Читать книгу Mehr Mut, Mensch! - Lorenz Wenger - Страница 33
Überprüfen Sie Ihre Wahr-Nehmung
ОглавлениеAuch Sie haben bestimmt schon unzählige Male die Metapher vom berühmt-berüchtigten halbvollen oder halbleeren Glas gehört und wissen daher genau, dass wir in kritischen Momenten nur einfach mal schnell positiv denken müssten! Das ist für viele Menschen jedoch viel einfacher gesagt, als gedacht. Wenn jemand gerade »den Blues hat« und einfach nicht gut drauf ist, bringen diese beliebten Metaphern, Kalendersprüche und Motivations-Parolen wenig bis nichts. Im Gegenteil, sie nehmen die aktuelle Gemütslage der Betroffenen nicht ernst und bagatellisieren die Situation, was nur noch zu stärkerer Abwehr und schnellerem Rückzug führt. Wir alle bewerten Situationen nun mal auf unterschiedliche Art und Weise. Das hatten wir schon so bei den Ängsten – Sie erinnern sich? Was wir wahrnehmen und somit auch als wahr annehmen, hängt primär von unserem ureigenen Repräsentationsystem ab, also unseren fünf Sinneskanälen und anschließend von unserer Bewertung und Abgleichung bisheriger Erfahrungen. Dieser Abgleich geschieht meist unbewusst und innerhalb von Millisekunden. Bevor wir uns im nächsten Teil dieses Buches mit der Bewertung beschäftigen, möchte ich mit Ihnen kurz in die Welt unserer fünf Sinneskanäle eintauchen:
Sehen (visuell), hören (auditiv), fühlen (kinästhetisch), riechen (olfaktorisch) und schmecken (gustatorisch). Wir erleben die Welt um uns aufgrund dieser fünf klassischen Sinne. Es sind quasi unsere Antennen, respektive die fünf Tore zu unserer Wahrnehmung und Interpretation. Abhängig davon, ob wir etwas nur sehen, nur hören oder beides zusammen, erleben wir es unterschiedlich intensiv. Als 1895 die Gebrüder Lumière im »Grand Café« in Paris den ersten öffentlichen Stummfilm zeigten, war das für alle Zuschauer sicherlich ein intensives Erlebnis und Spektakel zugleich. Über die Jahre nahm die Intensität der Filme in unseren Kinos zu: Es kam der Ton dazu, die Farbe, heute sogar die 3D-Brille, spürbare Bewegungen der Kinosessel, Luftböen und Wassertropfen im Gesicht und wahrnehmbare Gerüche.
Zu den klassischen fünf Sinnen kommen inzwischen weitere hinzu, wie beispielsweise das Gleichgewicht (Balance), das Temperaturempfinden und die räumliche Empfindung (Propriozeption), also wie wir unsere eigene Körperlage im Verhältnis zu einem Raum wahrnehmen. Die Wissenschaft spricht teilweise schon von bis zu dreizehn menschlichen Sinnen, wobei hierzu keine Einigkeit herrscht. Nun ist es so, dass wir uns bestimmte Sinne besser antrainiert haben als andere. Der visuelle Sinnesreiz ist bei den meisten Menschen der stärkste und liefert rund 80% aller Informationen, die wir im Gehirn verarbeiten, und beschäftigt rund ein Viertel unseres Gehirns.
Am Anfang meiner Selbstständigkeit begleitete ich ein größeres Projekt für eine Non-Profit-Organisation im Sehbehindertenbereich. Während dieser Zeit gewann ich einen Einblick in die tägliche Arbeit und Schulung von und mit sehbehinderten und blinden Menschen. Durch die starke Beeinträchtigung ihres visuellen Sinneskanals sind diese Menschen darauf angewiesen, ihre gesunden Sinneskanäle zu schulen und zu kompensieren, um so nicht nur in ihrem Alltag, sondern auch auf dem Arbeitsmarkt bestmögliche Chancen zu erlangen. Eines Tages durfte ich einem erblindeten Ausbilder dieser Institution über die Schultern schauen, als er an seinem PC etwas vorbereitete. Aus den neben ihm stehenden Lautsprechern erklang eine für mich unverständliche, synthetische Roboter-Stimme. Nicht einmal die Sprache dieser Stimme konnte ich identifizieren. Es stellte sich heraus, dass der Ausbilder sein Bildschirmlesegerät auf ein Tempo von mehr als 400 Wörtern je Minute eingestellt hatte! Für mich war das natürlich viel zu schnell, ich verstand kein Wort, während der Ausbilder täglich in diesem Tempo Dokumente in Excel, Word & Co. hört, versteht und damit arbeitet. Ich war fasziniert und von größtem Respekt erfüllt! Ich fragte ihn, wie lange es dauern würde, das Bildschirmlesegerät in diesem Tempo zu verstehen. Er meinte, dass ein Anfänger mit ca. 150 Wörtern in der Minute startet und er als geübter Ausbilder einfache Texte bis auf 500 Wörter und mehr in der Minute verstehen kann. Dieses Beispiel zeigt beeindruckend auf, wie wir unsere Sinnes-Fähigkeiten gezielt trainieren und ausbauen können.
Um Ihre persönliche, facettenreiche Wahrnehmung zu trainieren, empfehle ich Ihnen folgende Übung: Trainieren Sie jeweils eine Woche lang gezielt einen anderen als Ihren Sehsinn. Starten Sie beispielsweise mit Ihrem Gehörsinn, in der Folgewoche schärfen Sie Ihren Geruchssinn, in der dritten Woche Ihren Geschmackssinn usw. Hören Sie dazu in vermeintlich unspektakulären Situationen, wie beim Anstehen an der Kasse im Kaufhaus, beim Warten an der Bushaltestelle, im Zug, in einem Restaurant oder im Aufzug, einmal so richtig bewusst hin, welche Geräuschkulissen sich Ihnen anbieten! Sie werden völlig andere Töne, andere Nuancen wahrnehmen als bisher. Plötzlich hören Sie ungewohntes Vogelgezwitscher in Ihrer vertrauten Umgebung, verstehen die Stimmen im Hintergrund, genießen sogar das Schnurren des Rasenmähers aus der Ferne. Sie werden erstaunt sein, was Sie alles entdecken werden und wie vielfältig Ihre Sinne sein können! Warum ich das vorschlage? Weil Sie mit geschärften Sinnen fähig sind, differenzierter wahrzunehmen. Das gilt nicht nur für Rasenmäher- und Vogelgeräusche, sondern genauso für die Kommunikation mit anderen Menschen in wichtigen Gesprächen. Achten Sie auf die Zwischentöne, auf die feinen Nuancen zwischen den Zeilen. Darauf, ob jemand am Ende des Satzes in der Tonlage mit der Stimme nach oben oder nach unten geht. Welche Worte stärker oder lauter ausgesprochen werden als andere. Sie werden dadurch nicht nur besser und aktiver zuhören und verstehen, Sie werden auf einmal die vermeintlich unwichtigen Dinge wahrnehmen, die man zwar meint, aber Ihnen nicht sagt. Dadurch gewinnen Sie einen entscheidenden Empathie- und Kommunikations-Vorteil. Sie werden unausgesprochene Unsicherheiten, Zweifel und Ängste bei Ihren Mitarbeitern und Teamkollegen erkennen. Gerade als Führungsperson möglicherweise ein entscheidender Wissensvorteil, der Ihnen die Chance bietet, Ängste offen und direkt anzusprechen und zuvorkommend und unterstützend Hilfe zu bieten. Wagen Sie es auch in solchen Momenten, verblüffend und sehr direkt einzutauchen!