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Tag 5

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Die Geliebte

Heute bestatten wir dich. Das ist ein schlechter Witz, ein Albtraum. Ich bin sehr früh dran, nur die Kränze und Blumengebinde sind schon da. Deine Familie dürfte erst in einer guten halben Stunde eintreffen. In der Kirche ist es kühl, du kannst mir deine Jacke nicht leihen. Du wartest links in der kleinen Kapelle. Ausnahmsweise einmal bist du nicht zu spät. Das hier wird unser letztes Date. Danach bin ich allein.

Dein Sarg ist schlicht, edles Holz, goldene Griffe. Ich streichle ihn sanft, so wie ich deinen Körper gestreichelt habe. An unserem letzten Abend kam ich erst spät, damit der Junge auch sicher schlief. Ich hatte eine Flasche Mercier Blanc de Noirs dabei, den Champagner unserer ersten gemeinsamen Nacht. Du hast ein Album von Dan Ar Braz aufgelegt, Douar Nevez, das vom schwarzen Pferd der bretonischen Legenden erzählt. Meine Finger haben den Drahtkorb gebändigt und dir ein geflügeltes Pferd gebastelt. Wir haben ein Glas getrunken und uns umschlungen, sind zitternd und lachend vor Lust und Freude auf den Wellen geritten. Bis das dunkle Ross dich weiter getragen hat, als ich dir folgen konnte.

Gestern Nacht konnte ich nicht schlafen. Ich habe mir eine Flasche Sekt aufgemacht, nur wegen des Drahtkorbs. Ich habe zwei Gläser getrunken und dann meine Hände sprechen lassen. So ist eine kleine Märchenfigur entstanden. Die Folie um den Flaschenhals hat sich in goldenes Haar, einen fliegenden Schal, einen Stern und eine Rose verwandelt. Ich habe die Figur auf den Korken gesteckt. Sie ist in meiner Tasche, ich will sie später zwischen deine Blumen schmuggeln. Du warst mein Prinz.

Dein Sarg ist verschlossen, verschraubt, vernietet, ich war weder bei deiner Einsargung noch bei deiner Aussegnung, ich wollte dich lebendig in Erinnerung behalten, ungeschminkt. Es fällt mir schwer zu beten, du bist mir entrissen worden, du wirst Dom nicht aufwachsen sehen, deinen Sohn mit Claire, auf die du endlich nicht mehr gewartet hast. Yrieix, ich schwöre dir bei allem, was mir lieb ist, dass ich mich um ihn kümmern werde, im Verborgenen. Er wird zu einem starken, unabhängigen und leidenschaftlichen jungen Mann heranwachsen. Der Schmerz wird ihn nicht niederdrücken oder seine Flügel stutzen. Dom Ar Gov wird frei und glücklich sein, das verspreche ich dir.

Ich wirke bestimmt, als würde ich etwas im Schilde führen, wie ich so vor deinem stummen, tauben Sarg stehe. Ich schaue auf die Uhr. Die Zeit drängt. Schritte nähern sich. Ein Priester, nicht mehr der Jüngste, kommt durch das Querschiff und wirft mir einen Blick aus dem Augenwinkel zu, bevor er in der Sakristei verschwindet. Er wird uns nicht stören. Bleiben wir noch ein bisschen beisammen. Ich finde nicht die richtigen Worte, um mit dir zu sprechen, deshalb weiche ich auf Lieder aus. Sag warum, ein alter Schlager aus den fünfziger oder sechziger Jahren, will mir nicht mehr aus dem Kopf. Warum, warum du?

Der Organist oben auf der Empore spielt ein paar Akkorde. Der Chor wärmt sich auf, stimmt die Sunrise Mass von Ola Gjeilo an, dem jungen norwegischen Komponisten, den du bei einem Konzert des Vereins Musique à Groix in der Kirche in Le Bourg für dich entdeckt hast. Bald wird man uns trennen. Ich zermartere mir das Hirn nach originellen Abschiedsworten, ich will nicht mit bejammernswerten Banalitäten Lebewohl sagen. Serge Reggiani rettet mich: »Dies ist, soweit es mir gewahr, das erste Leid, das du mir tatst. Kämst du zurück in meinen Arm, ich freute mich aufs nächste Mal.« Der Priester, der inzwischen sein Messgewand trägt, steuert wieder auf mich zu, die Stirn in Falten.

»Ich bete für Monsieur Le Goff«, sage ich. »Ich habe mich in der Zeit geirrt, ich bin ein bisschen zu früh.«

»Sie haben sich auch in der Person geirrt, aber der Herr hört uns, wo immer wir sind«, erwidert er mit einer erstaunlich glockenhellen Stimme für seinen Körperumfang.

»Wie bitte?«

Er deutet auf den Sarg, den ich eben liebkost habe.

»Das hier ist Yvette Meunier-Jacob, sie wurde hundert Jahre alt. Ihre Trauerfeier findet nach der von Monsieur Le Goff statt.«

»Was?«

Entsetzt weiche ich zurück. Ich habe einer fremden alten Dame meine Liebe erklärt. Meine Augen tränen, mein Lachen zittert. Wo immer du bist, du lachst dich wahrscheinlich gerade tot.

Ich hätte es wissen müssen, du bist nie pünktlich. Der kleine Prinz aus Draht tief in meiner Tasche tanzt vor Freude. Ich denke an den eiskalten Champagner und unsere heißen Küsse in deinem Schlafzimmer zurück. Von draußen höre ich Stimmengewirr. Dom betritt die Kirche als Erster, umkränzt von Sonnenstrahlen, den Kopf gesenkt, in einem bedrückenden schwarzen Anzug. Ich habe Yvette Meunier-Jacob versprochen, mich um ihn zu kümmern. Noch einmal lege ich die Hand auf ihren Sarg, diesmal mit dem gebührenden Respekt vor ihrem Alter. »Schwester Jacob, schläfst du noch?« Dann verlasse ich die Kirche durch einen Seiteneingang und laufe außen herum zurück nach vorne, wo deine Familie und deine Freunde im rabenschwarzen Sonntagsstaat krächzen. Dein Sohn lässt die Schultern hängen und ist ebenso abwesend wie der junge Harry am Tag der Beerdigung von Lady Di. Im Anzug wird er jemand anderes, und ich finde ihn sehr schön.

Dom

Ich habe mich breitschlagen lassen, diesen lächerlichen Anzug anzuziehen, der dem älteren meiner perfekten Cousins gehört, unter der Bedingung, dass ich meine weißen Sneaker dazu tragen darf. Der Priester begrüßt mich mit meinem offiziellen Vornamen, so nennt mich niemand, nicht einmal meine Lehrer. Nur Papas Schwester, weil sie weiß, dass ich es nicht ausstehen kann.

Ich balle die Fäuste, um nicht an Claire zu denken. Sie ist von ihrem Großvater aufgezogen worden, der Jean-Domnin hieß. Papa hat mir tausendmal versichert, ich sei nicht schuld daran, dass sie abgehauen ist. Sie hat ihm das alleinige Sorgerecht überlassen. Anders als bei Klassenkameraden mit geteiltem Sorgerecht hatten mein Vater und ich uns ganz für uns. Auch er hatte einen seltenen Vornamen. Maman heißt einfach Claire. Sie hat uns einfach verlassen. Sie hat uns aus ihrem Leben gestrichen, uns mit dem Skalpell herausgeschnitten, sie wollte lieber in der Ferne operieren, als uns in Frankreich zu lieben. Papa hat sich um mein Innenleben gekümmert statt um das von Patienten, und das war gut, wenn ich mal wieder was auf dem Herzen hatte.

Eigentlich müsste Claire heute Vormittag neben mir sitzen, hier in der ersten Reihe. Ich bin mordssauer auf sie, nicht auf den Ermordeten. An ihrer Stelle sitzen Onkel Gaston, Tante Désir und Tante Tifenn neben mir. Die perfekten Cousins gackern eine Reihe hinter uns neben dem armen Georges. Meine beste Freundin Mathilde ist mit ihrer Mutter den weiten Weg von Groix gekommen, die beiden haben sich taktvoll in die dritte Reihe gesetzt. Als ich sie bemerke, winke ich Mathilde zu mir, sie schiebt sich zwischen mich und Désir, der das überhaupt nicht gefällt, aber heute kann sie sich schlecht beschweren. Mathilde betrachtet Papas Sterbebildchen mit dem Foto im Hafen von Groix. Er lächelt, eingemummelt in seine Regenjacke, er kommt gerade aus dem rosafarbenen Café von Soaz, er ist dort, wo er hingehört.

Weiter hinten entdecke ich Dr. Clapot. Im Gegensatz zu allen anderen trägt sie nicht Schwarz, sondern eine orange-blaue Jacke. Sie ist Allgemeinärztin und Hypnotherapeutin und hat mir nach Claires Abreise geholfen, als ich abends nicht mehr atmen konnte. Ich sollte mir einen Ort vorstellen, an dem ich mich geborgen fühle. Ich musste nicht lange nachdenken, ich habe direkt nach Groix übergesetzt. Plötzlich war ich am Strand in der Baie des Curés, zusammen mit Mathilde und Schoko, dem Hund, der sich zu uns gesellt, sobald wir eintreffen, und wieder verschwindet, wenn wir gehen. Dorthin flüchte ich mich seitdem an schweren Tagen, wenn ich ersticke.

Ich sehe auch Kerstin, die die Pflegeschule schwänzt, um hier zu sein. Claire hat sie nie kennengelernt, sie war schon weg, als Kerstin gekommen ist. Seit Kerstin für unsere alte Concierge übernommen hat, ist sie die Kapitänin des gesamten Hauses. Noalig aus dem obersten Stock, die erst seit kurzem geschieden ist, sitzt neben ihr, in Tränen aufgelöst und wahrscheinlich zum ersten Mal in ihrem Leben hässlich mit der roten Nase und den geschwollenen Augen. Sie ist Mitglied der keltischen Musikgruppe Bagad Pariz – Ti Ar Vretoned. Sie spielt Bombarde.

Der Klang der Orgel überrollt mich. Auf ein Zeichen des Bestatters hin stehen alle auf. Männer in Schwarz betreten die Kirche. Sie tragen Papa. Ich konzentriere mich auf die Flammen der Kerzen und benutze die Selbsthypnosetechnik, die Dr. Clapot mir beigebracht hat, um zu fliehen. Die Möwen schreien, meine Zehen graben sich in den Sand. Schoko wetzt freudig bellend herbei. Ein winziger Krebs krabbelt über die algenbedeckten Felsen. Mathilde sitzt neben einem Korb mit einem Geschirrtuch darüber, in dem der beste Nachtisch des ganzen Universums wartet, der Zauberkuchen von Martine, einer Jugendfreundin von Papa. Eine besonders hohe Welle spritzt mich nass, ich zucke zurück und stoße gegen die Kirchenbank, die knarrend protestiert. Tante Désir knufft mich in die Seite und deutet auf den Ambo links neben dem Altar.

»Die Fürbitten! Du bist dran, na los!«

Ich habe eingewilligt – eigentlich wurde ich gar nicht richtig gefragt –, die erste Fürbitte zu lesen. Ich trete aus der Bank und meiner Tante dabei extra auf die Füße. Auf dem Weg zum Ambo muss ich an den Tuileries aus Eiche massiv vorbei. Tante Désir wollte unbedingt, dass ich zur Sargschließung heute Morgen mitkomme, weil das angeblich die Trauerarbeit erleichtert. Tante Tifenn hat mich hingefahren. Wir haben bei einem Café angehalten und heiße Schokolade getrunken, weil man von Kummer ein Loch im Bauch kriegt und heiße Schokolade gutes Füllmaterial abgibt. Deswegen waren wir leider zu spät. Danach hat Tante Désir mich gezwungen, bei ihr mitzufahren, damit ich auch sicher pünktlich in der Kirche bin.

Ich stehe aufrecht hinter dem Pult, der Trauergemeinde gegenüber. Die Kirche ist voll besetzt, jede blonde Frau könnte diejenige sein, die gesehen hat, wie Papa starb. Ob sie Claire ähnelt? Ganz rechts sitzt eine große, schlanke, deren Dutt auf Halbmast hängt und deren Wimperntusche läuft. Hier eine kurzhaarige mit einem roten Tuch. Dort eine mit einer grünen Brille. Hat eine von ihnen den Krankenwagen gerufen?

Ich muss nur eine Zeile lesen, sie steht auf dem Blatt vor mir: »Herr, wir bitten Dich: Schenke Yrieix’ Leben Vollendung in Dir und lass seine Seele in Deiner Liebe Frieden finden.« Nichts kommt heraus. Mein Mund ist versiegelt. Ich suche Claire in der Menge, sie muss einfach da sein. Bestimmt hat sie sich in den fünf Jahren verändert, aber ich werde sie an ihren funkelnden glaz-Augen erkennen, die sich über dem Mundschutz verengen, wenn sie operiert. Einmal hat sie mich in den OP mitgenommen, mir ihr Team vorgestellt, mir die mit Zeichentrickfiguren verzierten Hauben gezeigt. Und von den Kindern erzählt, die sie zusammenflickt, den von Geburt an gelähmten, bei einem Unfall zerquetschten oder von einer Granate in einem Kriegsgebiet verstümmelten Beinen. Als ich eines Tages besonders schnell gerannt bin, hat sie gesagt: »Es muss einen Gott geben. Wer sonst sollte ein solches Wunder erschaffen? Einen Jungen, der herumsaust und fröhlich tanzt. Warum haben andere nicht so viel Glück?« Ich verstand nicht, was sie meinte, deshalb gab ich noch mehr Gas, um ihr eine Freude zu machen. Es ist meine Schuld, dass sie uns verlassen hat, ich war zu gesund. Hätte ich mir das Bein gebrochen, wäre ich interessanter für sie gewesen. Wenn sie ihre kleinen Patienten behandelte, hörte sie immer erst das Herz ihrer Teddybären ab, dann lieh sie den Kindern ihr Stethoskop, damit sie dasselbe mit dem Herzen ihrer Mutter machten. Einmal habe ich Claires Herz abgehört. Dabei hätte ich besser Papas Herz überwacht. Ich flehe Claire an, endlich durch die große Kirchentür zu treten. Ich rechne fest mit ihr, sie kann nicht nicht kommen. Wahrscheinlich hat ihr Taxi im Stau gesteckt, aber jetzt ist es da, sie springt heraus und knickt um auf den hohen Hacken, die sie extra für Papa trägt. Gleich kommt sie herein, alle drehen sich um, sie lächelt ihr großartiges, ansteckendes Lächeln, und ich bin nicht mehr allein.

Niemand kommt. Da macht Mathilde etwas Unglaubliches. Sie schiebt sich an Tante Désir vorbei, ohne ihr auf die Füße zu treten, und stellt sich neben mich, hinter das Pult, vor alle Leute. Zusammen sind wir stark und wunderschön. Meine Lippen lösen sich. »Herr, wir bitten Dich …« Ich begegne Dr. Clapots Blick, fixiere Kerstin, Onkel Gaston, Tante Tifenn, Noalig, Gwenou aus dem Bistro gegenüber. Dann zerknülle ich das Blatt vor mir. Die aufgedruckten Worte ballen sich zusammen, meine eigenen platzen aus mir heraus: »Herr, wir bitten Dich, dass Claire von dort zurückkommt, wo der Pfeffer wächst, und Papas Seele zur Île de Groix schippert.« Aus Tante Désirs Augen schießen Torpedos. Papa ist auf seinem Kieselstein bestimmt glücklicher als im Paradies. Mathilde nickt. Wir setzen uns wieder. Als Nächste tritt Tante Désir mit ihrer unerträglichen Minnie-Maus-Stimme an den Ambo. Die perfekten Cousins tuscheln und prusten. Tifenn liest so leise, dass niemand sie versteht. Gaston spricht laut und deutlich.

»Yrieix Le Goff ist nicht tot, er lebt in Ewigkeit«, sagt der Priester.

Ich schaue auf die Uhr an meinem Handgelenk, es ist Papas, ich habe sie heute Morgen von seinem Nachttisch genommen. Er hat Claire in der Segelschule Jeunesse et Marine in Port-Lay kennengelernt. Seine Uhr zeigt die Gezeiten auf Groix an. Während ich hier im schwarzen Anzug in der Kirchenbank sitze, herrscht dort Flut. Ich flüchte mich in die Baie des Curés. Aber dann fällt mein Blick auf den Sarg, und der Strand verschwindet wie mein Computerspiel in der Sekunde, als Yrieix Ar Govs Herz versagt hat.

Die Geliebte

Dein Sohn war wie erstarrt. Mein Herz zerschellte für ihn, als er stumm dastand mit seinen großen Augen und Füßen. Wellen der Bestürzung und der Rührung überspülten die Anwesenden, sobald er das Wort ergriff. Was er sagte, hatte Feuer, er schlägt nach dir, er wird einmal genauso intensiv und strahlend. Mir ist sofort die Uhr aufgefallen, ich habe sie dir zu unserem ersten Jahrestag geschenkt. In der Flaute des grauen Paris wolltest du Ebbe und Flut auf deiner Insel verfolgen, dir Watt und Wellen, Spülsaum und Strandgut ausmalen.

Deine Schwester Désir fürchtet, deine Frau könnte plötzlich wieder aufkreuzen, sie hat keine Ahnung, dass das nicht passieren wird. Ich bin nicht eifersüchtig, ich habe keine Kraft mehr für toxische Gefühle. Seit deinem Tod brauche ich all meine Energie, um einen Fuß vor den anderen zu setzen, genug zu essen, nicht umzukippen, nicht ausschließlich Kaffee und Wein zu trinken. Und Dom zu beschützen, weil ich Yvette Meunier-Jacob-schläfst-du-noch dieses bescheuerte Versprechen gegeben habe.

Der Gesang des Chors steigt zur Decke der Kirche empor und lässt mich einstürzen. Wärst du noch am Leben, wenn wir nicht miteinander geschlafen hätten? Eigentlich sollten wir gerade einen guten Pommard trinken und Wurst essen, statt in dieser Kirche zu bibbern. Irgendwann müssen wir alle dran glauben. Wir drehen uns auf dem Deck der Titanic zur Musik der Bordkapelle im Kreis, die unweigerlich mit uns in die Tiefe gerissen wird, aber solange die Geigen fiedeln, können wir weiter tanzen und singen. Letzte Woche hast du mir einen USB-Stick mit einer Playlist geschenkt, »Lieder, die man gehört haben muss, bevor man stirbt«. Eine Vorahnung? Was wird jetzt aus meinem Leben? Was wird aus Dom ohne seinen Vater? Dich heimlich zu lieben hat mich nicht gestört. Deine namenlose Witwe zu sein zerbricht mich.

Dom

Nach der Messe gehen wir alle zu Gwenou. Es gibt Bier, Cidre und echten bretonischen Whisky, keinen Touristenfusel. Die Galettes tanzen auf den Tellern. Von Gefühlen kriegt man ein Loch im Bauch. Es sind so viele Leute da, dass Kerstin, Noalig und Tante Tifenn mit aushelfen. Désir tut, als würde sie nichts bemerken, sie lässt sich lieber bedienen, als sich die Finger fettig zu machen. Papa war Kreativdirektor bei einem großen Comicverlag. Onkel Gaston dankt allen, die gekommen sind, Familie, Freundinnen und Freunden, Autorinnen und Autoren, Kollegen, Groixern und Festlandbretonen. Freundschaft war Papa heilig, er hing stundenlang am Telefon, wenn es irgendwem schlechtging, oder sprang gleich in den Zug, um persönlich zu trösten. Am Siebten jeden Monats traf sich seine Freundesbande bei Frédérique in Le Stang. Jeder brachte etwas zu trinken und zu essen für alle mit, der Abend begann früh und endete spät. Als Claire weg war, ging Papa allein hin, aber er blieb nicht mehr so lange. Vielleicht hoffte er, sie wäre zu Hause, wenn er zurückkam.

Jean-Philippe, das Goldkehlchen der Bande des Siebten, stimmt ein Lied an: »Wir war’n drei Seefahrer von Groix, ah, aah, aah / An Bord der großen Saint-François, ah, aah, aah / Es pfeift die Luft, es ist das weite Meer, das uns ruft …«

Der Rest fällt bei den folgenden Strophen ein. Ich würde gerne mitsingen, aber meine Stimme bricht. Die perfekten Cousins schlagen sich am Büfett den Bauch voll.

»Cool, dass wir die Schule schwänzen dürfen«, nuschelt der ältere, während er sich seine fünfte Galette in den Mund stopft, der die Füllmenge der Becken auf den bretonischen Waschplätzen hat.

»Ja, echt super«, bestätigt der jüngere.

Mathilde ist schockiert. »Wow, ihr platzt ja fast vor Respekt.«

Und ich frage: »Könntet ihr vielleicht auch noch was für die anderen übrig lassen?«

Jetzt ist mein dämlicher Cousin beleidigt.

»Für deine Mutter brauchen wir nichts aufzuheben, die hat woanders was Besseres gefunden, die kommt nicht wieder. Deswegen hat es dein Vater auch mit jedem Blondchen getrieben, das nicht bei drei auf dem Baum war, sagt Maman.«

Die werden noch an ihren Lügen ersticken, dafür sorge ich. Ich zerre Mathilde auf die andere Seite der Theke. Kari Gosse ist eine Gewürzmischung für Meeresfrüchte, die ein Apotheker aus Lorient im neunzehnten Jahrhundert erfunden hat. Ich mache zwei Dosen Breizh-Cola auf und kippe heimlich genug Kari Gosse in beide, um einen Toten aufzuwecken. Mit den Dosen in der Hand schlüpfen wir wieder hinter der Theke hervor.

»Schwein gehabt, das waren die Letzten«, sage ich laut und deutlich.

»Komm mal mit, ich will dir draußen was zeigen«, schwindelt Mathilde.

Wir stellen die Dosen auf die Theke und verschwinden. Die beiden Schnellschlecker, deren Kehlen nach den vielen Galettes wie ausgetrocknet sind, schnappen sie sich und nehmen einen ordentlichen Schluck. Sofort bleibt ihnen die Luft weg, sie werden krebsrot und spucken alles wieder aus. Tante Désir stürzt besorgt herbei.

»Was ist los, meine kleinen Lieblinge?«

Hustend deuten sie auf die Breizh-Cola. Désir runzelt die Stirn. Tante Tifenn kommt dazu, greift nach einer Dose, tut, als würde sie trinken, und setzt sie wieder ab, ohne sich ihren brennenden Mund anmerken zu lassen.

»Lecker. Deine Söhne sind nicht an bretonische Produkte gewöhnt, sie wissen nicht, was gut ist.«

Ich schalte mich ein.

»Ich hab euch ja gesagt, dass euch schlecht wird, wenn ihr so viel futtert.«

»Das ist, als würde man Perlen vor die Säue werfen, Désir«, bemerkt Tifenn.

»Nennst du meine Söhne etwa Schweine?«

»Schau sie dir doch an, sie fressen wie welche.«

Die Perfekten funkeln uns an. Ich verschwinde noch einmal hinter der Theke und hole meiner Lieblingstante ein Glas Wasser, das sie sich redlich verdient hat. Papa hätte sehr gelacht. Papa wird nie wieder lachen.

Pinguine bringen Glück

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