Читать книгу Mehr Mut, Mensch! - Lorenz Wenger - Страница 26
Formen der Angst
ОглавлениеSo unterschiedlich wir als Menschen sind, so sind es auch unsere Ängste. Das macht es auch so ungeheuerlich kompliziert. Eine genau gleiche Situation wird von unterschiedlichen Menschen daher völlig unterschiedlich interpretiert und wahrgenommen. So kann ein Kurzflug von Berlin nach Zürich für jemanden mit Flugangst zur Tortur werden, während sein Sitznachbar jedes Luftloch in 10 000 Metern Flughöhe sichtlich genießt. Selbst die Flugangst kann unterschiedliche Ausprägungen haben: Verlustangst (weg von Zuhause, weg von Schatzi, weg vom geliebten Haustier), über Kontrollverlust (»ausgeliefert sein«), schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit (turbulenter Horrorflug mit Blitzeinschlag, Durchstarten bei der Landung) bis hin zur ausführlichen Überlieferung von schlechten Erfahrungen durch Dritte oder auch die klassische Angst vor der tatsächlichen, statistisch verschwindend kleinen Möglichkeit eines Absturzes.
Einmal mehr darf die aktuelle Pandemie als exemplarisches Beispiel von Ängsten herhalten: Während ich diese Zeilen schreibe, wir befinden uns mitten im Lockdown der zweiten Corona-Welle, sind in unserer Gesellschaft die Formen der Angst unterschiedlich spürbar. Während sich die einen tatsächlich vor einer Ansteckung fürchten und somit Angst vor Krankheit und Tod haben, werden andere von Existenzängsten geplagt. Ihre Gedanken drehen sich ununterbrochen um Personal-, Miet- und Versicherungskosten und Rechnungen, die nicht mehr bezahlt werden können. Sie sehen sich in der Zukunft schon als Arbeitslose in Armut unter der Brücke lebend oder befürchten, ihre Hypothek nicht mehr tragen zu können, das Eigenheim verkaufen zu müssen oder ihr Unternehmen in den Konkurs zu steuern. Wieder andere haben Angst vor den aktuellen politischen Entscheidungen und ihren Folgen. Sie fürchten sich vor Demokratie- und Freiheits-Verlust, vor diktatorischen Tendenzen und sehen sich als Opfer von politischen Regelungen und Einschränkungen der Freiheit. Das sind drei komplett verschiedene Typen von Ängsten!
Klar ist die gemeinsame Ursache dieser drei Ängste die Existenz des Virus. Doch die Form, wie sich diese Angst emotional breitmacht und die Steuerung über unsere Gedanken, Entscheidungen und Handlungen übernimmt, ist höchst individuell. Welche Angst ist nun realer? Wer ist Realist? Wer hat Recht? Wer ist ein Angsthase? Stellen Sie sich vor, wie zwei Menschen miteinander sprechen, die total unterschiedliche Ängste vor dieser Pandemie haben. Solange sie ihre Ängste und Motive nicht selbst kennen und schon gar nicht aussprechen, werden sie sich kaum verstehen. Sie sprechen aneinander vorbei. Doch oft wissen wir selber nicht, was genau nun unsere Angst ist, wo sie herrührt und wie und wo sie ihren Anfang nahm. Daher lohnt es sich in jeder neuen als bedrohlich wahrgenommenen Situation, genauer hinzusehen, einzutauchen und die tatsächlichen Schmerzpunkte zu identifizieren.