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Riese oder Scheinriese?
ОглавлениеKennen Sie die Geschichte von Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer? Die beiden begeben sich mit ihrer Lokomotive Emma auf Irrwegen in die Wüste namens »Ende der Welt«. Nicht wissend, wo sie sich befinden und wie sie aus der Wüste wieder herausfinden können, entdecken sie am Horizont einen bedrohlichen Riesen, dessen Größe auch die höchsten Gebirge der Welt wie Zündholzschachteln erscheinen lässt. Jim Knopfs Knie zittern, während Lukas mutig vorangeht und sich dem Riesen nähert. »Die Angst hilft dir nicht weiter, Jim. Wenn man Angst hat, sieht alles viel bedrohlicher aus, als es in Wirklichkeit ist. Und Weglaufen macht es nur noch schlimmer.« Jim beschließt, Lukas nicht im Stich zu lassen und folgt ihm mit weichen Knien. Mit jedem Schritt, den sie auf die Gestalt zumachen, wird diese ein Stückchen kleiner. Als sie noch hundert Meter entfernt sind, scheint der »Riese« kaum mehr größer als ein Kirchturm, nach weiteren fünfzig Metern ist er auf die Größe eines Hauses geschrumpft. Sobald Jim und Lukas der Gestalt direkt gegenüber stehen, erweist sie sich als genau so groß wie sie selbst und stellt sich als Herr Tur Tur vor. Herr Tur Tur erläutert, dass er sich die Wüste zur Heimat gemacht hat, damit er andere Menschen aufgrund seiner scheinbar bedrohlichen Größe nicht unnötig in Angst versetzt. Er erzählt von seiner schrecklichen Einsamkeit aufgrund seines so großen Erscheinungbildes aus der Distanz. Eigentlich sei er gar kein Riese, sondern nur ein Scheinriese und ein freundlicher Zeitgenosse noch dazu. Er stellt dies auch sofort unter Beweis, indem er den beiden den Weg aus der Wüste zeigt. Jim und Lukas verabschieden sich und stellen fest, dass mit jedem Schritt, den sie setzen, Herr Tur Tur wieder größer und größer wird. Jim Knopf gibt sich in diesem Moment ein stilles Ehrenwort, nie wieder vor irgendjemandem oder irgendetwas Angst zu haben, bevor er die Situation nicht aus der Nähe betrachtet hat. Im Folgeband »Jim Knopf und die Wilde 13« holt Jim den friedlich-geselligen Herrn Tur Tur auf seine Heimatinsel Lummerland, wo er die Aufgabe eines lebenden Leuchtturmes übernehmen soll. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten! Die Seefahrer nehmen Herrn Tur Tur schon von weitem wahr, Herr Tur Tur ist nicht mehr so einsam und auf der kleinen Insel sind die Distanzen zu gering, um dem Scheinriesen eine bedrohliche Größe zu verleihen!
Genau so verhält es sich oft auch mit unseren eigenen Zweifeln, Unsicherheiten und Ängsten. Wenn wir uns dazu durchringen, uns ihnen zu nähern, und sie als Verbündete anerkennen, werden sie meist zahm und zutraulich, ja können sich sogar als gesellig und freundlich wie Herr Tur Tur erweisen – und vielleicht sogar als nützlich! Wenn wir jedoch vor ihnen weglaufen, werden sie immer größer und bedrohlicher. Denken Sie doch das nächste Mal, wenn Sie sich vor irgendwelchen Ängsten ins Bockshorn jagen lassen, einfach an den freundlichen Herrn Tur Tur aus der Wüste »Ende der Welt«. Und vielleicht geben Sie sich wie Jim Knopf auch das Ehrenwort, Ihre Widerstände und Ängste aus der Nähe zu betrachten und neu einzuschätzen.