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Kapitel 4

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Es war Donnerstagmorgen und schulfrei. Gelangweilt saß ich an unserem Küchentresen und beobachtete Timmy und Poppy, während sie wie die Verrückten Kürbisse aushöhlten. Poppy hatte wieder einmal eine ihrer glorreichen Wetten ins Leben gerufen - wer zuerst den Kürbis bearbeitet hatte, bekam zehn Dollar. Und wie jedes Jahr trafen wir drei uns zu Thanksgiving, um für unsere Familien Kürbiskuchen zuzubereiten. Es war beinahe schon eine Tradition. Eine Tradition, der nun auch Ruby beiwohnte.

»Ich bin mir nicht sicher, ob man mit den Kürbissen nachher noch etwas anfangen kann«, sprach Ruby den Gedanken aus, der mir ebenfalls durch den Kopf geisterte. Ich warf ihr einen zustimmenden Blick zu. Ruby und ich hatten uns vor zwei Monaten auf Timmys Geburtstag kennengelernt. Sie lebte noch nicht sehr lange in Seattle und besuchte auch erst seit kurzem die Garfield High. Timmy hatte sie gleich unter seine Fittiche genommen und so war sie in unserem Freundeskreis gelandet.

Wie immer trug Ruby ihre langen blonden Haare zu zwei französischen Zöpfen geflochten. Ich schätzte, das war wohl ihr Markenzeichen. Sie sah unter ihren falschen Wimpern auf und ihre grünen Augen, blitzten amüsiert, als sie Poppys Blick auffing.

»Das habe ich gehört Ruby. Pass auf was du sagst, sonst kannst du dich von deinen schönen blonden Zöpfen verabschieden«, knurrte Poppy unter Anstrengung und warf immer wieder gehetzte Blicke auf Timmys Kürbis, um zu sehen wie weit er bereits war.

»Das klingt interessant«, Timmy grinste. »Aber wenn ihr euch schon prügelt, dann bitte im Bikini.«

Poppy verdrehte die Augen.

»Wir wissen alle, dass du eher auf alte Männer in knappen Badehöschen stehst. Du brauchst uns nichts vorzumachen.«

»Hör auf zu quatschen und konzentrier dich auf deinen Kürbis, Whitehill. Du liegst weit zurück«, keine Minute später warf Timmy auch schon siegessicher die Hände in die Luft.

»Erster.«

Poppy ließ von ihrem Tun ab und warf einen kritischen Blick auf Timmys Kürbis. Beleidigt donnerte sie ihren Schaber auf den Tisch.

»Das ist total unfair! Du hast die größeren Hände und mehr Kraft als ich.«

»Ich bin eben ein echter Mann«, entgegnete Timmy grinsend und zeigte Poppy seinen angespannten Bizeps. Poppy ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken und hob lediglich eine Braue.

»Timmy, du bist alles, aber ein Mann bist du nicht.«

Ruby begann laut zu lachen und Timmys Gesicht verfinsterte sich.

»Na warte, das bekommst du zurück«, er machte einen Hechtsprung auf Poppy zu. Sie erkannte sein Vorhaben und ergriff die Flucht.

»Du bist viel zu langsam, Timothy Moreau.«

Im nächsten Moment war Poppy schon durch die Tür verschwunden und sprintete durchs Haus. Timmy folgte ihr dicht auf den Fersen.

Kopfschüttelnd über die beiden ging ich um den Tresen herum und begann Poppys angefangenen Kürbis fertig auszuhöhlen. Ruby kam mir zur Hilfe.

»Also«, begann Ruby zu sprechen. »Wie lange ist Timmy schon in Poppy verliebt?«

Ich hielt mitten in der Bewegung inne.

»Was? Wie kommst du denn darauf?«, entgeistert sah ich von dem Kürbis auf und direkt in Rubys scharfsinnige Augen. Woher wusste sie von Timmys Gefühlen? Ich war mir unschlüssig, was ich Ruby antworten sollte.

»Ach komm schon«, sie hob eine Braue und fegte sich einen Krümel von ihrer Latzhose. »Das sieht doch jeder Blinde oder willst du mir etwa weismachen, du wüsstest es nicht?«

Seufzend gab ich nach.

»Doch, aber auch erst seit ein paar Wochen.«

»Wie? Du bist schon Ewigkeiten mit den beiden befreundet und hast es nicht gemerkt?«, erstaunt sah Ruby mich an. Ich verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern.

»Ich dachte erst Timmy wäre schwul«, kopfschüttelnd hob ich die Brauen. Ruby neben mir brach in schallendes Gelächter aus.

»Okay, offenbar hast du kein gutes Händchen in Liebesdingen«, immer noch lachend machte sie sich wieder an die Arbeit. Oh, wenn Ruby nur wüsste, wie schlecht mein Händchen in Liebesdingen wirklich war. Seufzend widmete ich mich wieder dem Kürbis. Eine Sekunde später bemerkte ich, dass Poppy zurück in die Küche kam.

»Na, hast du Timmy gezeigt wo der Hammer hängt oder…?«, ich verstummte, als ich aufblickte und Poppys aschfahles Gesicht bemerkte.

»Poppy? Ist alles in Ordnung bei dir?«, fragte ich besorgt und legte den Kürbisschaber beiseite. Poppy wirkte, als hätte sie einen Geist gesehen. Ihre braunen Augen waren vor Schrecken weit geöffnet und sahen ins Leere.

»Poppy?«, auch Ruby startete einen Versuch. Langsam hob Poppy den Kopf und sah uns endlich an.

»Ich ähm … Mir ist eingefallen, dass ich noch etwas Wichtiges zu erledigen habe. Ich muss los«, mit diesen Worten schnappte sie sich ihre Autoschlüssel, die auf der Theke lagen und war im Begriff zu gehen. Ruby und ich warfen uns einen zweifelnden Blick zu. Dann setzte ich mich auch schon in Bewegung und folgte Poppy aus der Küche.

»Hey, jetzt warte mal«, rief ich, ehe ich sie an der Schulter zu packen bekam und zu mir herumdrehte. Noch immer war ihr Gesicht leichenblass. Sie wirkte, als wäre sie in Gedanken ganz woanders. »Was ist los mit dir, Poppy?«

Sie schien zu zögern.

Daraufhin nahm sie allerdings einen tiefen Atemzug, als müsste sie sich sammeln und innerlich darauf vorbereiten, die nächsten Worte auszusprechen.

Sie sah mir tief in die Augen.

»Timmy hat mich gerade geküsst.«

Bestürzt riss ich die Augen auf. Ich benötigte ein paar Sekunden, um den Inhalt des Gesagten zu verarbeiten. Mir fehlten die Worte. Meine Güte, gerade unterhielt ich mich noch mit Ruby über Timmys Gefühle für Poppy und eine Sekunde später hatte er sie geküsst!

»Ich weiß«, sagte Poppy, als sie meinen Gesichtsausdruck sah. »So ging es mir auch.« Poppy ließ die Schultern hängen und ein Anflug von Wut huschte über ihre Züge. Kopfschüttelnd ging sie rückwärts Richtung Tür.

»Ich muss hier weg, bitte sei nicht sauer. Ich ruf dich an, okay?«

»Okay«, es war das einzige Wort, das ich in diesem Moment über die Lippen bekam. Im nächsten Augenblick war Poppy auch schon zur Tür hinaus verschwunden. Eine ganze Weile lang starrte ich noch auf die Haustür, ehe ich mich umdrehte, um zurück zur Küche zu gehen.

Timmy hatte Poppy tatsächlich geküsst. Ich konnte nachvollziehen, weshalb Poppy derart durch den Wind zu sein schien. Schließlich war sie mit meinem Bruder in einer Beziehung und Timmy war zu allem Überfluss auch noch ihr bester Freund. Nur verständlich, dass sie die Flucht ergriff. Immerhin hatte sie nicht die leiseste Ahnung von Timmys Gefühlen gehabt. Ich würde dringend mit Poppy reden müssen, sobald sie sich etwas gesammelt hatte.

Als ich in die Küche trat, saß Timmy auf einem Barhocker am Küchentresen und hatte das Gesicht in den Händen vergraben. Ruby redete leise auf ihn ein. Höchstwahrscheinlich ein vergeblicher Versuch, ihn zu beruhigen. Ich fing Rubys Blick auf, der mir bestätigte, dass sie bereits im Bilde darüber war, was soeben zwischen Timmy und Poppy vorgefallen war.

»Was habe ich nur getan? Sie hat einen Freund! Und ich habe unsere Freundschaft zerstört«, Timmy ließ seinen Kopf entmutigt auf den Tisch fallen. »Ich bin ein Idiot.«

»Quatsch, das bist du nicht«, entgegnete Ruby.

»Du hast alles richtig gemacht. Sieh es doch mal so: jetzt weiß sie über deine Gefühle Bescheid und du musst ihr nichts mehr vormachen.«

Seitens Timmy kam lediglich ein bedrücktes Stöhnen.

»Wie hat sie denn überhaupt reagiert?«, versuchte Ruby es erneut.

»Na wie wohl?«, Timmy warf die Hände in die Luft. »Im ersten Moment war sie war völlig erschrocken und hat mich angesehen, als wäre ich Thanos und wollte mit einem einzigen Schnippen die Hälfte der Weltbevölkerung auslöschen. Dann hat sie mich weggeschubst und die Flucht ergriffen.«

»Naja, es kann eben nicht jeder ein Robert Downey Junior sein«, warf Ruby belustigt ein, wofür sie sich einen vernichtenden Blick seitens Timmy einhandelte. Beschwichtigend hob sie die Hände.

»Sorry.«

»Okay, können wir aufhören in dieser kryptischen Marvel-Sprache zu sprechen?«, mischte ich mich ein und zuckte ahnungslos mit den Achseln. Ruby sah mich mit einem amüsierten Ausdruck im Gesicht an.

»Was Timmy damit sagen wollte, ist, dass Poppys Reaktion eine absolute Katastrophe war«, sie hielt kurz inne und schürzte nachdenklich die Lippen. »Wenn ihr mich allerdings fragt, hat Poppy in Anbetracht der Tatsache, dass sie keinerlei Ahnung von Timmys Gefühlen hatte, gar nicht so übel reagiert.«

»Sie wird mich hassen«, kopfschüttelnd starrten Timmys blasse Augen ins Leere.

»Das wird sie nicht«, schaltete ich mich nun ebenfalls ein. »Timmy, du bist ihr bester Freund, wie könnte sie dich jemals hassen? Gib ihr einfach etwas Zeit und dann sprecht ihr euch aus.«

Timmy seufzte. »Ich hoffe du hast recht.«

Eine ganze Weile lang herrschte Stillschweigen, bis ich erneut das Wort ergriff.

»Timmy?«

»Hm?«, gedankenverloren saß er am Tresen und starrte deprimiert auf seine Hände hinab. Dies war der Moment, in dem ich ausholte und ihm einen Klaps auf den Hinterkopf gab.

»Hey! Wofür war dass denn?«, empört drehte er sich um, fasste sich an den Hinterkopf und sah verärgert zu mir hoch.

Ich hob eine Braue, während meine Lippen sich zu einem leichten Schmunzeln verzogen.

»Das war dafür, dass du die Freundin meines Bruder geküsst hast.«

Timmy seufzte.

»Das hab’ ich wohl verdient.«

Nachdem Ruby, Timmy und ich unser Werk vollbracht hatten, verabschiedeten die beiden sich und fuhren nach Hause. Es dauerte nicht lange, bis Dad und Lukas von der Arbeit kamen. Da Thanksgiving vor der Tür stand, hatten sie heute früher Schluss gemacht und gemeinsam bereiteten wir das Abendessen vor.

Traditionellerweise gab es Roast Turkey mit Süßkartoffeln, Cranberries und Bohnen. Thanksgiving war merkwürdig ohne Mom. Ich erinnerte mich noch zu gut daran, wie wir Jahr für Jahr zusammen in der Küche herumgewirbelt waren, ihren Anweisungen folgten und ihr geholfen hatten, ein riesiges Festmahl zuzubereiten. Heute war nun ich diejenige, die Dad und Lukas dirigierte. Jedes einzelne ihrer Rezepten hatte ich mir gemerkt. Insgeheim hoffte ich, dass sie stolz auf mich wäre.

Da Tante Carolyn im Krankenhaus arbeitete und heute kurzfristig für eine Spätschicht gerufen wurde, konnte sie leider nicht kommen. Laut Tante Carolyn würde Adam das Fest bei Freunden verbringen, wobei ich mir jedoch kaum vorstellen konnte, dass Adam überhaupt Freunde besaß. Mir war es jedenfalls mehr als recht. Dafür kündigten sie allerdings an, diesen Samstag zu Besuch kommen zu wollen, wie Lukas mir mitgeteilt hatte. Glücklicherweise war ich an diesem Tag bereits mit Poppy verabredet.

Da weder die Großeltern meines Dads noch die meiner Mom noch lebten, waren es heute Abend nur Dad, Lukas, Mia und ich. Zu viert saßen wir schließlich am Tisch und warteten darauf, dass Dad zu sprechen begann. Einer der wichtigsten Bräuche an diesem Feiertag war das Dankgebet zu Tisch. Dieses wurde meistens vom Familienoberhaupt gesprochen. Daraufhin offenbarte jeder Anwesende reihum wofür er danken wollte, was ihn in dem vergangenen Jahr hat aufhorchen lassen und was er sich für die Zukunft wünschte.

Dad griff nach unseren Händen. Stille senkte sich über den Tisch und ich wartete gespannt darauf, was Dad zu sagen hatte. Selbst Mia reichte Lukas und mir jeweils eine Hand und sah aufmerksam zu Dad auf.

»Zunächst einmal bin ich froh, dass wir alle hier zusammensitzen«, Dad lächelte jeden einzelnen von uns mit seinen warmen braunen Augen an. Das Alter zeichnete sich bereits auf seinem Gesicht ab. Doch noch immer erkannte man sein gutes Aussehen. Die kurzen, dunklen Haare, die feinen Gesichtszüge. In jungen Jahren mussten ihm die Frauen wohl zu Füßen gelegen haben.

»Ich danke Gott für jedes einzelne meiner Kinder. Ihr seid wunderbar. Am Morgen genügt mir schon ein einziges Lächeln von euch, um mir den restlichen Tag mit Freude zu erfüllen. Ihr seid alles was ich habe und alles was ich brauche. Ich möchte, dass es euch gut geht und dass all eure Träume in Erfüllung gehen, dass ihr glücklich seid«, Dad hielt kurz inne und senkte den Blick. Seine Ansprache berührte mich zutiefst, insbesondere, da Dad für gewöhnlich kein Mann der großen Worte war.

»Die letzten Monate waren nicht leicht für unsere Familie. Ihr habt eure Mutter verloren und mir wurde meine große Liebe genommen. Das war ein schmerzhafter Einschnitt in unser Leben. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke, sie nicht vermisse und ich glaube, euch ergeht es nicht anders«, in diesem Moment bemerkte ich schockiert, wie eine einzige Träne Dad über die Wange rollte. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. Noch nie. Dad weinen zu sehen, war eines der traurigsten Dinge, die ich jemals gesehen hatte und so dauerte es nicht lange, bis auch bei mir die erste Träne kullerte.

»Aber eure Mutter würde sicherlich nicht wollen, dass wir in Trauer versinken. Sie hätte gewollt, dass es uns gut geht, dass wir glücklich sind und das Leben genießen. Denn Beth war das pure Leben. Sie hat mir beigebracht, dass es nicht nur schwarz und weiß gibt, sie hat mir gezeigt, wie bunt das Leben sein kann. Sie war großartig. Und dank ihr, habe ich hier drei weitere großartige Menschen vor mir sitzen. Ich danke Gott dafür, dass ich die Liebe kennenlernen durfte. Ich danke Gott dafür, dass er mir diese drei wundervollen Kinder geschenkt hat. Ich danke ihm dafür, dass es uns allen gut geht und ich hoffe für die Zukunft, dass ihr alles erreicht, was ihr euch vornimmt und dass all eure Träume und Wünsche in Erfüllung gehen.«

Dad beendete seine Ansprache.

Unzählige Tränen rannen mir übers Gesicht. So viele Emotionen wirbelten in mir. Trauer, Glück, Dankbarkeit. Dads Worte hatten mich sehr bewegt. Ich konnte die Liebe, von der er gesprochen hatte, förmlich spüren. Ich drückte Dads Hand für einen kurzen Augenblick etwas fester. Wärme durchströmte meinen ganzen Körper. Noch nie hatte ich ihn derart emotional erlebt oder ihn so über Mom sprechen hören. Jedes seiner Worte war eine Metapher, aus der man heraushören konnte, wie sehr er Mom geliebt hatte.

Nämlich aus tiefstem Herzen.

Das, was Mom und Dad geteilt hatten, musste tatsächlich wahre Liebe sein und ich hoffte, dass ich sie eines Tages ebenfalls finden würde. Dad gab das Wort an mich weiter.

Zunächst stockte ich. Dann nahm ich einen tiefen Atemzug, und begann zu sprechen. Ich berichtete davon, dass ich dankbar dafür war, Teil dieser Familie zu sein. Ich erzählte sogar von Mom, dass ich oft an sie dachte und darüber, wie sehr ich sie vermisste.

Zum ersten Mal seit sie gestorben war, konnte ich vor Dad über sie sprechen, konnte meine Trauer vor seinen Augen zulassen. Es tat unglaublich gut und war befreiend. Ich spürte, wie auch er meine Hand für einen kurzen Moment etwas fester drückte. Diese schlichte Geste gab mir unendlich viel Kraft. Zum Schluss teilte ich noch meine Zukunftswünsche mit; dass ich hoffte mein letztes High School Jahr erfolgreich abzuschließen und eine Zusage an einem geeigneten College zu erhalten. Ich hatte mich an mehreren Universitys im Umkreis beworben, Hauptfach selbstverständlich englische Literatur.

Als nächstes war Lukas an der Reihe. Auch er bedankte sich für den Zusammenhalt in unserer Familie, der immer vorhanden war, egal wie holprig es auch sein mochte. Schließlich äußerte er noch seine Wünsche und Ängste bezüglich der Zukunft, insbesondere was unsere Firma anbelangte. Doch im Großen und Ganzen machte Lukas einen zufriedenen Eindruck.

Die letzte in der Reihe war Mia. Ich war mir unschlüssig, ob sie all das, worüber wir geredet hatten verstand. Die ganze Zeit über war sie recht still gewesen und hatte unseren Reden lediglich gelauscht. Mia sah auf und grinste breit, dann begann sie zu reden.

»Ich danke Gott auch für unsere Familie. Ich vermisse Mom und bin traurig darüber, dass sie nicht mehr da ist«, ihre braunen Kulleraugen nahmen für einen kurzen Moment einen traurigen Ausdruck an. »Aber ich denke, dass es ihr gut geht im Himmel und für die Zukunft hoffe ich, dass alles was wir uns wünschen in Erfüllung geht«, sie hielt kurz inne, dann wanderte ihr Blick zu mir. »Und dass alle glücklich werden.« Sie lächelte mich an und für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, dass sie diesen letzten Satz explizit an mich richtete. Ich erinnerte mich daran, wie traurig sie mich zuletzt erlebt hatte wegen Logan und schluckte schwer. Wie kam es, dass meine vierjährige kleine Schwester nur so scharfsinnig sein konnte?

Nach Mias Rede bedankte Dad sich für unsere tollen Worte und eröffnete das Essen. Trotz dass wir alle so viel aßen, blieb jede Menge übrig. Als es zum Nachtisch überging, stopfte ich mit Mühe das letzte Stückchen Kürbiskuchen in mich hinein und hatte das Gefühl, gleich zu platzen.

Ich zwang mich zum Aufstehen und half Dad und Lukas noch beim Aufräumen. Anschließend ließen wir uns alle gemeinsam im Wohnzimmer nieder, plauderten noch etwas und spielten alte Brettspiele. Der Abend tat unheimlich gut und erst jetzt bemerkte ich, wie sehr ich es vermisst hatte, mit meiner Familie Zeit zu verbringen.

Kurz nach Mitternacht teilte Dad uns mit, dass er Mia, die inzwischen auf dem Sofa eingeschlafen war, zu Bett bringen würde. Auch ich verabschiedete mich und ging nach oben.

Nachdem ich meine übliche Routine erledigt hatte, lag ich hellwach im Bett und konnte nicht einschlafen. Ich hatte die Ohrstöpsel meines Ipods in den Ohren und lauschte der Musik. Natürlich hatte ich wieder auf meine Liebeskummer Playlist zurückgegriffen. Es lief gerade My Type von The Chainsmokers.

And I'm foolin' myself, 'cause I know that I'll never change ya

But you told me the truth, so I guess I can't really blame ya

No, you're not the one, but you're all I want, yeah

People say I'll get hurt, I don't know what they're so afraid of

But you're just my type

The kind that only calls me late at night

You can't decide if you'll be yours or mine

I hate to say it, but you're just my type

Yeah, you're just my type, yeah, yeah

Ich hatte die lästige Angewohnheit bei Liedern immer auf den Songtext zu achten. Selbstverständlich fand ich demnach immer Parallelen zu meiner eigenen Situation.

Unwillkürlich musste ich an Logan denken. Logan Black. Einzig und allein der Gedanke an seinen Namen ließ mein Herz höherschlagen. Gleichzeitig jedoch spürte ich eine unerschütterliche Sehnsucht und einen Schmerz, der sich tief in mein Herz grub. Es hieß immer Liebe war ein Geschenk, Liebe würde nichts kosten. Doch wenn man sich in die falsche Person verliebte, konnte es einen alles kosten.

Ja, ich lachte und ich weinte. Ich war fröhlich und traurig. Ich stand morgens auf und ging abends zu Bett. Ich lebte. Ich atmete. Und doch würde ich niemals vollkommen glücklich sein. Denn etwas fehlte mir. Er fehlte mir. Ich hatte zu viel Liebe in mir, Liebe, die ich ihm geben wollte, aber ihm nicht geben konnte. All diese Liebe sammelte sich in mir, bereitete mir Kummer und drängte danach, meinen Körper, meinen Geist, endlich verlassen zu können. Ich war immer der Überzeugung gewesen, die Zeit würde alle Wunden heilen, mittlerweile jedoch glaubte ich eher daran, dass man nur lernte mit dem Schmerz zu leben. Ich gewöhnte mich allmählich daran, dass es für Logan und mich keine Chance zu geben schien, gewöhnte mich an die Leere, die dieser Gedanke in mir auslöste.

Doch dies machte es mir in keinster Weise einfacher. Jedes Mal, wenn ich ihn in meiner Nähe wusste, schien mein Herz aufs Neue zu brechen.

Ich wusste nicht, ob ich jemals wieder für eine andere Person auf diese Art und Weise empfinden konnte. Die alleinige Vorstellung daran erschien mir absurd.

Was Logan wohl gerade machte? Instinktiv fragte ich mich, ob er Thanksgiving auch feierte? Wenn ja, mit wem? Mit seiner Schwester? Familie? Mir wurde wieder einmal schmerzlichst bewusst, wie wenig ich doch über Logan wusste. Ich hatte das Gefühl, dass seine Zurückgezogenheit und der Schmerz in seinen Augen etwas mit seiner Familie zu tun hatten. Ob ich es, so Gott wollte, irgendwann herausfinden würde?

Seufzend drehte ich mich zur Seite und griff nach dem Roman auf meinem Nachttisch. Es hatte ohnehin keinen Sinn. Ich fand keinen Schlaf. Meine Gedanken waren zu laut. Sie holten mich immer wieder ein.

Ich nahm das Buch in die Hände und starrte auf das Cover. Jane Austen, Stolz und Vorurteil. Es stammte aus Moms Jane Austen Sammlung. Daher handelte es sich auch um eine ältere Ausgabe. Die Seiten waren bereits völlig vergilbt und verrieten, dass das Buch bereits einige Mal gelesen wurde. Ich selbst kannte den Roman schon, allerdings musste ich ihn für Logans Englischunterricht noch einmal lesen. Unwillkürlich erinnerte ich mich an unsere erste Begegnung auf dem Schulflur.

»Emily Brontë?«, seine Stimme war tief, melodisch und rau. Sie jagte mir einen gewaltigen Schauer über den Rücken. Erst jetzt bemerkte ich, dass er meinen Roman in den Händen hielt und diesen betrachtete. Dann hob er seinen Blick und sah mir direkt in die Augen. Mein Herz machte einen Satz.

»Schullektüre?«, fragte er nochmals und sein rechter Mundwinkel verzog sich zu einem wunderschönen, schiefen Lächeln. Ich räusperte mich, da ich das Gefühl hatte, meine Stimme erst wieder finden zu müssen.

»Ähm, nein. Ich lese es in meiner Freizeit«, ich richtete meinen Blick auf den Roman, um mich wieder einigermaßen zu sammeln.

»Mein Lieblingsroman«, merkte ich an, in der Hoffnung, er würde mir das Buch endlich wieder zurückgeben, sodass ich von hier verschwinden konnte.

Diese Begegnung verwirrte mich zutiefst.

Im Augenwinkel sah ich, wie er die Brauen hob.

»Ein solch düsterer Roman weckt Ihre Liebe zur Literatur?«, er wirkte erstaunt.

»Scheint so«, erwiderte ich und sah wieder in seine stahlblauen Augen.

»Was ist mit Jane Austen? Stolz und Vorurteil?«, neugierig musterte er mich. Leicht lächelnd blickte ich zu Boden. Natürlich hatte ich Stolz und Vorurteil gelesen - und geliebt. Doch das war, bevor ich all diese schweren Schicksalsschläge hatte erleiden müssen.

»Ich schätze ich gehöre zu der anderen Sorte.«

»Sie mögen kein Happy End?«, ein überraschter Ausdruck legte sich über sein Gesicht.

»Doch«, flüsterte ich. »Ich glaube nur nicht mehr daran.«

Es war das erste Mal, dass wir miteinander gesprochen hatten. Ein magischer Moment. Schon von der ersten Sekunde an hatte Logan mich in seinen Bann gezogen.

Ich versuchte mich abzulenken und mich wieder auf den Roman zu konzentrieren. Er spielte im neunzehnten Jahrhundert, in der ländlichen Umgebung Londons. Es handelte von einer Liebesgeschichte zwischen Elizabeth Bennet und Mr Darcy, die erst nach Überwindung zahlreicher innerer Widerstände, allem voran Stolz und Vorurteilen, zueinander fanden. Zudem thematisierte und kritisierte der Roman zum Teil auch die englische Klassengesellschaft zur damaligen Zeit. Ich liebte das Buch. Man konnte nicht anders, als mit Elizabeth und Mr Darcy mitzufiebern. Im Grunde fühlten sie sich schon von Anfang an zueinander hingezogen. Allerdings ließen sie zu viele Missverständnisse aufkommen. Beide waren schlicht und ergreifend zu stur und zu dickköpfig.

Ich schlug die erste Seite auf und schon war ich Jane Austens raffiniertem Schreibstil verfallen.

Nach den ersten beiden Kapiteln spürte ich schließlich die Müdigkeit, die meine Augenlider schwer werden ließ. Es dauerte nicht lange und schon versank ich in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Please don't leave me

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