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Tag 9

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Dom

Rache wird am besten kalt serviert, anders als Raclette. Früher habe ich das Wort »Aufstellung« nur mit Fußball in Verbindung gebracht. Unser Notar Monsieur Jules ruft Onkel Gaston an, um ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass Tante Désir ein Nachlassverzeichnis fordert, mit Vermögensaufstellung, weil sie »ihren älteren Bruder verdächtigt, mich zu übervorteilen«. Gaston zuckt mit den Schultern, aber ich sehe ihm an, dass das Verhalten seiner Schwester ihn verletzt.

»Sie lässt mich für deine Entscheidung bezahlen, bei dir wohnen zu bleiben, Dom. Willst du deine Meinung nicht doch noch ändern? Hast du gar keine Angst nachts, ganz allein?«

»Ich bin doch kein Baby mehr. Wie läuft so eine Vermögensaufstellung ab?«

»Ein Auktionator kommt vorbei und taxiert alles, was deinem Vater gehört hat. Aber er wird nicht in dein Zimmer gehen.«

»Taxieren? Böse angucken? Was soll das denn bringen?«

»Nicht böse angucken, schätzen. Ein Auktionator leitet die Verkäufe bei Versteigerungen, das hast du bestimmt schon mal im Kino gesehen, der Kerl, der den Hammer schwingt und ›Zum Ersten, zum Zweiten und zum Dritten!‹ ruft.«

»Papas Sachen sollen verkauft werden?«

Ich bin total geschockt. Onkel Gaston drückt mir die Schulter.

»Nein, nein, Kumpel, nur geschätzt, damit du schön viel Steuern zahlen musst. Ein Danaergeschenk meiner Schwester, die ich liebend gern an den Meistbietenden versteigern würde.«

Papa hat mich immer »mein Sohn« genannt. Für Gaston bin ich »Kumpel«. Für Tante Désir »mein Junge«. Für Kerstin »Liebelein« auf Deutsch. Für Tifenn »Domino«. In der Schule bin ich »Le Goff«. Auf Groix »Ar Gov«. Bis ich Claires Spitznamen für mich vergessen habe, hat es gedauert, aber am Ende habe ich es geschafft, ich erinnere mich nicht mehr daran.

Onkel Gaston erklärt mir, wie das mit dem Erben funktioniert.

»Als Einzelkind bist du der einzige ›Anspruchsberechtigte‹ deines Vaters, du hast Anspruch auf alles, was er besessen hat. Solange du es versteuerst.«

Ich protestiere:

»Was ist mit Claire?«

Er schüttelt den Kopf.

»Deine Eltern waren weder verheiratet noch eingetragene Lebenspartner, dein Vater hat in seinem Testament nur dich begünstigt.«

»Also erbe ich auch seinen Elektroroller?«

Gaston hat einen Morgan Coupé, einen Zweisitzer, Tifenn einen kleinen Fiat 500, Désir einen Familienvan. Sie hat Papa immer für verrückt erklärt, weil wir nur Roller gefahren sind, Elektro für ihn, Muskelkraft für mich.

»Ja.«

Wir haben einen Termin bei der Bank, zusammen mit zwei Männern in Anzug und Krawatte, die jünger sind als Papa. Notar Jules wirkt nett. Auktionator Fabien auch, und er trägt sehr schöne englische Schuhe, Papa hat mir beigebracht, sie zu erkennen. Seine eigenen hat er nur selten angezogen, um sie zu schonen. Was für eine Verschwendung. Onkel Gaston nennt den Notar und den Auktionator »meine Herren«, aber wer die geheimnisvolle Dame ist, die Papa getötet hat, wissen wir immer noch nicht.

Die Bankangestellte bekundet mir ihr Beileid, dann möchte sie mich und meinen Vormund kurz unter vier Augen sprechen, bevor wir in den Tresorraum gehen. Sie prüft unsere Ausweise, macht sich Kopien.

»Haben Sie die Sterbeurkunde? Perfekt. Und die notarielle Erbschaftsbestätigung?«

»Die was?«

Onkel Gaston reicht ihr ein Dokument und sagt zu mir:

»Damit bestätigt Monsieur Jules, dass dein Vater ein valides Testament zu deinen Gunsten aufgesetzt hat.«

»Valide?«

»Handschriftlich, datiert und unterschrieben.«

Ich lese: »Der Verstorbene verfügt den Erbfall betreffend, dass sein gesamtes Vermögen seinem Sohn Domnin Le Goff hinterlassen werden soll, wobei Dom als Rufname des Anspruchsberechtigten präzisiert ist. Die Urschrift dieser letztwilligen Verfügung befindet sich in meiner Verwahrung.«

Ich verstehe kein Wort von diesem Kauderwelsch! Was für ein Urding?

»Domnin Le Goff ist somit befähigt, als Erbe seines oben genannten Vaters, Monsieur Yrieix Le Goff, aufzutreten und zu handeln.«

Können die nicht reden wie alle anderen auch? Ich bin zu gar nichts befähigt, Papa hat immer gesagt, ich hätte zwei linke Hände.

»Ihr Vater war ein treuer Kunde«, meint die Bankangestellte. »Sein Ableben hat mich sehr bekümmert.«

Sie wirkt ehrlich. Und sie ist blond und hübsch. Hat sie den Krankenwagen gerufen?

»Mögen Sie Champagner?«

»Natürlich, wer nicht?«, antwortet sie überrascht.

»Ich bin der Vormund meines Neffen«, erklärt Gaston ihr. »Er will das Konto seines Vaters kündigen und das Geld auf ein Nachlasskonto übertragen lassen, die Verbindung habe ich Ihnen mitgebracht.«

»Bei der Konkurrenz?«, fragt die Blondine, die sich offenbar schnell von ihrem Kummer erholt hat.

»Bei meiner Bank.«

»Ich kann Ihnen auch hier ein Nachlasskonto eröffnen«, sagt sie an mich gewandt. »Sie müssen nicht die Bank wechseln.«

Ich sitze da wie ein Häufchen Elend. Gaston schreitet ein.

»Wir kündigen das Konto bei Ihnen. Bitte. Das wäre alles.«

Jetzt ist die enttäuschte Bankangestellte überhaupt nicht mehr bekümmert.

Wir steigen mit Notar Jules und Auktionator Fabien zum Schließfach hinab, das nicht viel enthält: Dokumente, einen Umschlag für Gaston, den er einsteckt, ohne ihn aufzumachen, Silberzeug, das nicht mehr glänzt, und die goldene Uhr meines Großvaters. Monsieur Fabien notiert jeden Gegenstand in der linken Spalte eines roten Büchleins und eine Ziffer in der rechten. Ich kündige das Konto und schließe das Schließfach. Die Bankangestellte mag uns kein bisschen mehr.

Danach begleiten die beiden Herren uns zurück zur Wohnung. Ich biete ihnen einen Kaffee an, genau wie Papa es bei Gästen immer getan hat. Jules, Fabien und Gaston trinken ihren Espresso, ich eine Breizh-Cola. Ich hebe mein Glas, yehed mat, auf dich, Papa.

»Wir nehmen die Vermögenswerte in allen Zimmern auf, es wird nicht lange dauern«, erklärt Monsieur Jules.

Ich werde misstrauisch.

»Hatte mein Vater auch bei Ihnen ein Konto?«

»Nein. Notare schätzen Vermögen nur, sie verwalten sie nicht.«

»Aber Sie haben ebenfalls Interesse daran, mich als Kunden zu behalten?«

»Ich bin Ihnen sehr gerne auch in Zukunft behilflich, wenn Sie etwas erwerben oder veräußern wollen.«

»Und wenn ich sterbe?«

Er lächelt.

»Ich sterbe vor Ihnen, Dom, ich werde mich nicht um Ihren Nachlass kümmern. Ich bin heute hier, um alles so unkompliziert wie möglich für Sie zu gestalten. Wo fangen wir an?«

Ich führe sie in Papas Schlafzimmer.

»Bitte verraten Sie uns, was Ihrem Vater gehört.«

Ich zucke mit den Schultern.

»Na ja, alles. Ich bin fünfzehn, mir gehört nichts außer meinem Taschengeld.«

Alles gehört Papa, sogar ich, immerhin bin ich sein Sohn. Wie viel bin ich Monsieur Fabien wohl wert? Ist ein bretonischer Bock kostbarer als ein Pariser Pfau?

»Den Sekretär mit den Intarsien hat mein Vater Dom vermacht«, schaltet sich Onkel Gaston ein. »Er ist nicht Teil des Nachlasses.«

»Gut.« Fabien streicht eine Zeile durch.

Ich entferne mich ein Stück und flüstere meinem Onkel zu:

»Das mit Opapas Schreibtisch stimmt, aber wir können es nicht beweisen. Woher wollen die wissen, dass wir sie nicht anlügen?«

Auf Groix nennt man die Großeltern Opapa und Omama, nur Tante Désir findet es vornehmer, wenn ihre Söhne Großvater und Großmutter sagen.

»Wir sind Bretonen, Kumpel, wir betrügen nicht«, antwortet Gaston.

Es fühlt sich seltsam an, dass zwei Fremde Papas Schubladen öffnen, seine Unterhosen und T-Shirts berühren, seine Sneaker, Mokassins, Stiefel und die schönen englischen Schuhe anheben, seine Pullover, Jeans und Jacken begutachten, seine Blousons und Mäntel zur Seite schieben. Wir gehen weiter ins Arbeitszimmer. Comicalben stapeln sich bis an die Decke. An den Wänden hängen gerahmte Originalseiten, das sind Museumsstücke, keine Ausmalbildchen. Jules und Fabien werden wieder zu staunenden Kindern, es fehlt nicht viel, und sie lümmeln sich in ihren schicken Anzügen auf den Boden und verschlingen Comics.

»Seit Doms Geburt hat mein Bruder alle Autoren, mit denen er gearbeitet hat, um eine Widmung für seinen Sohn gebeten«, erklärt Gaston. »Hier, sehen Sie.«

Zum zehnten Geburtstag hat Papa mir einen riesigen Stapel Comics mit meinem Namen darin geschenkt. Mir waren sie ziemlich egal, aber er hat so glücklich gewirkt, dass ich mich für ihn gefreut habe.

»Eine beeindruckende Sammlung«, sagt Monsieur Fabien an mich gewandt. »Sie fällt nicht in die Erbmasse, da sie Ihnen gewidmet ist.«

»Unschätzbar«, ergänzt Monsieur Jules. »Nehmen Sie nur diese Zeichnung von Cabu!«

Ich erinnere mich noch genau an den 7. Januar 2015. Papa war mit mir in der Harry-Potter-Ausstellung in London. Wir liefen gerade durch die mit unzähligen Kerzen beleuchtete Große Halle von Hogwarts, als er plötzlich lauter SMS bekam und ganz blass wurde. Wir gingen raus, er kletterte auf Hagrids Motorrad, ich in den Beiwagen, und er verbrachte eine Stunde am Telefon. Er hatte Tränen in den Augen, sprach laut und schnell, sagte immer wieder: »Ich kann es einfach nicht glauben.« Ich habe Papa nur dreimal weinen gesehen. Als er mich eines Morgens aufgeweckt und mir erklärt hat, dass Claire uns liebt, aber dass sie uns verlassen hat, um dort zu arbeiten, wo der Pfeffer wächst. Als er zum Tierarzt musste, um unseren Dackel Knirps einzuschläfern. Und am Tag des Anschlags auf Charlie Hebdo.

Monsieur Jules tritt zu einer limitierten und nummerierten Asterix-Figur, die Papa Claire geschenkt hat.

»Die gehört vermutlich auch Dom?«, fragt er.

»Ja, genau wie die Originalseiten«, antwortet Gaston.

Das ist gar nicht wahr, aber ich verrate es nicht. Jules und Fabien begehen Zimmer für Zimmer, erstellen eine Liste mit allem, was ich erben werde, abzüglich dessen, was mir laut Gaston bereits gehört. Offenbar schreien sich Geschwister bei solchen Gelegenheiten oft an und beschimpfen sich wüst.

»Da Sie der einzige Anspruchsberechtigte sind, bleibt Ihnen das erspart«, sagt Monsieur Jules zu mir.

»Diese Vermögensaufstellung ist eine Schikane meiner Schwester«, erklärt Gaston. »Sie will mich kränken, indem sie mich verdächtigt, meinen Neffen auszunehmen.«

Schließlich erreichen wir die vollgestopfte Abstellkammer. Ein orangefarbener Koffer liegt ganz oben auf dem Regal. Sie holen ihn runter.

»Was ist da drin?«

»Keine Ahnung.«

Ehrlich nicht.

Sie öffnen ihn, und Claires Duft strömt heraus. Als wäre sie zurück. Ich entdecke ihre bunten Pullover, ihre Kette und ihre Armbändchen, die Schatulle mit dem Smaragdring, den Papa ihr zu meiner Geburt geschenkt hat, sie hatte ihn nur selten an, weil man im OP keinen Schmuck trägt. Ihre Sammlung drolliger Döschen. Ihre Lieblingsbücher. Die Erfahrung der Welt von Nicolas Bouvier, Burt oder Als ich fünf war, bin ich mich umgebracht von Howard Buten, Le Bruit des Clefs von Anne Goscinny. Wenn sie die hiergelassen hat, ging es ihr damals wirklich schlecht. Auf ihre Kleider hat Papa einen Stapel Fotos von uns dreien gepackt. Wir sehen überglücklich aus. Ich erkenne uns wieder, aber das bin nicht mehr ich.

»Das gehört Claire.«

»Ihrer Mutter?«, fragt Monsieur Jules.

»Ja. Wir bewahren es bis zu ihrer Rückkehr auf.«

Er hakt nicht weiter nach, sondern geht wieder in die Küche. Ein letztes Mal checkt Monsieur Fabien sein rotes Büchlein.

»Ich schätze Hausrat, Schmuck und persönliche Gegenstände auf neuntausend Euro.«

»Papa hatte keinen Schmuck«, protestiere ich. »Der Smaragd gehört ihm nicht.«

»Aber die goldene Uhr Ihres Großvaters«, erinnert mich Monsieur Jules.

Ich zögere, dann strecke ich ihm mein Handgelenk mit der Tidenuhr hin.

»Und die hier.«

Auf Groix herrscht gerade Flut, die beste Zeit, um schwimmen zu gehen.

»Das ist kein Schmuck«, meint Monsieur Fabien. »Meine Schätzung ist abgeschlossen. Mein Bericht wird dem Notariatsakt beigelegt, um die Erbschaftssteuer zu berechnen. Vielen Dank für Ihre Mithilfe.«

Sie steuern auf die Tür zu. Auf der Schwelle dreht Monsieur Jules sich noch einmal um, wie Columbo in der alten Fernsehserie.

»Passen Sie auf sich auf, Dom. Und auf diese Sammlung. Es war sehr klug von Ihrem Vater, um die Widmungen zu bitten. Daran werde ich für meinen Sohn auch denken.«

Ich beuge mich übers Treppengeländer. Tante Désir öffnet genau in dem Moment die Tür, als die beiden vorbeikommen, und tut ganz überrascht. Der arme Georges hat Monsieur Jules mal beauftragt, als er einen Parkplatz für den Van gekauft hat.

»Wie schön, Sie wiederzusehen, Monsieur Jules. Waren Sie für die Vermögensaufstellung hier?«

Der Notar schüttelt ihr die Hand, ohne zu antworten. Sie bohrt weiter:

»Haben Sie auch wirklich alles aufgenommen? Mein Bruder hat sich hoffentlich kooperativ gezeigt. Es wundert mich, dass man mich nicht über Ihr Kommen informiert hat.«

»Die betroffenen Personen wurden in Kenntnis gesetzt, Madame.«

»Aber mir hat niemand Bescheid gegeben.«

»Wie gesagt, die betroffenen Personen wurden in Kenntnis gesetzt. Guten Tag«, erwidert Monsieur Jules, ohne ihr seinen Begleiter vorzustellen.

Grummelnd kehrt Tante Désir in ihre Wohnung zurück. Kerstin, die gerade die Post hochbringt, begegnet den beiden Herren auf dem Treppenabsatz. In ihrer Gegenwart halten sich alle Männer aufrechter, sogar Onkel Georges gewinnt an Kontur.

»Das mit den Originalseiten und dem Asterix war eine Lüge«, sage ich anklagend zu Gaston.

Mein Vormund lächelt.

»Wir sind Bretonen, Kumpel. Also sind wir ehrlich. Und nicht auf den Kopf gefallen.«

Tante Désir lässt ihre Wut an ihrem armen Ehemann aus, wir hören ihr Geschrei bis zu uns. Aber mich beschäftigt etwas anderes.

»Wie soll ich eigentlich diese Erbschaftssteuer bezahlen? Dafür reicht mein Taschengeld bestimmt nicht.«

»Ich mache dir eine Schenkung. Ich habe keine Kinder, damit wirst du mein Erbe. Désirs grässliche Blagen sehen keinen Cent.«

Wütend brülle ich los:

»Aber ich will nicht, dass du auch noch stirbst!«

Mein Onkel schaut mich ernst an.

»Ich lebe noch, bis du dich verliebst und mich nicht mehr brauchst.«

Ich bekomme wieder Luft. Ich werde mich niemals verlieben, also wird Gaston mindestens hundert. Liebe tötet, wenn das jemand weiß, dann ich.

Die Geliebte

Dein Sohn schaut den Leuten direkt in die Augen, er lässt sich nicht von der Last der Trauer beugen. Ich dagegen gebe nach, knicke ein, ich verwandele mich in Schilf, das vom Wind gebeutelt wird. Ich werde nie wieder mit jemandem schlafen, der Gedanke an einen anderen Mann, andere Arme, andere Höhenflüge ist unerträglich. Dom hat noch das ganze Leben vor sich, um zu entdecken, was die Welt antreibt, Leidenschaft, Lust, Neid, Ruhmsucht. Wer wird ihn die Feinheiten und das Feuer des Körpers lehren? Welches Alter ist dafür das richtige?

Am liebsten würde ich verschwinden, Paris und Frankreich verlassen, weit, weit weg fliehen, wie Claire. Mein Versprechen hindert mich daran. Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle gestorben. Ich habe keine Kinder, auf mich wartet nirgendwo jemand. Wenn ich auf der Straße Pärchen begegne, die gleichgültig nebeneinanderher laufen, möchte ich sie schütteln, sie anschreien, dass sie keine Sekunde mehr verschwenden sollen, zurück nach Hause stürmen und sich aneinanderpressen. Ich klammere mich an die Erinnerung deines Körpers, deines Geruchs, an den Geschmack unseres letzten Schlucks Champagner. Im Juni fährt Dom mit seiner Klasse nach Rom, diese Gelegenheit wollten wir für einen Liebestrip nach Lissabon nutzen. Ich habe schon mein Flugticket, unsere Hotelreservierung, du hast mir eine CD von Amália Rodrigues besorgt, ich höre Com que voz jeden Morgen, wenn ich allein in meinem Bett aufwache. Ich habe dir Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares von Fernando Pessoa geschenkt. Auf die erste Seite habe ich geschrieben: »Der Wert der Dinge liegt nicht in der Zeit, die sie andauern, sondern in der Intensität, mit der sie geschehen. Deshalb gibt es unvergessliche Momente, unerklärliche Dinge und einzigartige Menschen.«

Ich bin nicht dafür geschaffen, Männer zu halten, der, den ich vor dir geliebt habe, hat mich sitzenlassen. Im Film, in Büchern zittert jeder x-beliebige Sterbende, gurgelt, gerät in Panik, versteift sich, erschlafft. Bei dir, dem Schillernden, dem kreativen Kopf: nichts. Du bist davongeglitten wie ein Schiff übers Wasser, du hast einfach aufgehört zu atmen. Und meine Zukunft hast du in deinem Laderaum mitgenommen.

Sie haben deine Wohnung geschätzt, Gaston hat es Gwenou erzählt, der es wiederum mir erzählt hat. Deine siebenundvierzig Lebensjahre haben einen Wert von neuntausend Euro, einer Comicsammlung, Originalseiten, der Wohnung in Paris und dem Haus in Kerlard, die euch die Erfindung deines Vaters eingebracht hat. Wir leben, wir lachen, wir weinen, wir lieben, wir streiten, wir sterben, und am Ende bleiben von uns nur Gegenstände, Besitzurkunden und eine Zahl mit mehr oder weniger Nullen. Die Aufstellung dessen, was du mir hinterlassen hast, würde keine Minute dauern. Deine Frau hat dir das Herz gebrochen, ich habe es notdürftig wieder zusammengeflickt. Als wir letztes Jahr aus der Praxis deines Kardiologen gekommen sind, hast du mir scherzhaft zugeraunt, dass du mir noch lange auf den Wecker fallen würdest. Du hast deine Schachtel Zigaretten und dein altes silbernes Feuerzeug bei mir auf den Tisch geworfen und gesagt: »Ich höre auf.« Du wolltest alt werden, mit deinem Sohn und mir auf Weltreise gehen, sobald er das Abi geschafft hat. Was mir von dir bleibt, sind unsere großen Pläne, dieses Feuerzeug, der USB-Stick mit den Liedern, die man gehört haben muss, bevor man stirbt, und ein grauer Kaschmirpulli, der nach Salz und der Bretagne riecht. Den hast du mir an einem kalten Samstagabend über die Schultern gelegt, als dein Sohn das Wochenende bei einem Freund verbracht hat und wir an der Seine entlangspaziert sind wie ein echtes Paar. Heute schlafe ich in diesem Pulli. Er duftet nach meinen Tränen und deinem Eau de Toilette.

Pinguine bringen Glück

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