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Tag 6

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Dom

Am nächsten Tag teilt Onkel Gaston mir offiziell mit, dass er mein Vormund ist. Er kann ja nicht ahnen, dass ich Désir, Tifenn und ihn in der glaz-Nacht belauscht habe.

»Ich will deinen Vater nicht ersetzen, Dom. Sein Vertrauen ehrt mich. Ich kann dir nicht in Mathe helfen und bin ein jämmerlicher Koch, aber ich werde immer für dich da sein. Es soll dir an nichts fehlen.«

Niemand wird Papa je ersetzen, ich hasse Mathe, und bei Gwenou schmeckt es immer. Es soll mir an nichts fehlen? Ich versuche mein Glück, damit habe ich Papa schon seit Jahren genervt.

»Kriege ich einen Hund?«

Mein Onkel lächelt. »Glaubst du wirklich, ich lasse mich so leicht übers Ohr hauen? Hunde sind glücklicher auf dem Land. Du kannst dir einen anschaffen, wenn du dort lebst.«

»Auf Groix?«

»Wo du willst. Meine Schwester hat uns zum Essen eingeladen. Sie meint es nett.«

»Müssen wir die Einladung annehmen?«

»Ich fürchte, ja. Wir sollten bald los.«

»Kommt Tante Tifenn auch?«

»Die Einladung gilt nur für uns, also sag Tifenn nichts davon, das würde sie bloß verletzen.«

Kaum haben wir Tante Désirs Wohnung betreten, rieche ich es. Es stinkt zum Himmel, den Mief kriegen wir in hundert Jahren nicht aus den Klamotten. Wir setzen uns an den Tisch. Meine verfressenen Cousins stürzen sich auf ihre Pfännchen.

»Nimm dir Raclettekäse, Dom.«

»Ich habe keinen großen Hunger, danke. Ich warte auf den Hauptgang.«

Désir reißt die Augen auf.

»Aber das ist der Hauptgang, mein Junge. Ein geselliges Mahl im Kreis der Familie. Dein Vater hat dir nur Hamburger, Nudeln und Pizza vorgesetzt, das war völlig absurd! Und deine Mutter war Vegetarierin, was für ein Blödsinn. Du musst lernen, dich anständig zu ernähren. Mit Proteinen und grünem Salat.«

Claire hat uns am 11. September verlassen, wir sind zusammengebrochen wie die Türme des World Trade Centers vor meiner Geburt. An unserem letzten gemeinsamen Abend hat sie uns Käsefondue gemacht. Seitdem wird mir von warmem Käse schlecht, deswegen kriege ich auch kein Raclette runter, lieber sterbe ich.

»Sorry, aber ich bin allergisch gegen Käse.«

»Das heißt: ›Es tut mir leid.‹ Und man kann vielleicht gegen Meeresfrüchte allergisch sein, aber nicht gegen Käse. Iss!«

Seit meiner Geburt lebe ich im selben Haus wie meine Tante, aber sie hat mich noch nie zuvor zu sich eingeladen. Entschlossen und angeekelt stehe ich auf.

»Es tut mir leid, ich fühle mich nicht wohl.«

»Du bist wirklich ein bisschen blass um die Nase«, meint Gaston besorgt.

»Ich mache dir ein Spiegelei«, sagt Désir seufzend.

Eigentlich ist es nicht ihre Art, so schnell aufzugeben. Sie verschwindet in die Küche. Ihr Bruder folgt ihr. Ich will mich gerade zu den beiden gesellen, um ihnen meine Hilfe anzubieten und Abstand vom Stinkekäse zu gewinnen, da höre ich:

»Der Bengel ist schlecht erzogen, Gaston, der braucht eine harte Hand.«

Ich kehre ins Wohnzimmer zurück. Kurz darauf bringt sie mir ein schlecht gebratenes Spiegelei mit Glibbereiweiß und Wabbeleigelb. Ich schlucke es unzerkaut runter, während meine Cousins sich den Bauch vollstopfen und mein unsichtbarer Onkel lautlos isst. Irgendwann dreht Désir sich lächelnd zu mir. An ihrem Zahnfleisch klebt Käse.

»Wir müssen zusammenhalten, als Familie. Ich habe Tifenn heute Abend nicht eingeladen, damit wir unter uns echten Le Goffs sind. Du bist jederzeit bei uns willkommen. Gaston hat keine Ahnung von Kindern. Ich könnte dir eine zweite Mutter sein. Meine Söhne betrachten dich schon jetzt als Bruder, nicht wahr, Jungs?«

Die Perfekten schauen mich aus ihren kleinen Schweinsäugelchen an.

Désir fährt mit verkniffenem Mund fort: »Aber nachdem Yrieix Gaston den Vorzug gegeben hat: Wann ziehst du zu ihm? Ich will deine Wohnung mieten, um sie mit unserer zu einer Maisonette zusammenzulegen. Den Jungs wird es da oben gefallen.«

Mit einem Kloß im Hals stelle ich klar:

»Das ist mein Zuhause. Ich ziehe nicht um.«

»Natürlich ziehst du um«, verfügt Désir. »Herrgott, Gaston, sprich endlich ein Machtwort!«

Gaston fixiert seine Schwester ruhig. »Dein Angebot wurde abgelehnt, Désir.«

»Das ist doch lächerlich, der Junge kann nicht allein wohnen.«

»Er ist nicht allein, schließlich wohnen die echten Le Goffs und die ›falsche‹ Le Goff auch hier im Haus. Wir müssen als Familie zusammenhalten, das hast du selbst gesagt. Ich hätte auch gedacht, dass Dom zu mir zieht, aber damit hat es keine Eile. Du kannst erst einmal weiter in deinem Zimmer schlafen, Dom, wenn dir das wichtig ist. Den Rest regeln wir später.«

»Ich bringe euch schon noch zum Einknicken«, meckert Désir.

»Ist das eine Drohung?«

»Das Jugendamt sieht es sicher gar nicht gern, dass ein Minderjähriger sich selbst überlassen ist. Wenn du der Sache nicht gewachsen bist, wird jemand anderes zum Sorgeberechtigten bestimmt. Ich bin eine hervorragende Ehefrau und Mutter. Da muss der Richter nicht lange überlegen.«

Die Perfekten füllen andächtig ihr fünftes stinkendes Pfännchen, ohne dem Gespräch die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. Meine Tante funkelt mich an.

»Du hättest einen viel zu schlechten Einfluss auf meine Söhne. Man sollte dich ins Militärinternat schicken, die würden einen Mann aus dir machen.«

»Da lebe ich lieber auf Groix.«

Sie lacht gemein.

»Du hast niemanden mehr auf der Insel, mein Junge, nur deine verkalkte Großmutter.«

»Ich kann bei meiner Freundin Mathilde wohnen.«

»Du bist minderjährig, du wohnst, wo wir es dir sagen. Ich bin auf diesem Kieselstein geboren und war heilfroh, als ich ihn endlich verlassen konnte. Du hast dort keine Zukunft!«

Ich eile meiner Insel zu Hilfe.

»Du hast keine Ahnung. Die Groixer sind stark und mutig. Groix war früher der wichtigste Thunfischhafen in ganz Frankreich, ich wäre stolz, wenn ich dort wohnen und meinen Lebensunterhalt verdienen könnte!«

»Du bist wirklich erstaunlich naiv, Domnin. Man muss früh damit anfangen, nützliche Freundschaften zu pflegen, sich ein solides Netzwerk zu schaffen. Meine Söhne werden in den Ferienvillen der großen Industriemagnaten, Staranwälte und Medizinkoryphäen auf der Île de Ré empfangen. Die wichtigen Leute fahren nicht nach Groix. Du wirst nirgendwo empfangen werden.«

Das geht mir ziemlich am Arsch vorbei, ich will sowieso nur bei Mathilde empfangen werden. Und die Groixer sind sehr wohl wichtig, zumindest für mich. Aber ich darf meiner Tante nicht ans Bein pinkeln, ich habe keine Lust, die drei Jahre bis zur Volljährigkeit ihrer Willkür ausgeliefert zu sein. Ganz ehrlich, nur über meine Leiche. Gaston gibt mir ein Zeichen und steht auf.

»Dieses Abendessen war eine schlechte Idee. Du hast dich nicht geändert, Désir, du warst schon immer eine Giftspritze. Dom und ich gehen zu Gwenou. Halt dich in Zukunft aus unseren Angelegenheiten raus. Kümmer dich um deine Leiche im Keller, wenn du verstehst, was ich meine.«

Désir wird blass. Noch eine Leiche. In dieser Geschichte gibt es eindeutig zu viele davon.

Wir überqueren die Straße. Gwenous Spezialität sind Miesmuscheln und Fritten, Gaston bestellt eine Portion mit Roquefort, ich eine mit Curry. Sie schmecken fast genauso gut wie im Les Garçons du Port auf Groix. Kerstin sitzt allein vor Miesmuscheln in Weißweinsoße und lernt Anatomie. Das Herz sieht aus wie eine halbe Birne. Mit Textmarker hat sie einen Satz unterstrichen: »Die Segel sind mit Sehnenfäden an den Papillarmuskeln befestigt.«

»Im Herzen gibt es Segel, wie auf einem Schiff?«

Bald ist sie fertige Krankenpflegerin. Papa hat sie einmal gefragt, warum sie ihre Ausbildung nicht in Deutschland macht. Die Frage schien sie in Verlegenheit zu bringen, deswegen hat er nicht weiter nachgebohrt. Noalig kommt herein und bemerkt uns. Sie arbeitet im Reisebüro, die ganze Welt ist ihr Spielplatz, sie sagt immer, dass ihre Kunden dämlich sind, weil es nirgendwo schöner ist als in der Bretagne. Wir machen ihr Platz, sie bestellt Miesmuscheln ohne alles.

»Wart ihr nicht eigentlich bei Désir eingeladen?«, fragt Kerstin.

»Sie will mich aufs Internat schicken, damit sie ihre Wohnung vergrößern kann.«

»Das steht nicht zur Debatte«, schaltet sich Gaston ein. »Du bleibst erst einmal bei dir wohnen, wenn dir das lieber ist. Solange ich lebe, kommt sie damit nicht durch!«

Soll das heißen, wenn er stirbt, setzt Désir ihre Drohung in die Tat um? Er ist der letzte Überlebende von drei Brüdern, in unserer Familie stirbt Mann früh. Hoffentlich sind seine Segel gut befestigt.

Die Geliebte

Mein Schatz, du hast dich kaum davongemacht, da ist die Schlacht schon in vollem Gange. Deine Kleider hängen noch im Schrank, du bekommst noch Post, dein Name steht noch am Briefkasten. Der Besitzer des Kiosks an der Straßenecke sagt zu mir, er habe dich die ganze Woche nicht gesehen, ich erwidere, du seist erkältet, ich will nicht vor seinen Augen zusammenbrechen. Jetzt stellt er sich vor, wie du schniefst und durch die Nase sprichst, ich würde dir am liebsten Tropfen und Taschentücher kaufen. Anscheinend ist deine Schwester auf deine Wohnung aus. Dein Sohn will nicht ausziehen, sie wird sich irgendwas einfallen lassen, um ihr Ziel zu erreichen. Heimlich, aber nicht still und leise, Désir ist ein Elefant im bretonischen Porzellanladen. Wäre ich nur in der Position, mich ihr entgegenzustellen. Aber Blut ist dicker als Liebe, das Gesetz steht nicht auf meiner Seite, mein Wort hätte kein Gewicht. Während ich das Debakel beobachte, fühle ich mich seltsam gespalten. Sie haben keinen Schimmer, niemand ahnt etwas von uns. Ich habe dich jeden Morgen im Treppenhaus gegrüßt, als hätte ich die Nacht nicht in deinen Armen verbracht. Sie fragen sich, wer bei dir war. »Eine Nutte?«, vermutet deine Schwester. Ich wanke unter der Beleidigung, aber ich lächele, statt zu zerbröseln. Ich lausche Ella Fitzgerald auf deinem USB-Stick, die Bewitched, Bothered and Bewildered singt. Deine Liste von Liedern, die man gehört haben muss, bevor man stirbt, hält mich am Leben.

Pinguine bringen Glück

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