie aufstehen gehört. Sie streckte ihre Glieder und schwang sich aus dem Bett. In der Wohnküche lag auf dem Tisch der Zettel, den Martina ihrer Mutter vor dem Zubettgehen mit einer Nachricht versehen hinterlassen hatte. Nun hatte Elisabeth mit ihrer krakeligen Handschrift etwas hinzugefügt. „Bin bei Doktor Kronberg. Danke. Bis bald, Mutter!“ In der Stube war es gemütlich warm. Da es nachts schon ordentlich frisch geworden war, hatte ihr Vater fürsorglich den Kohlenofen, der neben dem Gasherd stand, angeheizt bevor er zur Arbeit gegangen war. Martina öffnete prüfend die Klappe des Ofens. Die Braunkohle glühte noch, trotzdem füllte sie noch eine Handschaufel voll mit Wärme bringenden Eiern in die Glut. Dann öffnete sie die Tür zum Flur, damit die Wärme hinausströmen konnte und ihr die Waschprozedur angenehmer machte. Später mischte sie ein paar Löffel von ihrer Weizenkleie mit Joghurt und goss Kirschsaft aus einem Einweckglas darüber. Das war ihr Frühstück. Sie genoss diese Augenblicke, wo sie ganz allein sein konnte, doch es dauerte nicht lange und ihre Mutter kam nachhause. Sie wirkte erleichtert. „Du hast Recht gehabt, Tina. Doktor Kronberg hat einen Sehtest mit mir gemacht und mich zum Augenarzt überwiesen. Ich brauch tatsächlich eine Brille.“ „Siehst du! Man muss nicht immer gleich das Schlimmste annehmen“, freute sich Martina. „Ich hab schon immer Angst vor Ärzten gehabt“, gestand Elisabeth. „Na, wenn ich mir vorstelle, wie die noch vor fünfzig Jahren vorgegangen sind – besonders die Dentisten - kann ich dich ja sogar verstehen“, räumte Martina ein, „mittlerweile haben die doch ordentliche Fortschritte gemacht und deine Kopfschmerztabletten haben sie auch erfunden, nicht?“, fügte sie schelmisch hinzu. Bald darauf brachte der Postbote wieder ein paar Briefe für sie. Einer kam aus dem Rathaus. „Schau mal, der Oberbürgermeister schreibt dir“, staunte Elisabeth, zwischen Bewunderung und Sorge schwankend. Auf das Schlimmste gefasst, las Martina diesen Brief zuerst. Er war sehr höflich abgefasst. Der Herr Oberbürgermeister warb um Verständnis für die Presse, kritisch zu sein sei nun mal deren Job. Gewiss, man hätte sich freundlicher ausdrücken können aber sie solle sich das Gedruckte nicht so zu Herzen nehmen. Selbstverständlich habe er auch Verständnis für die heutige Jugend. Schließlich sei er selbst einmal jung gewesen und erneut bat er um Verständnis für die finanzielle Situation der Stadt. Gerade im Zonenrandgebiet hätte man es nicht leicht und versuche trotzdem das Beste. Dass man nicht für jeden Geschmack entsprechende Einrichtungen schaffen könne müsse eingesehen werden denn das täte wirklich den Etat sprengen. Der Oberbürgermeister wünschte Martina noch alles Gute und grüßte sie formvollendet. Mit gemischten Gefühlen blieb sie zurück. Für sie war das Wort Verständnis zu oft gefallen. Vielleicht sollte sie diesen Brief ebenfalls in der Zeitung abdrucken lassen, damit die Alt-Nazis auch Verständnis aufbrächten! Da es in den meisten Privathaushalten noch kein Telefon gab – in ihrem schon gar nicht – schrieb Tina einen Brief an Rena. Den wollte sie später auf dem Weg zur Arbeit in deren Briefkasten werfen. Hoffentlich wahrten Renas Eltern das Briefgeheimnis! Sie schrieb ihr von Wolfgangs bevorstehendem Vorstellungsgespräch und er es auch wirklich wahrnehmen sollte. Alles Weitere dann morgen nach der Berufsschule in der Flipperbar! Sie bekam heute noch einmal Post.

Als sie später durch die Telefonzentrale zum Disponenten-Büro gehen wollte, hielt Frau Engelbrecht sie auf. „Warte mal Tina, ich soll dir noch einen Brief von Adi geben. Den hat er in der Früh bei einem Lagerarbeiter abgegeben!“ „Was will d e r mir denn schreiben?“, fragte Martina, unangenehm berührt. Susanne Engelbrecht lachte. „Weiß ich´s? Les ihn halt, dann weißt´ es selber! Aber wenn ich dir einen Rat geben darf Tina, halt dich ein bisschen zurück bei dem. Adi ist ein Filou!“„ Und verheiratet ist er auch, ich bin informiert. Keine Sorge, ich kann schon auf mich aufpassen!“ Sie steckte Adis Brief in ihre Tasche. Sie würde ihn nachher in ihrer Zigarettenpause lesen. Zu ihrer Überraschung sah sie Herrmann aus dem anderen Büro zu ihnen kommen. „Was tust du denn noch hier?“, fragte Tina, „wenn es wegen des Gitarrenunterrichts ist, ja mei, dann kommst halt am Samstagnachmittag zu mir heim!“ „Das sowieso“, sagte Herrmann frostig, „aber ich hab noch was anderes mit dir zu besprechen. Komm mal mit!“ Er machte so ein ernstes Gesicht dabei. Hatte sie gestern einen Fehler gemacht? Herrmann schob sie aus der Telefonzentrale über den Flur zu einem noch menschenleeren Raum, in dem abends die Nahverkehrsfahrer ihre Abrechnungen abgaben, die hier verbucht wurden. Diese verantwortungsvolle Tätigkeit hatte Martina bisher noch nicht ausführen dürfen. „Was ist denn nun?“, fragte sie ungeduldig. „Was hast´ n du mit dem van Dyk zu schaffen?“, kam Herrmanns Gegenfrage. Martina lachte erleichtert. „Ich dachte schon, es sei was Schlimmes. Na nichts!“ „Was, na nichts?“ „Na nichts hab ich mit ihm. Wie kommst du da drauf?“ „Immerhin hast du dich von dem gestern Nacht heimfahren lassen! Der hat garantiert in halb Deutschland eine sitzen! Meinst du ich hätt net bemerkt, wie er dir hinterher schleicht?“, schimpfte Herrmann. „Ph“, machte Martina, „das ist mir doch egal. Hättest du mich halt mit deinem Fahrrad abgeholt und auf dem Gepäckträger nachhause gebracht. Oder hätte ich vielleicht alleine durch die Nacht marschieren sollen? Du bist mir ja ein schöner Freund!“ Martina tat beleidigt. „Freilich brauchst net durch die Nacht laufen, aber frag in Zukunft lieber einen Disponenten. Wie schaut das denn aus, wenn eine aus dem Büro mit einem Fernfahrer rumtut!“, antwortete Herrmann. Jetzt reichte es Martina. D a s hätte er nicht sagen dürfen! „Bis jetzt hab ich noch mit keinem „rumgetan“ und keinen Unterschied zwischen euch Typen aus dem Büro und den Fernfahrern feststellen können“, giftete sie Herrmann an, „ihr quatscht genauso Schweinereien wie die, wenn überhaupt! Mein Vater fährt auch LKW und meine Mutter geht putzen und trotzdem haben sie mir ein paar Manieren beigebracht! Das nächste Mal trage ich eine Krone und einen Hermelin, wenn ich ins Büro komm. So, und wenn du jetzt fertig bist, kannst´ ja endlich heimradeln. Der Adi ist ja sowieso wieder weg!“ Sie drehte sich um und ließ Herrmann einfach stehen. „Dann bis Samstag, gell?“, rief er ihr kleinlaut nach, aber sie antwortete nicht mehr. Trotz ihres Ärgers ging ihr die Arbeit gut von der Hand. Wie immer während der Spätschicht hatte sie gegen 18.00 Uhr eine kleine Pause. Sie marschierte rauchend ein paar Runden im Hof herum und beobachtete dabei den Betrieb an der Rampe. Ein Nahverkehrs-LKW nach dem anderen kam jetzt von seiner Tagestour zurück. Das würde sich noch eine Weile hinziehen. Als sie einen Apfel aus ihrem Täschchen holen wollte, fiel ihr Adis Brief wieder in die Hände. Sie ging in den Souterrain und setzte sich an einen Tisch, an dem Adi heute Morgen wohl den Brief geschrieben haben mochte und begann zu lesen:

„Meine liebste Tina, du kannst dir gar nicht vorstellen wie schwer es mir fällt, jetzt wieder von dir fortfahren zu müssen und ich dich so viele lange Tage nicht mehr sehen kann“, überflog sie seine unbeholfene Handschrift, „du weißt gar nicht, wie lieb ich dich hab und ich würde nie etwas tun, was du nicht auch willst. Ich bin schon glücklich, wenn ich nur in deiner Nähe sein darf! Ich bringe am Montag einen Kollegen mit, der mit dem LKW wieder zurückfahren wird, damit ich noch ein bisschen länger bei dir bleiben kann. Voller Sehnsucht fiebere ich diesem Tag entgegen, an dem ich dich so richtig verwöhnen werde. Bis bald. Dein Adi!“ Geschockt ließ Martina den Brief sinken. Oh mein Gott, das war ja ein richtiger Liebesbrief. Ihr erster Liebesbrief! Dein Adi! Sie brach in ein meckerndes Lachen aus. Ja, wenn d e i n W o l f i da stehen täte! Plötzlich wurde es Martina schlecht. Vielleicht hatte sie wirklich in den letzten Tagen zu wenig gegessen und ihr Körper wollte jetzt schlappmachen. Oder ihr war schlecht geworden, weil ihr die Nummer mit Adi über den Kopf zu wachsen drohte. Er schien tatsächlich in sie verliebt zu sein! Mein Gott, sag mir doch, was ich tun soll! „Du, ich kann nimmer weitermachen, mir geht’s ziemlich mies“, gestand sie Stefan etwas später. Leider war Frau Engelbrecht schon weg, mit der sie sich hätte beraten können. „Und wer schreibt mir jetzt die ganzen Frachtbriefe?“, fragte Stefan, „es geht grad drunter und drüber. Komm reiß dich zam und trink a Glas Wasser. Nachher, wenn du fertig bist, fahr ich dich gleich heim!“ Elisabeth wunderte sich, als Martina schon nach 20.00 Uhr nachhause kam. Richard war noch nicht einmal da, Ursel lag schon im Bett und sie hatte es sich gerade vor dem TV-Gerät gemütlich gemacht. „Wieso biste denn schon da?“, fragte sie. „Ach mir ist nicht gut und ich hab eh morgen Schule“, antwortete Tina, „außerdem habe ich Elisabeth war alarmiert. „Siehst du? Ich hab dir immer gesagt, dass du essen musst“, ereiferte sie sich, „immer nur einseitig essen geht halt nicht gut! Soll ich dir was warm machen? Vati kommt sowieso bald!“ Martina winkte rasch ab. „Nein, lass nur, ich könnte jetzt nichts runter bringen. Ich richte nur meine Schulsachen und geh dann ins Bett!“ „Wie du willst, aber esse bitte bald wieder normal, Kind, du hast schon so viel abgenommen!“ „Gerade mal sieben Pfund und niemand außer dir hat es bisher bemerkt“, erwiderte Martina traurig. Ihre Mutter war so arglos. Wie hätte sie mit ihr ihre Probleme diskutieren sollen? Als sie in ihrem Bett lag, dachte sie wieder an Adi. Sie hatte ihn stets ignoriert, sein Anhimmeln weg gelacht und ihm mehr als deutlich zu verstehen gegeben, dass sie kein Interesse an ihm hatte und was machte der? Er ließ sie einfach nicht in Ruhe und schrieb ihr sogar einen Liebesbrief! Die Situation überforderte sie. Bis jetzt hatte sie ein junger Mann noch nicht einmal küssen wollen. Natürlich fragte sie sich mit ihren 16 Jahren häufiger, wie sich so ein Kuss wohl anfühlen mochte und in ihrer Clique befand sich schon der eine oder andere mit dem sie es gern ausprobiert hätte. Von Wolfgang ganz zu schweigen. Aber die sahen nur den Kumpel in ihr. Dass sie Adi nicht davonlaufen konnte, begriff sie. Sie musste sich ihm stellen und ihm seine Flausen endgültig aus dem Kopf treiben. Wenn nötig, musste sie noch andere Geschütze auffahren. Als sie an Wolfgang dachte, den sie morgen endlich wiedersehen würde, wurde sie ruhiger und schlummerte schließlich ein... Die Flipperbar war nichts anderes als ein hinter einer Einkaufspassage liegender Raum, in dem zwei Flipper und eine Musikbox standen, zwei Spielautomaten an einer Wand hingen und wenige Tische zum Verweilen einluden. Dem jungen Alter der Gäste entsprechend gab es nur zwei mild-alkoholische Getränke zur Auswahl, Bier oder Martini. Das Restangebot bestand aus Wasser oder süßem Zeug. Die jungen Leute kamen gern hierher, zum einen der Musikbox wegen, die die gängigsten Beatsongs dudelte, zum anderen, weil ein Stockwerk höher eine Raum ausfüllende Carrera-Bahn aufgebaut war, an der man sich gegen eine geringe Gebühr spannende Rennen liefern konnte. Martina traf Rena und Wolfgang nach der Berufsschule in der Flipperbar an.

„Servus Tina. Komm setz dich her zu uns, ich lad dich ein!“ Wolfgang legte einen Arm um sie und drückte sie neben die lächelnde Rena auf einen Stuhl. Um Wolfgangs Berührung begannen Martinas Knie weich zu werden und sie war froh, sich setzen zu können! „Hast du Geburtstag?“, fragte sie erstaunt.Wolfgang schüttelte seinen Kopf. „Naa, aber ich war heute bei eurem Herrn Preisinger und er hat mich eingestellt. Nächsten Montag kann ich bei euch anfangen!“, erzählte er.„Das ist ja toll“, freute sich Martina aufrichtig, „dann hast du ihm wohl gleich meinen Brief gegeben?“, wandte sie sich an Rena. Die nickte. „Wolfgang ist schon die ganze Zeit so aufgekratzt!“, sagte sie. „Wieviel wirst du denn verdienen?“, fragte Tina neugierig. „So um die 350 Mark“, antwortete Wolfgang freimütig. „Gratuliere. Das ist nicht schlecht! Wenn ich an meine achtzig Mark denke!“ „Also, was willst du trinken?“, fragte Wolfgang sie, „an Martini zur Feier des Tages?“ „Nur ein Wasser bitte. Ach ja, ich hab euch ja die Briefe zeigen wolle“, fiel ihr ein. Während Wolfgang bestellte, kramte sie neben ihren Unterrichtsheften die Post aus ihrem Schulbeutel heraus. Als die beiden lasen, nippte Martina an ihrem Wasser und rauchte eine Zigarette und beobachtete unter halb geschlossenen Lidern Wolfgang. Ab und zu gab er ein Brummen von sich, schüttelte den Kopf oder stieß Zischlaute aus. „Du arme“, sagte Rena irgendwann, „sowas Gemeines! Aber die meinen ja nicht nur dich, sondern uns alle! Wie armselig!“ Wolfgang starrte eine Weile vor sich hin. In seinem Gesicht arbeitete es. „Wisst ihr was? Forget it, scheiß drauf“, sagte er dann, „die wollen doch nur, dass wir uns ärgern und zum Glück gibt es ja noch ein paar weniger verstaubte Menschen!“ „Das stimmt!“, gab Martina ihm Recht, „in dieser Beziehung sind meine Eltern erstaunlicherweise sehr tolerant. Ehrlich gesagt, wenn´s nicht so wär, wär´s mir auch wurscht!“ Rena seufzte. „Na ja, du gehst immerhin schon arbeiten und verdienst was“, sagte sie. „Deine Eltern sollten aber auch langsam nimmer so streng mit dir sein, Rena. Nächsten Monat wirst´ Siebzehn und da ist es doch normal, wenn man einen Freund hat... Was ist? Hab ich was Falsches gesagt?“, wunderte sich Wolfgang, nachdem er die erschrockenen Augen der Mädchen sah. Beide waren errötet. Rena aus Scham und Tina vor Ärger. Also hatte Rena immer noch nicht ihr wahres Alter gestanden! Wolfgang musste lachen. „Du hast gemogelt, oder? Wirst´ halt erst Sechzehn, macht a nix. Deswegen bist immer so brav! Jetzt wundert s mich nimmer!“, sagte er amüsiert. Martina gab Rena unter dem Tisch einen Tritt. „Ich muss aufs Klo!“ So normal wie möglich raffte Martina ihren Beutel an sich und stand auf. Kurz vor der Tür zur Toilette drehte sie sich noch einmal um. Wolfgangs Gesicht war nun ernst und Rena saß da mit gesenktem Kopf wie ein geprügelter Hund. Doch das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Geschätzte zehn Minuten hielt es Tina im Toiletten-Vorraum aus, dann ging sie wieder zu den beiden zurück! Wenigstens redeten sie noch miteinander. „Da habt ihr mir ja was Schönes eingebrockt!“, sagte Wolfgang. „Wieso ihr? Meine Sache ist das doch net und außerdem hab ich Rena gewarnt. Schau, sie hat dich doch so gern! Vielleicht hätt sie dich nie mehr wiedergesehen, wenn du es gewusst hättest!“ Und ich auch nicht, fügte Tina in Gedanken hinzu. „Darum geht´s net. Ich weiß auch, dass die Liebe, wenn sie zu einem kommt, net nach dem Alter fragt und ich hab die Rena auch net jetzt plötzlich weniger lieb. Aber versteht mich doch, wenn es einer nicht gut mit mir meint, könnte der mich wegen Verführung Minderjähriger in den Knast bringen! Ich dürfte mich gar nicht mehr mit ihr allein in der Öffentlichkeit sehen lassen und küssen schon überhaupt net! Ich hab dir wirklich geglaubt, dass du Sechzehn bist, Rena. Aber wie es ist, müssen wir uns noch ein ganzes Jahr lang zusammenreißen. Dabei hab ich gedacht, wenn ich erst Arbeit hab könnte ich mich deinen Eltern vorstellen und an Weihnachten hätt ich d i c h in München m e i n e n Eltern vorgestellt. Ja, so hab ich´s mir gedacht, aber jetzt?“ Wolfgang schluckte. Rena begann zu weinen. Schnell legte er eine Hand an ihre Wange und wischte mit dem Daumen die Tränen weg. Das Herz tat ihm weh. „Jetzt weine nicht, es ist wie es ist. Was ist schon ein Jahr? Jetzt gehst´ heim mit der Tina und am Wochenende sehen wir uns wieder, ganz bestimmt! Jetzt muss ich erst mal los und alles verdauen, okay?“ Dass er sich nach langer Zeit wieder einmal richtig betrinken wollte, sagte er nicht. „Hast du seine Augen gesehen, Tina? Wie traurig er geschaut hat!“, weinte Rena als er fort war. Martina legte einen Arm um ihre Schultern. Am liebsten hätte sie auch geweint. „Ich hab ein richtig schlechtes Gewissen“, sagte sie mit brüchiger Stimme, „ich hätt´ nicht von meinen Eltern anfangen dürfen.“ Rena fasste sich langsam wieder. „Einmal hätt´ er es doch erfahren müssen. Aber er liebt mich, du hast es ja gehört!“ Tina nickte. „Und ihr habt ja auch noch mich!“, tröstete sie.

Aus dem Alter, in dem Mädchen verschämt kichernd über Jungs schwatzten, schienen beide mit einem Schlag herausgewachsen zu sein, denn ihr gemeinsamer Heimweg verlief schweigsam. Tina konnte Renas Gedanken gut abschätzen, sie die ihrigen nicht. Wie sollte Tina jetzt von ihren Problemen erzählen? War Adi wirklich ein Problem? Mit dem würde sie schon fertig werden. Im Augenblick lag ihr nur eine Tatsache schwer auf dem Herzen: Wolfgang liebte Rena wirklich und sie musste endlich all ihre heimlichen Hoffnungen begraben. Sie fragte sich, ob es so erstrebenswert war zu lieben, wenn es doch so kompliziert damit war!

Martina und der süße Beat des Herzens

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