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3. Kapitel: Maximilian und Tim
ОглавлениеEndlich war es so weit, sie stand vor dem Spiegel, es war ein schöner Samstagmorgen, die Sonne schien warm durch das Fenster, wie gemacht für ihren Ausflug. Sie fand sich wunderschön in ihrem neuen hellblauen feingeblümten Kleid mit dem tiefem Ausschnitt, ein Hauch ihres neuen Parfums schwirrte durch den Flur. Sie drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Der Stress mit Burkhard tat ihr sogar gut, stellte sie fest, sie hatte 3 Kilogramm abgenommen.
Beschwingt nahm sie ihre Handtasche vom Haken, in ihr befand sich die heimlich aufgeschriebene Wegbeschreibung zu Maximilian nach Hamburg, die Wegbeschreibung, die sie im Geiste hundert Mal durchgegangen war. Burkhard kam aus dem Arbeitszimmer, musterte sie von oben bis unten, fragte sie, wohin sie denn in diesem Aufzug wollte.
„Weg“, war ihre knappe Antwort. Schnell senkte sie die Augen, damit er das freudestrahlende Funkeln nicht sah. Burkhard holte tief Luft, die Zornesröte stieg in ihm hoch, er nickte dann aber und verschwand wieder in sein Arbeitszimmer. Aber nicht ohne die Tür kräftig knallen zu lassen. Es war ihr egal, zum ersten Mal war es ihr egal, was er fühlte.
Nach langer Fahrt Richtung Hamburg bog sie endlich von der Autobahn auf eine Bundesstraße ab und dann weiter über eine Landstraße, und dann nach der dritten Straßenkreuzung weiter geradeaus bis rechts zum Treffpunkt auf einem öffentlichen Parkplatz an der Elbe. Hier begann ein idyllischer Wanderweg immer an der Elbe lang.
Es war ganz schön viel los, nach einigem Rumkurven fand sie auf dem Parkplatz eine freie Parklücke und hatte einen traumhaften Blick auf den großen Fluss. Mit einem ziemlich mulmigen Gefühl im Magen schaltete sie den Motor aus und schaute noch kurz in den Spiegel, ob auch ihr Haar richtig saß. Sie hatte viel Haarspray verwendet, sie wollte gut aussehen, sie wollte Maximilian verzaubern.
Sie schaute sich ratlos um, wo war er nur? Da bewegte sich ein Mann aus der Deckung anderer Autos und kam geradewegs auf sie zu. Und spontan kroch Angst in ihr hoch, sie hatte Maximilian ja noch nie vorher gesehen. Was nur machte sie hier? Sie fühlte sich fast wie vor einem Zahnarztbesuch und ihr Magen zog sich zusammen. Sie holte tief Luft und öffnete die Autotür einen Spalt breit, da sprach der Mann auch schon:
„Hallo, ich bin der Maximilian aus dem Internet, bist Du Perdita?“, stellte er sich vor. Sie sah ihm an, dass er ziemlich erleichtert war, dass sie wohl kein Ungeheuer war.
„Ja, ich bin Perdita, aber sag bitte Pia zu mir.“
Sie stieg aus dem Auto und stand dann so was von ernüchtert vor Maximilian. Maximilian war ein fremder hagerer Mann mit einem blonden Lockenkranz, der nur selten lächelte und noch weniger redete. Ein Wissenschaftler halt. Er hatte ein schmales hageres Gesicht mit einer kantigen langen Nase. Es war eigentlich schon ein ganz normales und durchschnittliches Gesicht. Eigentlich nur langweilig. Maximilian trug Jeans, Turnschuhe und ein kariertes Hemd, das ordentlich und korrekt in die Hose gestopft war und einen Ledergürtel. Maximilian war sehr ordentlich, das merkte sie sofort.
Was hatte sie erwartet? Einen Prinzen, der auf einem Pferd angeritten kam und sie in sein Schloss entführte? Tausend Sterne, die um ihn herum schwirren? Ja, genau, so was Besonderes hatte sie erhofft. Wo war das Romantische aus ihren Chats geblieben, dieses „ich umarme Dich liebste Perdita, ich habe solche Sehnsucht nach Dir, liebste Perdita.“ Wo war der einmalige Zauber ihrer gemeinsamen Nacht geblieben?
Es war eine solche Diskrepanz zwischen seinem Verhalten und seinen Worten, dass sie auf der Stelle zurück zu ihrem Burkhard wollte. Sie wollte in ihr altes Leben zurück. Sie haderte mit sich, ach wäre sie doch nur mehr auf Burkhards Versöhnungsversuche eingegangen. Warum hatte sie ihre Matratze nur immer wieder in den Abstellraum zurück geschleppt und Burkhard nicht alles verziehen? Dann überlegte sie weiter, was hatte sie eigentlich von Maximilian erwartet? Woher sollte eine Vertrautheit kommen? Wie naiv war sie eigentlich?
Maximilian und sie waren zwei Menschen, die sich nur über das Chatten kennen gelernt hatten. Sie hatten sich ein paar nette romantische Worte in einer einsamen Nacht geschrieben. Zwei Fremde auf der Erdoberfläche, die sich plötzlich trafen und ganz unterschiedliche Lebenserfahrungen hatten. Zwei Menschen, die unterschiedliche Ziele im Leben verfolgten und die hart dafür arbeiteten. Sie waren weder Traumprinz noch Traumprinzessin.
Sie verbrachten trotzdem einen sehr harmonischen Tag miteinander, sie wollten, dass es zwischen ihnen funktioniert. Pia zeigte sich von ihrer liebsten Seite, sie lächelte nett, reckte und streckte sich kokett, spielte mit ihrem Haar, er lächelte ein wenig zurück und erzählte von seiner Arbeit und den anstehenden Projekten. Und von dem dicken Auto, was er sich kaufen wollte.
Maximilian zeigte ihr sehr viel von seiner Heimatstadt. Abends saßen sie am Fluss und schauten bei einem Bier in einem lauschigen Biergarten mit herrlichem Blick auf die Elbe den großen Lastschiffen zu, die mit ihrer Ladung gemütlich den Strom hinauf- oder hinunterzogen. Der Mond stand groß und mit voller Leuchtkraft am Himmel, eine traumhafte Atmosphäre umgab sie. Ab und zu hupte ein Lastschiff aus weiter Ferne. Ein paar Möwen kreischten in der Dunkelheit. Die Grillen zirpten. Die Sterne funkelten.
„Erinnerst Du Dich, der Himmel sieht jetzt genauso aus, wie damals bei unserem ersten Chat“, fand Maximilian, seine Stimme wurde weich und weicher.
„Oh ja, es ist wieder ein unglaublich schöner Abend“, seufzte sie, schloss für ein paar Sekunden die Augen und entspannte sich immer mehr.
Die Beiden wurden sich immer vertrauter und die Gespräche wurden immer angenehmer. Sie fingen an richtig zu lachen und machten leichte Scherze miteinander. Einmal kam sogar seine Hand rüber und streichelte für zwei Sekunden ihren Arm. Schnell zog er zu ihrem Bedauern seinen Arm wieder zurück. Es fühlte sich sehr angenehm an, dachte sie, schade, dass er so schüchtern ist. Es war die erste zärtliche Berührung eines fremden Mannes nach über 20 Jahren. Es gefiel ihr. Sie bekam Gänsehaut.
Dann wurde es immer kälter, die Feuchtigkeit des Flusses stieg hoch und kletterte in die Kleidung, sie wurde unruhig. Es wurde spät.
„Maximilian, ich muss so langsam zurück fahren, ich hab noch eine ganz schön lange Strecke vor mir.“
„Ok, ich wünsche Dir eine gute Heimfahrt.“
Sie verabschiedete sich von Maximilian mit einer schüchternen Umarmung. Maximilian ließ seine Arme baumeln und stand einfach nur da.
Dann stieg sie in ihr Auto, ließ den Motor an und winkte Maximilian zum Abschied noch einmal zu. Sie verließ den Parkplatz und steuerte ihr Auto in Richtung Autobahn und nach Hause. Ihre Wegbeschreibung musste sie jetzt nur rückwärts lesen, dazu musste sie ab und zu das Licht im Auto anknipsen.
Alles klappte prima, sie hatte alles gut im Griff. Aus dem Radio dröhnte gerade einer ihrer Lieblingssongs, sie trällerte laut mit, da sah sie vor sich das Schild Baustelle, was sollte das jetzt bedeuten? Kurz darauf war die Straße komplett gesperrt, einfach komplett gesperrt. Das fröhliche Singen war ihr vergangen.
Total frustriert blieb ihr nichts anderes übrig, sie musste den Schildern folgen und von der Autobahn abfahren.
Zuerst fand sie die Umleitungsschilder und hielt sich daran, das schien ja gar nicht so schlimm zu werden. Sie wurde übermütig und stellte das Radio wieder lauter.
Dann übersah sie wohl irgendein Umleitungsschild, oder es kam einfach keins mehr, weil die Bauarbeiter es vergessen hatten, jedenfalls fuhr sie plötzlich durch endlose Dörfer und Landschaften.
Sie verfuhr sich gründlich bei ihrem grottenschlechten Orientierungssinn und der Angstschweiß stand auf ihrer Stirn. Sie beneidete Menschen, die einen unsichtbaren Kompass in sich trugen, der ihnen half, nicht die Orientierung zu verlieren. Die den Ort wiederfanden, wo sie schon einmal waren. Davon hatte sie rein gar nichts. Niemand außer ihr war unterwegs, die einsamen Landstraßen waren wie leergefegt. Die Straßenschilder sagten ihr gar nichts, nur in ein paar Häusern brannte vereinzelt ein Licht, das beruhigte sie etwas.
Manche Häuser kamen ihr vertraut vor, die hatte sie kurz zuvor doch schon mal gesehen. Fuhr sie etwa immer im Kreis? Auch das noch, sie war ziemlich verzweifelt. Irgendwann, sie war viele Stunden unterwegs gewesen und es war schon längst wieder hell draußen, da erreichte sie erleichtert ihr Haus. Sie war einmal quer durch Deutschland gefahren, jedenfalls kam es ihr so vor. Sie schaltete den Motor aus. Ihr Handy zeigte eine neue Nachricht, eine SMS von Maximilian, die er fünf Stunden zuvor geschrieben hatte.
Er schrieb: „Hi liebe Perdita, meine liebste Pia, ich finde Dich sehr nett. Ich habe mich leider nicht getraut, Dich zu küssen, ich vermisse Dich. Wie gerne würde ich Dich in meinen Arm nehmen. Kannst Du noch einmal zurückkommen?“ Sie lächelte verliebt, zurückkommen? Wenn Maximilian wüsste, wie lange sie für die Strecke gebraucht hatte. Sie streichelte mit dem Daumen liebevoll über das Display und war gleichzeitig todmüde. Sie dachte zurück an den Fluss, an den Mondschein, an die Schiffe. Sie dachte an den verkrampften Maximilian, der sich nach und nach lockerte und wie schön es zuletzt mit ihm war, ihr wurde warm ums Herz. Wie er da zuletzt beim Abschied gestanden hatte. Ja, sie wollte zu ihm zurück.
Sie nahm den Haustürschlüssel und öffnete kurz darauf grinsend die Haustür. Als sie ins Haus kam, empfing sie neben Burkhard eine Eiseskälte im Hausflur, er registrierte noch ihr glückliches Lächeln, bevor sie es vor ihm verbergen konnte.
Burkhard sah übernächtigt und wütend aus. Er hatte tiefe Augenringe und stellte sie gereizt zur Rede. Drohend stand er vor ihr:
„Kannst Du nicht anrufen, wenn Du so lange weg bleibst? Ich habe mir Sorgen um Dich gemacht!“
„Du bleibst auch immer so lange weg und meldest Dich nicht! Was Du kannst, kann ich auch!“ antwortete Pia, sie hatte allen Mut zusammen genommen. Sie war mehr als einen Kopf kleiner als Burkhard. Sie war ihm körperlich restlos unterlegen.
„Ich habe mir das Schlimmste ausgemalt, warst Du mit einem anderen Mann im Bett?“ Jetzt schäumte Burkhard vor Wut. Wie konnte sie ihm das antun. Aber jetzt war sie da, sie würde jetzt was zu hören kriegen. Aggressiv schrie er sie lauthals an:
„Pia, Du hast alles zwischen uns zerstört. Ich habe alles versucht, damit wir uns wieder näher kommen. Nachdem Du gechattet hast, bin ich nicht mehr weggefahren. Ich bin bei Dir zuhause geblieben. Unsere Beziehung war mir wichtig. Aber Dir ist ja alles egal.“
Pia wusste nicht, wovon Burkhard sprach. Was bedeutete „wir uns wieder näher kommen?“ Sie war nie weg von ihm gewesen. Während sie noch nachdachte, brüllte er weiter.
„Du bist die ganze Nacht über weggeblieben, sag endlich bei welchem Kerl Du warst? Wie heißt er? Kenne ich ihn?“
„Es ist nicht zu fassen, Du bleibst Nächtelang weg und nur weil ich ein einziges Mal so spät nach Hause komme, machst Du mir so eine Scene?
Dann kamen Vorwürfe ohne Ende, er redete sich in Rage und zog immer wieder heftig an ihren Armen. Er tat ihr weh.
„Burkhard, hast Du eine Freundin? Sag es mir bitte, damit unsere Beziehung noch eine Chance hat, ich will so nicht weiterleben, ich will wissen, was los ist! Nicht ich habe unsere Beziehung kaputt gemacht, das warst Du!“, war ihr Gegenangriff.
Aber was dann alles aus ihm herausbrach, war so erschreckend, Pia war sprachlos.
„Pia, du warst nie da für mich, Du hast immer nur zu Deinen Eltern gehalten. Ich habe nicht nur eine Freundin in der Zeit gehabt, sondern drei. Und nur Du hast Schuld daran, dass es jetzt so zwischen uns ist. Es ist Deine schreckliche Art, die mich in die Arme dieser Frauen getrieben hat!“
Sie hörte sich das alles wortlos an, ihr Verstand raste, dann riss sich von ihm los und ging an ihm vorbei die Treppe hinauf und schloss sich im Abstellraum ein. Sie öffnete den Reißverschluss und ließ ihr neues Kleid achtlos zu Boden fallen, sie kickte es mit dem Fuß in die Zimmerecke und versteckte sich heulend unter ihrer Bettdecke.
Die Situation zwischen Burkhard und ihr wurde von Tag zu Tag immer drückender, Burkhards Blick immer verschlossener und strafender, sie wusste nicht mehr, wie sie die Tage und Nächte aushielt. Aber sie schlich sich weiterhin nachts ins Arbeitszimmer, Maximilian war nie online. Frustriert legte sie sich stets kurz darauf leise auf ihre Matratze zurück.
Da gongte plötzlich das Handy unter ihrem Kopfkissen. „Na alte Lady, ich war ein paar Wochen in China ohne Empfang, wohnst Du noch bei Deinem Kerl?“ Tim, ach Tim.
Mittlerweile war es ihr egal, ob ihre SMS auf der Telefonrechnung auffielen, sie antwortete. „ Hi, ja ich wohne hier noch, er hat nicht nur eine, sondern gleich drei Freundinnen! Ich weiß nicht mehr, was ich ihm glauben kann, ich vertraue ihm nicht mehr!“ Sofort gongte das Handy wieder:
„Gratuliere Dir zu so einem Prachtexemplar!“
Während sie noch las, gongte es nochmals: „Bin übrigens in Deiner Nähe, ein Kunde hat Maschinenausfall, Lust auf ein Date?“ Sie schrieb zurück:
„Mir geht es schon schlecht genug, ich muss hier mal raus, wo und wann?“
Sie trug wieder ihr neues Kleid und war am vereinbarten Treffpunkt, wieder ein Parkplatz. Ihr Herz klopfte wild. Diese Treffen mit Männern, die sie noch nie vorher gesehen hatte, strengten sie an und nervten. Wie Tim wohl aussah? Maximilians Aussehen war schon gewöhnungsbedürftig, hoffentlich gefiel ihr Tim besser. Sie wusste mal wieder sehr wenig von ihrem Date und ein Foto von ihm hatte sie auch nicht gesehen. Sie hatte Tim gefragt, aber keins bekommen. Er wollte sich persönlich vorstellen. Das konnte alles Mögliche bedeuten, wurde ihr jetzt klar.
Auf dem Parkplatz war niemand. Pia stellte sich etwas versteckt hinter ihr Auto, so wie Maximilian das mit ihr gemacht hatte. Dann hätte sie notfalls die Möglichkeit, schnell ins Auto zu springen. Hm, vielleicht sollte sie die Autotür vorsichtshalber auch schon mal öffnen. Sie ging zum Auto und stellte sich vor die geöffnete Tür. Wo blieb Tim bloß?
„Tim, wo bist Du?“ schrieb sie nach fünfzehn Minuten Warterei. Hatte er sie einfach feige versetzt? Das jetzt auch noch!
Ihr Handy gongte sofort:
„Ach, endlich da? Wollte nicht mehr länger am Parkplatz warten. Ich bin in einer Eisdiele. Vom Parkplatz gehst Du durch das Tor in der Stadtmauer, dann rechts die Straße runter.“ Sie ging langsam die Straße lang, was sollte dieses Versteck spielen? Das gefiel ihr gar nicht.
Auf einer Mauer saß nur ein jüngerer kleiner Mann mit 3/4 Hose, Sandalen, kariertem Hemd, auffälliger Brille und Glatze, Drei-Tage-Bart. Er las aufmerksam in seinem dicken Buch. Er schaute kurz auf, als sie vorbei ging und las dann weiter.
Sonst war da niemand ohne Anhang in der Eisdiele, nur Pärchen mit und ohne Kinder, ach da hinten war noch eine Eisdiele. Sie ging die Straße weiter, schaute sich draußen die Sitzplätze der Eisdiele an und schaute ins Innere. Auch da war niemand, der auf sie warten könnte. Nee, das war unangenehm, sie machte sich hier ziemlich zum Affen.
„Tim, mir reicht es, das Handy ist schon fast leer, ich fahre zurück!“
Sie war sauer und wollte nach Hause. Hatte sie der Feigling doch versetzt und spielte hier nur mit ihr? Da meldete sich das Handy:
„Ich bin der Typ auf der Mauer, wollte erst mal schauen, wie Du aussiehst. Bist ganz ok!“
Och, d e r… so ein Mist, jetzt konnte sie nicht mehr weglaufen, sie ging also langsam und gereizt zu ihm. Außerdem kann es doch gar nicht angehen, dass er
sie sich wie auf einem Laufsteg von allen Seiten anschaut, dachte sie wütend!
Tim hatte sie sich irgendwie ganz anders vorgestellt, er war das genaue Gegenteil von Burkhard. Burkhard war 1,90 m, trug immer das Hemd in der langen Hose, einen Ledergürtel und Lederschuhe. Sommer wie Winter. Konservativ und korrekt, fast so wie Maximilian. Tim war so groß wie sie, und das sollte schon was heißen, unkonventionell und flippig.
Und er hatte nette blitzende Augen hinter seinen Brillengläsern. Er nahm sie spontan in den Arm.
„Donnerwetter, hübsch bist Du, und diese tiefen Grübchen in Deinen Wangen gefallen mir, Dein Busen übrigens auch“, sagte er selbstbewusst und schaute ihr erst ungeniert in den Ausschnitt und dann frech in die Augen. Seine Augen befanden sich fast auf gleicher Höhe wie ihre. Er war offen und freundlich, das war doch schon mal was und nicht so zugeknöpft wie Maximilian.
Er fand sie hübsch? Das schmeichelte ihr, sie wurde rot. „Echt?“
„Komm wir gehen ein Stück“, meinte Tim einladend mit einer Handbewegung, als ob ihm die Welt gehören würde. Mit Burkhard war ein Spaziergang leicht, sie gingen einfach nebeneinander her, mit Tim allerdings eine Qual. Sie gerieten ständig ins Gehege, er rempelte sie an, sie ihn.
Seine Arme stießen an ihre und umgekehrt, wahrscheinlich weil beide gleich groß waren, es war ungewohnt für sie einfach so mit einem anderen Mann spazieren zu gehen. Er müsste mehr Abstand halten, dann wäre es leichter, dachte sie, aber immer, wenn sie ein paar Zentimeter seinem Körper auswich, kam er wieder näher an sie ran.
Sie gingen die gemütliche Einkaufsstraße des kleinen Dorfes entlang, sie schaute sich neugierig um. Es war ein hübsches und gepflegtes Dorf mit Blumen vor den Fenstern, einer alten und etwas verfallenen Stadtmauer, grauem Backsteinpflaster auf den kleinen Straßen und Backsteinhäuser in Rot. Richtig malerisch, sie kam ins Schwärmen:
„Schau Dir mal den Giebel dieses Fachwerkhauses an, ist der nicht wunderschön“, meinte sie manchmal, wenn sie ein besonders schönes Haus sah.
„Hmm“, nickte Tim dann gedankenverloren, das Dorf schien ihn nicht zu interessieren. Stattdessen schielte immer auf ihren Körper. Sie spürte seinen Blick, versuchte ihn aber zu ignorieren. Pia, Pia, dachte sie sich, Du machst Sachen, Du wirst zum Freiwild. Aber es war ein schönes Gefühl, begehrt zu werden. Sie schaute sich in der Scheibe des Schaufensters an, ja, sie sah gut aus. Ihr Kleid stand ihr.
Dann hatte Tim Hunger, er lud sie in den Biergarten ein, der rechts vor ihnen auftauchte. Während des Essens redeten sie über ihre Chats, über Burkhard und ihre Situation im Haus und über Tims letzten Job in China. Dann brachte er sie zu ihrem Auto, drückte sie herzlich an sich. Er wollte sie gar nicht loslassen und sie fuhr fröhlich nach Hause. Es war ein schöner Tag.
Zuhause schaute sie auf ihr Handy, Tim schrieb, „hast echt süße Knospen!“
„Frechdachs“, schrieb sie grinsend zurück. Ach war das schön mit ihm. Sie wollte ihn wiedersehen, sie wollte noch einmal mit ihm im Biergarten sitzen. Sie wollte noch einmal von ihm in den Arm genommen werden. Und nicht mehr losgelassen werden.
Sie war so einsam und bombardierte Tim die nächsten Wochen immer mehr mit ihren Sorgen, sie fragte ihn auch ständig, wann sie sich wieder sehen können. Sie klammerte. Burkhard verließ abends wieder das Haus, aber das war ihr egal.
Da schrieb Tim plötzlich und vollkommen unerwartet für sie:
„Hey Pia, ich muss für 3 Monate nach China. Dort ist kein Empfang. Ich habe eine Freundin, vertrag Dich wieder mit Deinem Kerl, mach’s gut!“
„Du hast eine Freundin???“, schrieb sie erschrocken, das konnte doch jetzt nicht wahr sein? Es kam keine Antwort mehr von ihm, sooft sie auch aufs Handy schaute. Hatte sie sich so in ihm getäuscht? Wieso passierte immer ihr so was?
Tim war genauso wie Burkhard, schoss es ihr durch den Kopf, auch er hatte eine Partnerin und ging auf „Freiersfüßen“ quer durchs Internet. Nur sie stand dieses Mal auf der anderen Seite, nicht als die betrogene Ehefrau, sondern als ein Ziel für Fremdgeher.
Sie kannte in ihrem Leben ja nur Burkhard und Tim, und beide führten ein Doppelleben und sie kannte Maximilian, der immer wieder abtauchte, wenn sie ihm zu nahe kam. Was für Männer waren das denn, die sie da kennenlernte? Gab es auch andere, zuverlässige?
Oder hatte sich die Welt in den letzten 20 Jahren, in denen sie die brave Ehefrau gespielt hatte, so verändert, sie kannte sich mit dem Leben und den Männern nicht mehr aus. Sie fand das alles nur schrecklich. Auf einmal sah sie die Männer um sie herum mit anderen Augen und erkannte kleinste Anzeichen auch bei ihren Bekannten und Kollegen. Wie naiv war sie die ganzen Jahre nur gewesen?