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Das Wagnis des tiefen Eintauchens
ОглавлениеIn meinen Einzelcoachings vergleiche ich diesen Prozess des Eintauchens mit einem Splitter, der in einem Finger steckt. Manchmal bohren sich diese kleinen, unerwünschten Fremdkörper unbemerkt in unsere Haut. Erst Stunden oder Tage später bemerken wir, dass sich da ein kleiner Eindringling eingenistet hat. Mit Pinzette, Nadel und in extremen Fällen sogar mit Hilfe einer Lupe befreien wir den Splitter aus unserem Finger. Diese Dinger sitzen teilweise so tief in unserer Hautschicht, dass wir sie regelrecht »herausoperieren« müssen. Das kann unangenehm schmerzen. Trotzdem ist es notwendig, um eine Entzündung oder gar Blutvergiftung zu vermeiden. Nach diesem Befreiungsakt kann Blut fließen, und wir packen ein Pflaster auf die Wunde. Diese heilt, und nach spätestens drei Tagen haben wir den lästigen Splitter vergessen. Genau das gilt auch für unsere tiefsitzenden Ängste: Erst wenn wir tapfer in unsere empfindlichsten Bereiche eintauchen, diese verstehen, akzeptieren und sie wie den Splitter freisetzen und an die Oberfläche bringen, ist es möglich, die dahinterliegende Angst im ersten Schritt einmal zu erkennen. Ja, dieser Prozess des Eintauchens und Erkennens wird kurzfristig intensive Schmerzen verursachen. Aber er ist unbedingt erforderlich, um zu verstehen, wo Ihre Angst sitzt, und um ihr entschlossen zu begegnen.
Es geht dabei wirklich darum, tief einzuatmen und – wie beim Tauchgang – in das Geflecht der Angst sehr bewusst einzutauchen. Denn wir sind ja im Grunde alle Meister darin, unsere Ängste zu verdrängen und – unbewusst – diverse Kompensationsstrategien zu entwickeln. Das kann funktionieren und in gewissen Fällen sogar die richtige Lösung darstellen. Kritisch wird es jedoch, wenn uns unsere Ängste massiv dabei im Weg stehen, unseren Zielen, Träumen und Sehnsüchten nachzugehen und diese zu erfüllen. Ein Architektur-Fotograf mit Höhenangst ist in seinem Tun und Wirken stark eingeschränkt. Eine Unternehmerin, die oft unterwegs ist und jährlich über 100 Nächte in Hotels verbringt, ist ihrer Angst, alleine zu sein, nahezu »ausgeliefert«. Ein Friseur mit Angst vor Haaren hat nicht die optimale Voraussetzung für eine internationale Hairstyling-Karriere mit Buchungen bei der New Yorker Fashionweek. Eine Fernbeziehung nachhaltig zu pflegen kann mit atemberaubender Flugangst anstrengender werden als es ohne Flugangst der Fall wäre. Erst wenn es so richtig unangenehm und unbequem wird, versuchen die Betroffenen aktiv, ihre Ängste zu mindern oder gar loszuwerden. Aber solange wir uns durch unsere Angst nicht stark eingeschränkt fühlen und unsere Ängste uns meist »in Ruhe« lassen, treten bequeme Vermeidungs- und Kompensationsstrategien auf, die uns »helfen«, weiterhin relativ unbehelligt unseren Weg zu gehen. Dabei stellt sich jedoch eine wichtige Frage: Was wäre, wenn? Was wäre nicht alles möglich, wenn wir gegenüber unseren Ängsten, auch wenn sie uns gerade nicht direkt beeinträchtigen, nicht mehr den Kopf in den Sand steckten und ihnen erlaubten, an die Oberfläche zu driften? Wenn die Selbstzweifel, Unsicherheiten, Ängste und schweren Gedanken, die uns unterschwellig schon lange begleiten, endlich weichen könnten?