Читать книгу PERDITA - Lotta C. Preuss - Страница 3

1.Kapitel: Wie alles begann…..

Оглавление

Gaby kam gleich zur Sache:

„Pia, du musst mir helfen! Bitte rede mit Karsten. Wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, holt er sich sofort den Alkohol aus dem Schrank und trinkt, bis er lallend ins Bett fällt. Wir machen nichts mehr zusammen, er ist nicht ansprechbar. Er schreit mich an oder schlägt um sich, wenn ich ihm die Flasche wegnehmen will. Wir haben nur noch Streit, ich kann nicht mehr, ich bin am Ende!“ Gaby klammerte sich wie eine Ertrinkende an Pias Armen fest.

„Gaby, du kannst Karsten nicht ändern, du kannst nur dich ändern. Setz ihm eine Frist, sag ihm, du machst das noch 4 Wochen mit. Wenn er in dieser Zeit weitertrinkt und sich keine Hilfe sucht, verlässt du ihn!“

„Was???? Das kann ich nicht, ich kann nicht alleine sein, wie stellst du dir das vor?“ Gaby schossen die Tränen in die Augen. Das kam Pia so verdammt bekannt vor.

„Geh in eine Selbsthilfegruppe, besorg dir Bücher oder geh zum Psychologen. Mach was! Wenn du dich änderst, ändert er sich vielleicht auch. Wenn nicht, musst du für dich eine Entscheidung treffen.“

„Was für eine Entscheidung?“ Gaby verstand die Welt nicht, was erzählte ihr Pia da? Pia sollte doch einfach nur mit Karsten reden und ihr Problem lösen.

„Dass du dich von ihm trennst, um dein Leben zu retten!“ Pia wiederholte sich bereits.

„Weißt du, wie schwer es war, ihn zu finden? Ich werde schon 43, ich dachte, ich hätte jetzt endlich mal Glück im Leben! Kannst du mir versprechen, dass ich einen Neuen finde, wenn ich mit Karsten Schluss mache? Und wie lange würde das dauern? Und wo kann ich den finden? du hast doch auch einen Neuen gefunden! Wie hast du das gemacht? Deiner hört auf dich. Ich beneide dich, du bist so stark, so selbstbewusst. Ich will nicht alleine sein! Ich kann das nicht!“

„Nein, Gaby, ob du jemand Neuen findest oder wie lange so was dauert, kann ich dir nicht sagen! Aber ich kann dir sagen, dass es hart wird, dich zu trennen!

Du musst endlich für dich selber die Verantwortung übernehmen. Und noch etwas, du musst stärker werden, Männer mögen keine schwachen Frauen. Mit schwachen Frauen machen sie, was sie wollen. Also, bitte arbeite an dir! Nicht Karsten ist dein Problem!“

„Aber er macht sich kaputt, er bringt sich um mit seiner Sauferei. Ich kann ihn doch nicht sterben lassen, schau ihn dir an, wie schlecht er aussieht und mich bringt er auch um!

Ich bin nur noch ein Nervenbündel, ich heule jeden Abend und kann nicht mehr schlafen, weil wir uns ständig streiten. Meine Arbeit schaffe ich so auch nicht mehr und der Arzt hat schon Bluthochdruck und Herzrasen bei mir festgestellt und mich krankgeschrieben.“

Pia hatte Mitleid mit Gaby, Gaby hörte nicht zu. Gaby hatte eine schwere Entscheidung zu treffen. Aber Pia konnte nicht Tag und Nacht für Gaby da sein, denn es würde ein langer und harter Weg werden, den Gaby da vor sich hatte, wenn sie sich retten wollte. Und Pia wusste, wovon sie sprach.

Pia hatte eine Idee, sie würde ein Buch schreiben, über das, was sie erlebt hatte und welche schweren Entscheidungen sie treffen musste. Vielleicht half das Buch Gaby und den anderen Frauen. Frauen, die an einem Punkt angekommen waren, an dem ihr Leben so nicht mehr weiter ging. Der Punkt, an dem es höchste Zeit war zu handeln, wenn sie ihr Leben retten wollten. Für alle, die nicht wie Pias geliebte Tante Anne aus Liebe sterben wollten. Und das, wo sie alle so viel Liebe brauchten und so bedürftig waren. Und so emotional abhängig nach Liebe und Geborgenheit. Und es ging Pia nicht um Alkoholsucht, es gab so viele Gründe, warum man eine Beziehung beenden sollte, die nicht gut war.

Bevor Pia die eigentliche Geschichte begann niederzuschreiben, dachte sie an die zwei wichtigsten Frauen in ihrem Leben, ihre Mutter Eva und ihre Großmutter Johanna. Zwei Frauen, die so viel durchmachen mussten und den Ereignissen dennoch trotzten. Sie erinnerte sich an einen warmen Tag im August des Jahres 1932, als Pias Großmutter Johanna als junges Mädchen ihren Benno kennenlernte und sich unsterblich in ihn verliebte. Benno war ein richtiger Fußballstar, ein hübscher wilder Bursche mit diesen Augen, bei denen jedes Mädchen schwach wurde. Er hatte einen durchtrainierten Körper, die körperliche Arbeit in dem Kohlenbergwerk hatte ihn gestählt. Und er hatte immer gute Laune, er pfiff gerade ein fröhliches Lied, als er den Heimweg nach einem gewonnenen Spiel antrat. Vom Spiel noch rote Wangen und glücklich aufgewühlt vom Sieg. Und mitten auf dem Bürgersteig stand plötzlich Johanna vor ihm. Wie die heilige Johanna. Er blieb stehen und starrte das wunderschöne und zarte Wesen mit offenem Mund an. Ihre rotbraunen Haare flatterten im Sommerwind, die weiß gestärkte Bluse zeichnete ihre reizvolle Figur nach. Johanna hatte neben sich ein schweres Paket abgestellt, ihre Arme taten weh.

„Soll ich es für dich tragen?“, fragte Benno galant und zeigte auf das Paket. Johanna nickte sprachlos. Und so fing die zarte Romanze zwischen den beiden jungen Menschen an. Sie liebten sich so sehr, sie hatten eine glückliche Zeit. Irgendwann heirateten sie und bezogen eine kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus. Nacheinander wurden 4 Kinder geboren, Hannes, Grete, Eva und zuletzt die zarte Anna. Benno arbeitete hart und bald schon konnten sie sich vom mühsam Ersparten die ersten schönen Möbel kaufen. Es war eine glückliche kleine Familie, in der viel gelacht wurde. Johanna schickte jeden Abend die Kinder vor die Tür, um Benno von der Arbeit abzuholen. Benno ging das Herz auf, wenn die kleinen Kinder ihm freudestrahlend entgegenrannten. Jedes seiner Kinder wollte das Erste sein, das ihn umarmen durfte. Alle Kinder ähnelten seiner Johanna, sie hatten diese wunderschönen rotbraunen Haare geerbt.

Und dann, der Krieg wehte bereits in seiner Grausamkeit über das Land, kam der befürchtete Brief. Der Postbote hatte ihn bereits um die Mittagszeit gebracht und er lag nun schon seit einigen Stunden ungeöffnet auf dem Küchentisch. Mit schlimmer Vorahnung hatte Johanna seitdem nur geweint, mit rotgeweinten Augen empfing sie Benno. Benno überblickte die Situation sofort und öffnete den fürchterlichen Brief mit dem Staatssiegel:

„Sie schicken mich nach Russland an die Front!“

Johanna und Benno hatten beim Abschied, der plötzlich so schnell kam, schlimm geweint und sich aneinander geklammert. Aber es half nichts, Benno musste gehen. Johanna hatte Benno versprochen, in seiner Abwesenheit gut auf sich und die vier Kinder aufzupassen. Und Benno hatte versprochen zurückzukehren. Und dann war er weg, fort aus dem Leben der kleinen Familie.

Mittlerweile war jede Nacht Bombenalarm, die Sirenen heulten ohne Unterlass und der Krieg wurde in seiner Heftigkeit um 1943 immer unerträglicher. Johanna war immer noch eine junge hübsche Frau von 27 Jahren, die aufgrund der Entbehrungen des Krieges bereits mindestens 10 Jahre älter aussah, als sie tatsächlich war. Johanna war immer abgekämpft, müde und immer hungrig, sie trug Kleidung, die man heute als Lumpen bezeichnen würde.

Benno musste an der Front im fernen und kalten Russland Fürchterliches durchstehen, seine Briefe enthielten schreckliche Mitteilungen. Es tat so fürchterlich weh, wenn Johanna sie las. In seiner Feldpost stand jedes Mal: „Ich habe solchen Hunger! Es ist so schrecklich hier. Ich vermisse euch.“

Auch für Johanna wurde die Situation immer unerträglicher. Sie war mit dem Krieg, den schlimmen Entbehrungen und den vier Kindern überfordert. Überlebenswichtig war es, rechtzeitig den Bunker aufzusuchen, wenn es Fliegeralarm gab. Das war mit vier Kindern nicht immer leicht. Die Kinder quengelten und wollten nicht mitgehen. Eigentlich hatte niemand mehr die Kraft dem Ruf der Sirenen zu folgen. Oft war Johanna so gestresst und gereizt, es gab kräftige Backpfeifen, wenn ein Kind nicht gehorchte oder vor Erschöpfung einfach nicht weiterlaufen wollte.

Johanna hatte es oft erlebt, dass die schwere Tür zum Bunker von innen fest verschlossen wurde, obwohl draußen noch Menschen um Einlass bettelten.

„Der Bunker ist voll, bitte gehen Sie von der Tür weg und suchen sich woanders Unterschlupf!“ Johanna sprach dann oft mit den Männern und versuchte zu verhandeln:

„Bitte lass wenigstens die arme Frau noch in den Bunker hinein, sie hat doch ein Kleinkind auf dem Arm. Sei nicht so brutal.“

Aber die Männer blieben hart. „Nein, der Platz reicht nicht. Sei ruhig oder geh auch raus!“

Wenn die Sirene endlich Entwarnung gab, nahm Johanna ihre beiden kleinsten Kinder rechts und links an die Hand. Die beiden größeren mussten die kleineren Geschwister anfassen, so bildeten alle 5 eine Kette. Und genau in dieser Formatierung verließen die fünf den Bunker.

Draußen vor der Tür waren die Straßen gepflastert von Leichen, dazwischen auch tote Säuglinge und Kleinkinder.

Eva, Pias Mutter, war inzwischen ein kleines abgemagertes Kind von 5 Jahren, das bereits unzählige Nächte durstig und hungrig im Bunker verbracht hatte. In ihrer kleinen Seele und in den kleinen Seelen ihrer Geschwister war etwas kaputt gegangen, das nie wieder repariert werden würde. Es waren die Bilder, die Verhaltensweisen der Erwachsenen, die unverständliche Abwesenheit des Vaters, die menschliche Kälte um sie herum, die dieses kleine unschuldige Wesen nicht einordnen konnte. Sie verstand auch die Mutter nicht, die sie auf der Gefühlsebene nicht erreichen konnte. Heute würde man sagen, dass diese kleinenKinder schlimme Traumata hatten. Dass sie menschenunwürdig leben mussten, dass sie eine Kindheit hatten, die so grauenvoll war, dass die Kinder innerlich daran zerbrachen. Aber auch für so was war keine Zeit.

Eva zeigte auf einen toten Säugling, der auf dem Bürgersteig lag. Er war so hübsch angezogen. Das gefiel Eva, sie verwechselte ihn mit einer Puppe. Wunderschöne hellblonde Locken umrahmten sein zartes Gesicht. Er sah aus, als ob er schliefe. Sie hatten gerade wieder den Bunker verlassen, als Eva einfach stehenblieb: „Mama, darf ich mit der Puppe spielen?“

Diese Puppe war viel schöner, als ihr Spielzeug zuhause. Wie gerne würde sie diese Puppe im Arm wiegen und seine Haare streicheln. Warum sollte es dort unten auf der Erde im Schmutz liegen bleiben?

Dazu sagte Johanna gar nichts, sondern zog die Kinder mit einem noch festeren Griff schnell nach Hause. „Trödelt nicht“, sagte sie mit einem harten Unterton.

„Mama, Du tust mir weh, zieh bitte nicht so an meinem Arm“, weinte Eva. „Ich kann nicht mehr, meine Beine tun weh, ich habe Durst, ich möchte die Puppe haben.“

Auch Eva hatte seit Stunden nichts mehr gegessen und getrunken. Sie war von der Mutter aus dem Bett gerissen worden, als der Fliegeralarm anfing. Sie verstand nicht, was los war, sondern war sehr böse auf ihre Mutter. Jetzt auf dem Rückweg nach Hause war es dunkel und unheimlich auf der Straße. Nur ein paar vereinzelte schwache Lichtkegel zeigten den Weg. Um sie herum schreiende Menschen, die in alle Richtungen davon strömten.

Es war bitter kalt, Rauchschwaden hingen in der Luft, es roch nach Feuer, nach allerlei undefinierbar Verbranntem. Evas Kleidung kratzte, die Schuhe drückten, der Bauch schmerzte so schlimm vor Hunger, ihr Mund war ausgetrocknet. Auch die anderen Geschwister, und ganz besonders die Kleinste, die Anna, weinten vor Erschöpfung und vor Hunger. Sie wollten nicht mehr weiterlaufen.

Und es war nicht nur die körperliche Erschöpfung, die Eva und ihren Geschwistern in den Gliedern saß. Schlimm waren auch die seelischen Misshandlungen und der Mangel an Liebe und Geborgenheit. Wenn sich die kleinen Kinder trostsuchend bei ihrer Mutter anklammerten, stieß Johanna sie oft weg. Johanna bekam keine Luft, es war so schon unerträglich für sie und die Kinder saugten ihr noch die letzte Lebenskraft aus dem müden Körper. Johanna konnte ihre Kinder nicht mehr trösten, sie konnte nicht mal sich selber trösten.

Als die fünf dieses Mal nach einer weiteren unvorstellbaren Nacht im Bunker um die Häuserecke bogen, sah Johanna schon von weiten mit großem Schrecken, dass das Haus ausgebombt war. Sie wusste, dass es jetzt noch schlimmer für die kleine Familie würde. Sie konnte schon nicht mehr weinen.

Beim Näherkommen sah sie das ganze Elend. Es standen nur noch der Keller und einige Mauerreste. Alles war weg. Das Mehrfamilienhaus lag in Schutt und Asche. Von ihrer bescheidenen Wohnung, den Möbeln, den Betten, den Fotos von Benno, den Papieren, den wenigen Spielsachen der Kinder, es war nichts mehr da. Während Johanna im Schutt noch nach letzten Überbleibsel ihres Lebens suchte, quälten sie fürchterliche Fragen; wo sollten sie heute Nacht schlafen? Wie sollte es jetzt weitergehen? Johanna hatte alles verloren. Und jetzt auch noch den letzten Zufluchtsort, ihre Wohnung. Sie griff in ihre Manteltasche und fühlte den Brief, den sie bereits seit zwei Wochen mit sich herumtrug.

Benno, ihr so geliebter Mann, ihr einziger Halt, war ausgemergelt bis auf die Knochen im fernen Russland gefallen. Es stand in der Mitteilung, dass Benno bei einem schweren Kampf heldenhaft verstorben wäre. Ein grausames Ende für Bennos kurzes Leben. Er wurde nicht mal 30 Jahre alt. Und er hatte doch so viele Träume gehabt. Wie sehr brauchte Johanna ihn jetzt.

Als der Brief kam, hatte Johanna einen Nervenzusammenbruch, aber das interessierte niemand. Alle hatten Schreckliches auszuhalten. Und jetzt hatte man ihr noch die Wohnung weggebombt, was wurde ihr noch alles zugemutet? Sie zitterte am ganzen Körper, aber auch das half ihr nicht. Die Kinder fragten geschockt: „Mama, wo ist unser Haus, wo ist mein Bett, ich bin so müde?“

Johanna wusste von einer Notunterkunft, da ging sie jetzt wortlos hin. Mit den vier kleinen weinenden Kindern an den Händen, die von der Brutalität der Situation gar nichts begriffen. Die noch nicht mal wussten, dass ihr Vater bereits tot war und nie wieder kam, um sie in den Arm zu nehmen. Das hatte Johanna ihnen verschwiegen, sie wollte damit auf bessere Zeiten warten.

PERDITA

Подняться наверх