Читать книгу Martina und der süße Beat des Herzens - Liz Kortuss - Страница 6
4.Kapitel
Оглавление„Mutti, schau! Ich brauch was Neues zum Anziehen! Der Rock ist mir viel zu weit geworden!“ Martina freute sich. Die kleine Personenwaage im Flur hatte fünf Kilo weniger angezeigt. Ganz ordentlich für kaum zwei Wochen Diät! Endlich wurde ihr Hals sichtbar und eine Taille begann sich ebenfalls abzuzeichnen. „Du hast doch noch den Schwarzen, der dir zu eng geworden war“, entgegnete Elisabeth, „zu dem passt dein neuer blauer Pulli auch. Vor dem nächsten Ersten haben wir leider kein Geld mehr für solche Ausgaben!“ Das stimmte sogar. Ursel hatte für das beginnende Schuljahr eingekleidet werden müssen und ihre neue Brille hatte ebenfalls Geld verschlungen. „Aber der Schwarze geht doch übers Knie“, maulte Martina. „Ist doch gut, das streckt noch mehr. Den hier bring ich gleich zu Frau Gebhardt rüber, damit sie ihn dir enger macht! Kauf dir halt von deinem nächsten Gehalt selber etwas Neues!“ Elisabeth blieb hart. Später probierte Martina in Tante Lottes Schlafstube vor dem großen Spiegel den schwarzen Rock. Er passte zwar auch nicht so perfekt, war am Bund ziemlich locker, doch das verbarg ja der Pullover. Das leuchtende Königsblau ergänzte sich hübsch mit ihrem blonden Haar. Seit langem war Martina wieder einmal zufrieden. Der Mops schrumpfte und er sollte noch weiter schrumpfen! „Übrigens, Herrmann kommt heute Nachmittag!“ „So? Du kannst ihn ruhig raufbringen. Richard und ich wollen mit Ursel sowieso aufs Land zu den Böhmes. Du weißt, die stammen auch aus Breslau!“, entgegnete Elisabeth. Martina schüttelte den Kopf. „Kommt gar nicht infrage. Draußen ist es nicht zu kalt, die Sonne scheint sogar. Wir klampfen auf der Bank im Hof rum. Das fehlte noch, das war sowieso eine blöde Idee von mir!“ Das dachte sie wieder, als Herrmann später sein Fahrrad in den Hof hineinschob. Auf dem Gepäckträger klemmte seine Gitarre in einem Transportsack. „Puh, das zieht sich ja endlos bis man bei dir ist“, stöhnte er und wischte sich über seine sommersprossige Stirn. „Servus erstmal. Willst was trinken, Hermi?“ Er nickte. „A Cola wär ganz okay!“ Als Martina kurz darauf mit einem gefüllten Glas die Treppe vom Haus in den Hof hinabstieg, sagte er: „Du schaust irgendwie anders aus. Hast abgenommen, gell?“ Bewunderung lag in seinen Augen. Er hatte Martina ja fast eine Woche nicht mehr gesehen. Sie ging nicht darauf ein. „Komm, lass uns anfangen“, sagte sie stattdessen. Sie wollte dieses dubiose Privattreffen mit Herrmann rasch hinter sich bringen! Wie sich während dieser Unterrichtsstunde herausstellen sollte, hatte Martina nicht das geringste Talent. Immer wieder bog sie den Daumen ihrer linken Hand um den Steg, wie es Herrmann ebenso oft geduldig vormachte, presste ihn auf eine Saite und versuchte, die restlichen Finger auf die anderen Saiten zu verteilen um einen Ton zu erzeugen. Außer einem kläglichen „Pieng“ brachte sie jedoch nichts zustande. Bis sie das Gefühl hatte, ihre Hand würde für immer in dieser verkrampften Haltung zurückbleiben. Herrmann lachte sich fast kaputt. „Hab ich´s dir net g´ sagt?“, triumphierte er, „so schnell lässt es sich net lernen!“ Dabei war Martina nicht mal unmusikalisch. In der Schule hatte sie immer eine Eins im Singen gehabt. Erstklassig beherrschte sie die zweite Stimme und traf jeden Ton. Sie sah sich noch in Tante Lottes Wohnstube mit damals noch glockenheller Stimme „Vom Himmel hoch da komm ich her“ im höchsten Sopran singen. Genauso gern hatte sie im Waschhaus mit seiner tollen Akustik mit dem größten Vergnügen alles geträllert, was ihr eingefallen war. Sie besaß durchaus Potential, das sich zu fördern gelohnt hätte, doch darauf kam niemand. Nicht mal ihr Vater, von dem sie ihr musikalisches Gespür geerbt hatte. Richard hatte nie Noten gelernt, spielte jedoch nach Gehör ganz passabel Akkordeon. „Hast du es denn gleich können?“, regte sich Tina auf, „aller Anfang ist schwer, oder?“
„Wo gehst´ denn nachher hin?“, fragte Herrmann. „Nur zu meiner Freundin. Wir haben uns fast die ganze Woche nicht gesehen und wollen ein paar neue Platten hören!“, log Martina. „Schade, ich wollte dich noch auf etwas zu trinken einladen“, sagte Herrmann. Es klang enttäuscht. „Sag bloß, du tätest mit einem Mops ausgehen wollen“, spottete Martina. Das fehlte noch, dass sie mit „Hermi“ nachher im Klostergraben auftauchte! Womöglich auf seiner Fahrradstange! Herrmann grinste verlegen. „Du bist aber nachtragend! Ich hab dir doch schon g´ sagt, dass es net so gemeint war!“ Am folgenden Montag um Viertel nach Fünf sagte Martina während ihres Joghurt-Kleie-Frühstücks so beiläufig wie möglich: „Übrigens komm ich heut erst spätabends heim. Ich soll ein paar Kollegen aus Köln, die zwei Tage hier sind, die Stadt zeigen!“ „Deshalb hast du also deine Ausgeh-Sachen an“, sagte Elisabeth erstaunt, „ausgerechnet am Waschtag musste fehlen!“ Sie dachte mit Grauen an die Knochenarbeit im dampfenden Waschhaus, die sie wohl wieder einmal allein bewältigen musste. „Mir passt das ja auch nicht“, gab Martina zu, „es lässt sich leider nicht ändern. Sag mal Vati, kannst du mich heute ausnahmsweise mit deinem Auto zur Spedition bringen? Ich glaub, es gibt Regen und dann ist der Weg so matschig!“ Richard, der gerade seine Tasche mit einer Thermoskanne und ein paar belegten Broten füllte, brummte etwas, aber dann sagte er doch: „Na dann mach hin und komm!“ Nachdem sie sich vor der Spedition von ihm verabschiedet hatte, hielt sie ängstlich nach Adis LKW Ausschau. Tatsächlich stand er auf dem Hof doch Gott sei Dank war Adi nicht zu sehen. Am liebsten hätte sie sich ja krank gemeldet, denn ihr war bange! Doch dann sah sie Wolfgang auf der Rampe. Er werkelte bereits mit einem voll gestapelten Sackkarren herum. Sie winkte ihm zu und freute sich, dass er zurückwinkte. Bestimmt würde sie sich in der Pause auf eine Zigarette mit ihm treffen können. Als es soweit war und sie fröhlichen Herzens ins Lager stürmte, wurde sie enttäuscht. Man hatte Wolfgang einem Nahverkehrsfahrer mitgegeben und würde erst zurückkommen, wenn sie nicht mehr in der Firma war! Dann bekam sie Angst, Adi könnte plötzlich auftauchen und denken, sie sei wegen ihm gekommen, deswegen hastete sie schnell wieder ins Büro zurück. Dennoch war ihr bewusst, das heute der große Tag der Abrechnung mit ihm gekommen war und sie wollte sich keinesfalls drücken! Nur die Kollegen sollten davon nichts mitbekommen. Das war ihre größte Sorge. Sie nahm an, dass Adi in einem der Schlafräume lag und sich ausschlief. Hoffentlich verpennt er meinen Feierabend, dachte sie boshaft. Ihr Wunsch schien in Erfüllung zu gehen, denn als sie die Firma am Frühnachmittag verließ, entdeckte sie ihn weder im Flur noch auf dem Hof. Im Augenblick wusste sie nicht, ob sie erleichtert sein sollte oder verärgert! Erst schrieb er ihr einen Liebesbrief und jetzt kniff er! Scheu blickte sie sich immer wieder um. Keine Spur von Adi. So können sich Probleme also auch lösen. Doch sie freute sich nicht. Sie hätte diese Geschichte gerne hinter sich gebracht. So viele kluge Worte hatte sie sich zurecht gelegt um ihm endgültig begreiflich zu machen, dass sein Hinterherlaufen sinnlos war. Vielleicht hatte Adi es mittlerweile selbst kapiert und schämte sich, sie zu sehen! Sie war so in ihre Gedanken versunken, dass sie zusammenzuckte, als ein Wagen neben ihr hielt und jemand mit Adis Stimme sagte: „Darf ich Sie bitten einzusteigen, mein holdes Fräulein?“ Da war er! Seine dunklen Augen strahlten sie an. Er hatte das Seitenfenster herunter gekurbelt und streckte einen Arm nach ihr aus. Martina stand nur da und starrte in sein lächelndes Gesicht. Sie spürte wieder die knisternde Spannung, die von ihm ausging. „Na komm, steige schon ein Mädchen, oder willst du warten bis uns jemand sieht?“ sagte er mit einem zärtlichen Klang in der Stimme. Seine Worte rüttelten Martina wach. Sollte sie Adi noch dankbar sein, dass er sie nicht kompromittiert hatte? Schnell lief sie um den Wagen herum und schwang sich auf den Beifahrersitz. Mit leicht geneigtem Kopf betrachtete er ihr erhitztes Gesicht. Wie gern hätte er sie an seine Brust gezogen und geküsst! Stattdessen klammerten sich seine Hände um das Lenkrad. „Da bin ich wieder“, sagte er. „Ja, da bist du wieder. Werde ich dich denn nie los?“ antwortete Martina. Es hätte schnippischer klingen sollen! Adi lachte. „Willst du das wirklich?“ Martina ärgerte sich. Hoffentlich war sie nicht rot geworden! „Nun fahr schon los“, fuhr sie ihn an, „was ist das überhaupt für ein Auto? Bist du mit dem etwa hierher gefahren?“, fragte sie kindlich. Adi schüttelte den Kopf. „Den hab ich mir vorhin gemietet“, sagte er während er anfuhr, „ich hab dir doch versprochen, dass ich dir etwas biete. Hast du meinen Brief denn nicht bekommen?“ Er warf ihr einen raschen Blick zu. „Ja, aber ich hab mich gefragt, was das soll!“ gab Martina zu. „Was will man mit einem Brief wohl sagen. Hast du ihn denn nicht gelesen?“ „Ach Adi, begreif doch, aus uns wird nie etwas werden. Ich will das nicht, respektiere das doch endlich!“ flehte sie. Er nahm ihr nicht ab, dass sie nicht wollte, sie hatte nur Angst! Er schwieg. Martina fasste Mut. „Wenn du damit nicht aufhörst, ich schwör´ s dir, dann geh ich zum Chef und bitte ihn zu veranlassen, dass du eine andere Tour bekommst. Oder ich breche meine Ausbildung hier ab!“ „Pst, pst“, machte Adi, lenkte den Wagen an den Straßenrand und hielt an. „Tina, Mädchen, ich werde dir nichts tun, was du nicht auch willst! Glaubst du mir nicht?“ Adi legte eine Hand an ihr Kinn und hob ihr Gesicht an. Dass es schmaler geworden war, war ihm schon aufgefallen. Ihre hohen Wangenknochen konnte er nun deutlich sehen. Und wie sie ihn mit ihren großen blauen Augen ansah! Wie ein verängstigtes Kind! Eine große Rührung überkam ihn und gleichzeitig eine unendliche Traurigkeit. Martina bemerkte erschrocken, wie sich seine dunklen Augen unter den dichten Wimpern überschatteten und wurde unsicher. Sein Rasierwasser stieg ihr angenehm in die Nase und die sanfte Berührung seiner Hand löste ein unerklärbares Gefühl in ihr aus. Sie musste schlucken. „Sei doch vernünftig! Niemals könnte ich einen verheirateten Mann lieben oder Kindern eine Familie zerstören! Und selbst wenn du frei wärst...!“ Hilflos brach sie ab. Gern hätte sie gesagt: Ich liebe einen anderen. Doch der liebte sie ja nicht und mittlerweile zweifelte sie, ob Adi sich durch irgendetwas zurückhalten ließ. „Gib mir doch die Chance, dir alles zu erklären“, bat Adi sanft, „lass uns doch bitte einen schönen Tag miteinander verbringen, ganz harmlos, versprochen! Wir gehen ein wenig spazieren, unterhalten uns, essen was Gutes und dann bring ich dich heim, okay?“ Martina gab sich geschlagen und wollte seinen scheinbar ehrlich gemeinten Versprechungen glauben. Sie fragte sich, warum sie nicht einfach ausstieg und ihn hier sitzen ließ aber Adi fuhr bereits wieder an. Er lenkte den Wagen zur Stadt hinaus und fuhr einige Kilometer südwärts. Erst an einem tiefdunklen Waldsee mit einem kleinen Landgasthof ließ er ihn ausrollen. Sie hatten beide schweigend und ihren Gedanken nachhängend die Fahrt hinter sich gebracht. Nun öffnete Adi die Beifahrertür und ließ Martina aussteigen. „Hier ist es aber schön“, entfuhr es ihr, „woher kennst du den Ort?“ „Ich komme öfter mal hierher, wenn ich längeren Aufenthalt bei euch habe“, bekannte er, „aber mit dir zusammen ist es natürlich noch viel schöner!“ Er war erleichtert, dass sie ihre Unbefangenheit wiedergefunden hatte. „Wollen wir ein bisschen um den See laufen?“, fragte er. „Wenn´ s nicht zu pampig wird?“, antwortete sie und wies auf ihr leichtes Schuhwerk. „Isch trag disch über jede Pfütze“, versprach Adi. Er brachte es so drollig hervor, dass Martina lachen musste aber sie verkniff sich eine neckende Antwort. Der milde Septemberwind ließ ihr blondes Haar tanzen und sie wusste nicht, wie hübsch sie in diesem Moment aussah! „Lass uns doch zuerst etwas trinken gehen, Adi, ich hab Durst“, bat sie. „Ganz wie Sie wünschen, Madame“, entgegnete er fröhlich. So ganz am Wochenanfang befanden sich nicht viele Leute im gemütlichen Gastraum und sie konnten sich einen Tisch am Fenster mit Blick auf den See aussuchen. Adi half Martina aus ihrem Blazer und hing ihn neben seine Lederjacke an die Garderobe. „Was möchtest du trinken, Mädchen?“, fragte er dann. „Ich nehme ein gespritztes Bier“, antwortete sie freimütig. „Das mach ich auch. Willst du vielleicht jetzt eine kleine Brotzeit?“ fragte er fürsorglich. Sie schüttelte den Kopf. „Nein Danke, aber wenn d u möchtest?“ „Nee, ich warte dann auch bis zum Abendessen“, erwiderte Adi. Nachdem sie mit ihrer Radler angestoßen hatten, rauchten sie eine Weile schweigend vor sich hin. „Wie alt bist du eigentlich, Adi?“, begann Martina die Unterhaltung. „Ich bin Sechsundzwanzig, warum?“ „Dann musst du aber früh geheiratet haben, wenn du jetzt schon zwei Kinder hast!“ Martina nahm einen Schluck Bier, es beruhigte so schön. Adi zuckte mit den Schultern. „Wie´s halt manchmal so geht“, antwortete er vage. „Und jetzt liebst du deine Frau nicht mehr?“, bohrte Adi zerquetschte seine Zigarette im Aschenbecher. „Sie hat einen anderen“, gestand er, „weil ich immer so lange weg bin. Ich fahre ja auch Touren nach Berlin und dann bin ich schon die ganze Woche nicht Zuhause. Das hat sie nicht mehr ausgehalten. Jetzt hat sie einen Freund mit geregelter Arbeitszeit. Dabei wollte ich nur, dass wir ohne Geldsorgen leben können!“ „Die armen Kinder! Warum hast du dir nicht einen anderen Beruf gesucht?“ „Man verdient gutes Geld und mein freier Herr bin ich auch“, verteidigte sich Adi. „Im Ernst, Adi, mach doch mal Urlaub mit deiner Familie und verwöhne sie. Vielleicht kommt deine Frau zu dir zurück, so charmant wie du sein kannst!“ „Findest du? Jetzt liebe isch doch disch und meine Ehe ist sowieso nicht mehr zu retten!“ „Lieb mich ruhig, aber rein platonisch bitte“, sagte sie, leicht bedröselt vom raschen trinken, „denk doch an deine Babys!“ „Das tue ich doch!“ „Na, dann machst halt wirklich bald Urlaub mit ihnen. So, jetzt würde ich doch gerne ein bisschen laufen!“ Sofort rief Adi nach dem Wirt und zahlte. „Bis in einer Stunde sind wir wieder zurück, gibt es dann schon etwas Warmes?“ fragte er. Der groß gewachsene Wirt der aussah, als betreibe er nebenbei noch eine Metzgerei, sah auf seine Armbanduhr. „Dann is es halb Sechsa. Freilich, das passt scho. Frische Forellen hätt mer!“ Nachdem sie den Gastraum verlassen hatten, fragte Martina: „Reicht´s mir dann noch? Ich muss spätestens um Acht Zuhause sein!“ „Sischer doch“, winkte Adi lässig ab. Sie schlugen den schmalen Weg zum See ein. Auf dessen dunkler Oberfläche spiegelten sich Sonnenstrahlen. „Schön nicht? Wenn man bedenkt, wonach das Wetter heute Morgen aussah!“ sinnierte Adi. Genüsslich sog Martina die frische, nach Tannen duftende Luft ein. „Ja es tut schon gut, mal wieder aus der Stadt heraus zu sein!“ „Wir könnten das doch öfter machen?“, schlug Adi mit unschuldiger Miene vor. Martina antwortete nicht, es erschien ihr zwecklos. Eine Weile spazierten sie schweigend nebeneinander her. Irgendwann griff Adi nach Martinas Hand. „Tina, du weißt gar nicht, wie glücklich ich im Moment bin!“ presste er hervor. Er war stehen geblieben und sah ihr eindringlich in die Augen. Martina erschrak. Unsicherheit stieg in ihr auf. Unsicherheit und noch etwas anderes, Unbekanntes! Rasch, als hätte sie sich verbrannt, entzog sie ihm ihre Hand. Sie hatte wieder so ein seltsames Gefühl. Sie musste an ihren Traum mit der Schlange denken und versuchte zu retten, was nicht mehr zu retten war! Burschikos boxte sie Adi auf seinen Oberarm. „Hey, ich dachte, darüber sind wir weg! Wenn du noch einmal mit dem Schmus anfängst, werfe ich dich in den See und du endest als Wasserleiche!“, rief sie. Adi musste lachen. „Ja, und isch spuke jede Nacht unter deiner Bettdecke!“ „Du bist doof!“, erwiderte Martina und lief lachend davon. Adi rannte ihr nach, überholte sie, Martina stolperte über eine Wurzel und fiel ihm direkt an die Brust. Er umfing sie mit seinen Armen und sie staunte, wieviel Kraft in ihnen steckte. Ihr Lachen erstarb, als sie in seine glühenden Augen sah, die nun wieder so dunkel waren. Dunkler als der See. Plötzlich spürte sie seine Lippen, die er auf ihren Mund presste und jeden Schrei im Keim erstickten. Überrumpelt ließ sie es geschehen. Das war also ihr erster Kuss! Er fühlte sich so hart an. Mit einem Mal – als hätte er ihre Gedanken lesen können – wurden Adis Lippen weicher, ohne etwas Forderndes zu verlieren. Sie öffneten sich und seine Zunge liebkoste zärtlich ihren Mund. Martina zitterte um das Gefühl, welches von ihrem Körper Besitz nahm und öffnete bereitwillig ihre Lippen. Ihr war nicht bewusst, dass sie ihre Arme um seinen Nacken legte und seinen Kuss leidenschaftlich erwiderte. Überwältigt zog Adi sie noch enger in seine Arme, sodass sie jeden Muskel seines Körpers zu fühlen glaubte. Martina erschrak, als er seine Lippen in ihre Halsbeuge grub und seine Hände ihren Körper erforschten. Er schien völlig den Verstand zu verlieren. Mit aller Kraft die sie aufbringen konnte stieß sie ihn zurück, bis er taumelnd von ihr abließ. „Du Schwein“, rief sie zitternd vor Zorn, „was hast du mir alles versprochen und jetzt nutzt du die erstbeste Gelegenheit dazu, mich zu überfallen. Bring mich auf der Stelle nachhause!“ Adi blickte sie keuchend an. Er hatte geahnt, dass sie so reagieren würde. Sie konnte gar nicht anders reagieren. Sie war so erschrocken über ihre Gefühle und dass sie Gefühle empfunden hatte, hatte er gespürt. Das machte ihn unendlich stolz und glücklich. Es fiel ihm unsagbar schwer, sich zu beherrschen. „Verzeih mir Schatz. Ich lieb dich halt so!“ „Ich will sofort heim!“ Mühsam unterdrückte Martina ein Schluchzen. Adi sagte: „Ganz wie du willst. Beruhige dich doch! Es war doch nur ein Kuss!“
Ja, er würde sie nachhause fahren. Er bedauerte zwar, dass die schöne Zeit mit ihr schon vorbei sein sollte. Hätte er sich doch nur ein wenig länger beherrscht! Trotzdem hatte er erreicht, wonach er sich so lange gesehnt hatte. Ihre bereitwillig geöffneten Lippen würde er nicht vergessen und die Gewissheit, dass er es als erster Mann bei ihr erreicht hatte, erleichterte ihm den Abschied von ihr. Morgen würde er sie ja noch einmal sehen!
Er sah sie nicht mehr. Von Susanne Engelbrecht, bei der er nach Martina fragte, erfuhr er, dass sie sich krank gemeldet hatte... „Na? Hat sich dein verlängertes Wochenende gelohnt?“, fragte ihn sein Kollege Kurt in der Nacht, als sie mit dem LKW über die Autobahn donnerten. Er grinste. „Tina zu sehen lohnt sich immer“, wich Adi aus und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr. Sie würden das Stammhaus erst am nächsten Morgen erreichen, weil sie in Darmstadt zwei Abladestellen anfahren mussten, um weiter oben im nordhessischen Kassel Ladung aufzunehmen, bevor es ins Ruhrgebiet ging. Nach einer Weile Fahrt legte sich Kurt in eine Koje hinter den Sitzen. Wenigstens bis Kassel wollte er schlafen, bis er das Steuer übernahm. Als Adi am Spätnachmittag den LKW an der Rampe der dortigen Niederlassung abstellte, wachte er wieder auf. Gegen 21 Uhr würden sie weiterfahren können, erfuhren Kurt und Adi im Büro. „Hallo Adi“, begrüßte ihn eine schlanke Dunkelhaarige im knappen Minirock und lachte ihn herausfordernd an. „Hallo Sandra, alles klar?“, gab er zurück und zwinkerte ihr zu. „Wann lädst du mich denn mal ein, wie du es mir versprochen hast?“ fragte sie ihn keck. „Es wird schon mal klappen. Nur Geduld, Mädchen!“, hielt er sie auf Distanz.
„Du hast aber auch einen Schlag bei den Weibern, das muss der Neid dir lassen!“, sagte Kurt, nachdem sie frisch geduscht und umgezogen in einer kleinen Fernfahrerkneipe in der Nähe bei einem deftigen Essen saßen. Sie hatten ja noch Zeit bis zur Weiterfahrt. „Das ist mir nicht mehr wichtig, seit ich Tina kenne.“ „Oha“, machte Kurt, „sie mag ja ganz goldig sein, aber ehrlich, Adi, selbst wenn ich in deinem Alter wär, sie wär mir zu jung!“ „Jung ja, aber nicht kindisch! Sie hat noch eine so reizende Natürlichkeit und ist total unverdorben!“ antwortete Adi. „Was DU ändern willst, nicht wahr? Ich frag mich, was du von ihr willst! Erster Mann sein, so ein Quatsch! Soll sie etwa das Wissen, was du ihr beibringen willst, an deine Nachfolger weitergeben? Und es wird Nachfolger geben! Denk doch nur an deine Frau!“ Adi starrte finster vor sich hin. „Also ich persönlich habe immer erfahrene Frauen den Blutjungen vorgezogen“, redete Kurt unbeirrt weiter, „der Genuss ist doch größer!“ „Jedem was er möchte!“, antwortete Adi. „Adi, mag deine verehrte Tina auch körperlich reif sein, im Kopf ist sie trotzdem noch ein Kind mit Träumen, die von deinen abweichen. Kannst du dir eine Sechzehnjährige als Erzieherin deiner Kinder vorstellen? Oder anders herum, würdest du ihr wirklich so etwas zumuten wollen?“ Adi sah Kurt erstaunt an. Soweit hatte er tatsächlich nicht gedacht! „Weißt du, was sie gesagt hat, Kurt? Ich soll mit meiner Familie in Urlaub fahren und sie verwöhnen. Dann käme meine Frau wieder zurück. Und dass ich einen Scheiß Beruf habe!“ Er lachte hart. „Gar nicht mal so dumm gedacht von dem Mädchen“, nickte Kurt, „du solltest es wirklich tun. Ich übernehme für ein paar Wochen deine Tour nach Oberfranken. Kläre ab, ob deine Familie zu retten ist oder Tina auf dich wartet oder du auf sie, aber wenn sie Verstand hat, wird sie dich vergessen!“
Adi van Dyk hatte lange über Kurts eindringliche Worte nachdenken müssen. Die Vorstellung, Tina ein paar Wochen nicht sehen zu können, tat ihm weh. Vielleicht war es aber wirklich nicht so verkehrt, wenn er sich etwas rar bei ihr machte. Er hatte etwas in Tina zum Schwingen gebracht und das erfüllte ihn. Er musste ihr nun Zeit geben, das körperliche Empfinden in ihrem Kopf ankommen zu lassen! Aber auch an seine kleinen Söhne musste er denken. Sollten sie ihm nicht ganz entgleiten, musste er einfach wieder einmal einige Wochen anwesend sein. Er sah es ein. Irene, seine Frau, war ihm schon längst entglitten. Im Augenblick empfand er nicht gerade viel für sie. Sein Verlangen galt ganz und gar Tina, ob wohl ihm bewusst war, wie schnell sich alles abnutzen konnte. Wieviel Schuld trug er daran? Kann zu viel arbeiten schuldig machen? Irene war Neunzehn, als sie zum ersten Mal von ihm schwanger wurde, er Einundzwanzig. Gelernt hatte er KFZ-Mechaniker, doch damit konnte man keine Familie ernähren, er merkte es bald. Beim Bund hatte er seinen LKW-Führerschein machen können und so sattelte er mit 22 Jahren zum Fernfahrer um. Durch seinen Verdienst konnten sie sich bald eine größere Wohnung leisten. Das zweite Kind kam zwei Jahre später, obwohl es so nicht geplant gewesen war. Er verdoppelte seine Anstrengung, mehr Geld zu verdienen und nahm immer häufiger immer längere Touren auf sich. Es kam vor, dass er innerhalb von 14 Tagen gerademal vier Tage am Stück Zuhause war. Dann war er ausgelaugt und war zu müde zum Tanzen gehen oder für Kinobesuche. Tödliches Gift für eine Partnerschaft, ein intaktes Familienleben! Irene, so hübsch und jung noch, begann zu nörgeln. Immer öfter spannte sie die Großeltern beiderseits als Babysitter ein und ging ihre eigenen Wege. Im Nachhinein konnte Adi es ihr nicht verdenken. Nun gut, mochte sie nun glücklicher sein. Tina füllte nun seine Gedanken aus wie kein anderes weibliches Wesen mehr. Seine Ehe war nicht mehr zu retten aber seine Kinder brauchten ihn. Für sie musste er da sein. Damit hatten Tina und Kurt schon Recht!
„Was hast du mit dem van Dyk angestellt?“, fragte Susanne am Mittwoch direkt, „der war ja total am Boden gestern, weil er dich nicht angetroffen hat!“ „Ich? Dem Adi? Ich war doch krank!“, entgegnete Martina erschrocken. „Und am Montag? Da war er doch auch da!“ Martina tat, als überlegte sie. „Stimmt, aber ich hab ihn nicht gesehen. Er hat doch unten geschlafen, als ich nachhause gegangen bin“, log sie. „Du Tina, ich glaub, der mag dich wirklich und wenn ich mir nicht sicher wär dass du gar nicht weißt, wie das geht, tät ich sagen: Spiel net mit ihm. Kannst dir sonst leicht die Finger verbrennen!“ Martina antwortete nichts darauf. Sie konnte unmöglich in wenigen Sätzen ihr ganzes Dilemma vor Susanne ausbreiten! Wenn die wüsste, was ich gerade durchmache, dachte sie. Eines musste sie noch loswerden: „Ich kann doch nichts dafür! Tausendmal hab ich dem Adi gesagt, dass ich kein Interesse hab!“ Doch im tiefsten Inneren wusste sie, dass sie schon wieder log! Keine Minute an ihrem „Krankentag“ war vergangen, an denen sie nicht an Adi gedacht hatte. In ihrem Kopf hatte es geschwirrt, sie hatte sich schwach und elend gefühlt, dumm, kindisch und herzlos! Elisabeth hatte ihren Zustand auf das Fasten zurückgeführt und mit ihr geschimpft. Tatsächlich hatte Martina daraufhin zwei Brotscheiben mit dick aufgetragenem Griebenschmalz in sich hinein geschlungen und sich noch schlechter gefühlt. Als sie endlich alleine war, hatte sie ihren Tränen freien Lauf gelassen und hätte nicht einmal sagen können, weshalb sie weinte. Irgendwann hatte sie sich aus dem Haus getraut. Mit ihrem kleinen Transistorradio in der Manteltasche war sie über das riesige, abgemähte Wiesengelände, welches zwischen der Siedlung und dem Spinnerei-Areal lag, gelaufen und hatte der Musik aus dem RIAS -Radio im amerikanischen Sektor- gelauscht. „I got you Babe“ hatten Sunny und Cher gesungen und sie hatte wieder weinen müssen. Heulte sich ihr ganzes Elend vom Herzen!