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Tag 2

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Dom

Mein Onkel und meine Tanten wecken mich zum Frühstück. Papas Schale steht nicht mehr auf dem Tisch.

»Wir müssen einen Bestatter suchen, der deinen Vater abtransportiert«, verkündet Désir.

Sie verbessert mich immer liebend gern. Ausnahmsweise einmal hat sie sich einen Schnitzer geleistet, die Gelegenheit lasse ich mir nicht entgehen.

»Du meinst wohl ›abholt‹.«

»Nein«, erwidert sie.

Ihr toter Bruder ist zu einem Ding geworden.

»Du gehst gleich in die Schule«, fährt sie fort. »Ich gebe deinem Direktor Bescheid.«

»Auf keinen Fall!«

»Wir fragen dich nicht nach deiner Meinung. Oder, Gaston?«

»Natürlich fragen wir ihn nach seiner Meinung, was glaubst du denn? Heute ist kein stinknormaler Tag, man verliert seinen Vater nur einmal. Hast du schon vergessen, wie das war? Alle fanden dich unheimlich tapfer, die arme Kleine. Dabei hat es dich nicht die Bohne interessiert. Du liebst nur dich selbst, andere existieren für dich gar nicht. Du hast kein Herz, als Gott die Organe verteilt hat, hat er einen Fehler gemacht, er hat dir zwei Lebern gegeben, deswegen spuckst du auch ständig Gift und Galle.«

Das Müsli in meiner Schale verklumpt, ich kriege nichts runter.

»Willst du uns begleiten, Dom?«, fragt Tante Tifenn.

Ich nicke. Ich werde Papa nicht den Klauen seiner Schwester ausliefern, keine Chance.

Jeden Morgen auf dem Schulweg komme ich an zwei Bestattungsunternehmen vorbei, aber ich hätte mir nie träumen lassen, dass ich je dort anhalten muss. Jetzt stehen wir hier auf dem Bürgersteig.

Tante Désir tritt an das erste Schaufenster. Eine Frau mit Adlernase erspäht uns und stürzt heraus, ein falsches Lächeln auf dem Gesicht. Ich nähere mich dem zweiten. Ein Mann mit schwarzem Anzug und dicken Ringen an den Fingern raucht davor. Er schielt und wirkt nett.

»Rauchen kann tödlich sein«, sage ich. »Mein Vater hat aufgehört, ist aber trotzdem gestorben.«

Der Mann tut nicht so, als wäre er traurig. Das falsche Lächeln der Frau nebenan schmilzt wie Salzbutter in der bretonischen Sonne. Wir folgen dem Mann in seinen Laden. Er klappt einen Ordner auf, fragt nach Papas Namen, notiert ihn respektvoll.

»Wissen Sie, die Toten sind auch nur Menschen. Ich wollte schon immer Bestatter werden.«

Er macht einen vertrauenswürdigen Eindruck. Ist es nur ein Zufall, dass sich Bestatter auf Gevatter reimt? Gestatten, Gevatter Tod. Ich werfe einen Blick unter den Tisch. Papas Gevatter ist ein Rocker: Er trägt spitze Cowboystiefel aus Krokoleder wie Johnny Hallyday. Gerade zählt er die verschiedenen Leistungen auf: hygienische Grundversorgung – dabei ist Papa bestimmt nicht schmutzig, er hat jeden Morgen geduscht –, Zeitungsanzeigen. Der Sarg: »Eiche massiv, zweifarbig, seidenmatt lackiert, Seiten gewölbt mit Zierleisten, flacher Deckel, dreifache Höhe«. Das Modell heißt Tuileries, wie der Park in der Nähe der Comédie-Française, wo ich mit Papa mal ein Stück von Molière gesehen habe. In den Lucky-Luke-Comics misst der Totengräber die Leute immer schon aus, wenn sie noch leben, um ihren Sarg im Voraus zu zimmern. Papa kannte die kleine Anzeige in der Nugget Gulch Gazette auswendig: »Luke Mallow zog seine Stiefel nie aus und starb auch darin. Die Person, die sie ihm bei der Totenwache versehentlich entwendet hat, wird gebeten, sie ihm für die Beisetzung zurückzubringen.« Alles ist durchgeplant. In vier Tagen muss ich nicht zur Schule, da ist die Bestattung. Anscheinend hat Papa Gaston genau erklärt, was er will: eine Messe mit allen und eine Einäscherung ohne alle. Weder Familie noch Freunde sind zum Grillfest eingeladen. Danach streuen wir seine Asche ins Meer. Ich kann nicht einmal weinen, ich bin wie vor den Kopf geschlagen.

Wir gehen nicht direkt nach Hause. Onkel Gaston will noch mit mir in den Buchladen. Dort unterhält er sich mit der Besitzerin, während ich Comics durchblättere. Ist sie die geheimnisvolle Blondine? Ich habe keine Ahnung, was ich hier soll, Gaston braucht mich offensichtlich nicht. Warum hat er darauf bestanden, dass ich mitkomme? Als wir schließlich unser Haus erreichen, ist die Antwort klar. Gevatter Cowboystiefel steigt gerade in ein langes schwarzes Auto. Dessen Türen schließen sich wie die des Gefängnisses, das Johnny in Le Pénitencier besingt. Die Toten sind zwar auch nur Menschen, aber sie fahren in besonderen Autos.

Unsere Freundin Kerstin, die Concierge, steht draußen auf dem Bürgersteig. Sie wirkt völlig aufgelöst. Sie war oft zum Abendessen bei uns. Ihre Familie lebt in Deutschland. Sie ist nach Paris gekommen, um Krankenpflegerin zu werden. Désir, die älter und hässlicher ist, schaut gern auf sie herab. Der arme Georges schaut sie gern an. Hat sie Papa getötet?

Ich stürme die Treppe hinauf und in Papas Schlafzimmer. Das Bett ist abgezogen worden, auf dem Kaminsims thronen noch zwei Champagnergläser. Daneben liegt ein kleines Pferd mit Flügeln und einem goldenen Schweif, das jemand aus dem Draht und der Folie um Korken und Flaschenhals gebastelt hat. War es die blonde Frau? Am liebsten würde ich das hübsche, filigrane Tierchen zerquetschen. Ich schenke mir ein Glas ein. Der Champagner ist warm und schal. Ich verschlucke mich, und die Flüssigkeit läuft mir übers Kinn. Claire hat immer gesagt, wenn man aus dem Glas eines anderen trinkt, kann man seine Gedanken lesen. Plötzlich geht die Tür auf, mein Onkel und meine Tanten stehen im Rahmen.

»Was treibst du da, du Lümmel?«, kreischt Désir. »Besäufst du dich etwa? Mit fünfzehn?«

»Champagner trinkt man kalt«, meint Gaston und nimmt mir die Flasche aus der Hand.

»Es gibt andere Mittel und Wege, um sich zu berauschen«, fügt Tifenn hinzu. »Mir hat die Musik geholfen, als Yannig fortgegangen ist.«

Ihr Satz schmettert mich nieder. Bis jetzt war ich in einem Computerspiel, habe Quests erledigt. Papa konnte jederzeit wieder aus dem Leichenwagen springen. Aber Yannigs Fortgang macht Yrieix’ Rückkehr unmöglich.

Ich stopfe mir das geflügelte Pferd in die Tasche. Erst dachte ich, es wäre Pegasus, aber in Wahrheit ist es ein Thestral aus Harry Potter, ein Drachenpferd mit schwarzen Flügeln, das man nur wahrnimmt, wenn man jemanden hat sterben sehen. Ich habe Papa zwar nicht sterben gesehen, aber es durch meinen Computer gespürt.

Die letzte Nacht war glaz. Das hat Papa gesagt, als Claire gegangen ist. Es ist ein unübersetzbares bretonisches Wort, das die Farbe des Meeres beschreibt, zwischen Blau und Grün, die Farbe ihrer Augen. So hat er den Schmerz ausgedrückt, von seiner Insel und der Frau, die er liebt, getrennt zu sein. Jetzt bin ich glaz. Die lebendigen Farben sind mit Papa gestorben. Es bleiben nur die kalten, dunklen, bleichen, herzzerreißenden.

Pinguine bringen Glück

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