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In den letzten Jahren hatte Hanna den Zug verloren. Die Rabattmarkenhefte füllten sich widerborstig langsam und zwischen Pieper und Bereitschaftsliege verabschiedete sich der Schlaf.

Wie müde kann ein Mensch sein? Sickernd und knirschend füllt Sand jede Ritze, zwängt sich zwischen die Zehen, gerade dann, wenn sie Halt suchen, die verlorenen Glieder. Nicht jeder muß fallen, aus dem Pleistozän säuselnde Vergeblichkeit tut es auch.

Vor einem Jahr schob man Hanna, die sich die Sandkörner schon aus den Ohren schüttelte, auf die Innere II, nachdem ein Kollege sich unfreiwillig in die Geschlossene hatte verlegen lassen. Dort zogen die Zwölftoner in ihren Arbeitsalltag ein.

Es hatte sich gut leben lassen mit ihrer zwitschernden Haubenmeise, den nur von der großen Frau vernommenen Tönen. Bis zur Inneren II. Es war zu dissonant dort und darunter bodenlos still. Nicht wie auf der Kinderonkologie, wo der nahende Tod halbfertiger Menschlein allen den Atem raubt. Oder der Neurochirurgie, wo Hirne aus Zusammenhängen fallen. Die Innere II war die Station zementierter Lebensachsen, ein Ort ohne Umkehr. Hierher kam, wer nach chirurgischen Maßnahmen einfach nicht gesund werden wollte, vor dem Pflegeheim. Sie war voller Menschen, die versuchten, ihre letzten Atemzüge auf möglichst große Abstände zu verteilen, um Zeit zu gewinnen. Aber Lebenszeit läßt sich nicht verlängern.

Tickeditack, sie verrinnt.

Hanna betrat die Station und glaubte, es sei das Orchester der Kranken, das so verstimmt die Flure in Besitz nahm. Sie glaubte an das Klammern der Todesnahen, an krallende Finger in weißbekittelten Unterarmen. Tun Sie doch was, helfen Sie, ich habe Schmerzen, bekomme keine Luft, habe Angst Angst Angst.

Sie brauchte zwei Monate, um die Quelle der quälenden Töne zu entdecken. Auf dem Flur stritt ein Angehöriger mit der Oberschwester, also ging sie in den Lagerraum für die medizinischen Hilfsmittel, um sich auf das Diktat der Arztbriefe konzentrieren zu können, und schloß die Tür hinter sich. Es fiepte, kreischte und dröhnte um sie. Sägen quietschten über Metall, in Röhren jaulte der Misston. Sie sah sich um, aber da war nur ihr Arbeitsgerät, steril verpackt, systematisch gelagert. Kanülen, Spritzen, Klistiere für die Verstopften, Windeln für die Inkontinenten, künstliche Darmausgänge. Starr saß sie da, wollte nach Mutter und Schwestern rufen, die abdecken, raustragen sollten.

Aber niemand kam, niemand half. Ihre Brust wurde eng, ihr Atem flach. Sie verließ rückwärts den Raum, schloß die Tür und horchte. Auf dem Flur baumelte ein einsamer Galgen über dem Bett einer Verstorbenen. Die zu zwei Dritteln geleerte Infusionsflasche sang wie ein Xylophon, durch das der Wind zog. Sonst war es still. Vorsichtig öffnete sie die Tür einen Spalt und fauchender Lärm stürzte auf sie ein. Sie stieß sie wieder zu und lehnte sich dagegen.

Hanna war gebürtige Berlinerin und also an pragmatische Umgehungslösungen gewöhnt. Sie mied das Ersatzteillager, schickte Schwestern und Pfleger und schrieb ihren Verwaltungskram in der Besenkammer. Aber sie wurde empfindlicher. Jedes Krankenzimmer dröhnte lauter, von Monat zu Monat. Es war, als ob die Infusionsbestecke, die kreischenden, kopfüber hängenden Infusionsflaschen, die vollgebluteten, eitrigen Verbände sie verhöhnten. Sie alle waren bei guter Stimme und Hanna kaufte sich Gehörschutz.

Sie bat um Versetzung, warf all die Jahre in die Waagschale, in denen sie nun schon, bei schlechter Bezahlung, ihre Lebenszeit drangab. Man lächelte verständnisvoll, na ja, die Innere II, und versicherte, sein Bestes zu geben, einen Ersatz zu finden.

Sehr wahrscheinlich.

So hangelte sie sich von Tag zu Tag, Woche zu Woche, immer müder, immer weniger in der Lage, einen Ausweg zu sehen jenseits der Geschlossenen. Sie wurde gereizt und aggressiv. Ihre zunehmenden Ausfälligkeiten und beißenden Kommentare hielten ehrfürchtige Patienten für Kompetenz. Bis Hermine Neuhaus auf ihre Station kam und Hanna nach achtundvierzig Stunden Dienst und also Dauerbeschuß einer Schönbergsinfonie, die auf Endlosschleife gestellt war, am Ende war wie noch nie in ihrem Leben. Der Pfleger Christian schob sie hinein, ein weicher Mann, dessen Mitgefühl um einige Kubikmeter zu groß war für seine Arbeit und der sich mit Cannabis die Erkenntnis vom Leib hielt, daß er besser umschulen sollte. Wie durch einen Tunnel sah Hanna, daß Christian außerordentlich sanftmütig mit der Kranken umging. Er stoppte vor Hanna, die Mühe hatte, in dem riesigen Krankenhausbett das kleine Vögelchen zu entdecken, das sie aus braunen Äuglein ansah.

»Das ist Hermine«, sagte er, »und sie möchte bei uns sterben.«

Jakob öffnete das quietschende Tor zur Kolonie Edelweiß. Er sah sich um. Kein Wegweiser, nur Hecke rechts und Hecke links. Sorgsam schloß er das Tor und folgte dem Weg.

Die Lebensgefährtin von Heinz Schuman fand, er könne die Laube gar nicht verfehlen, es sei die mit dem höchsten Fahnenmast und dem größten Berliner Bären darauf. Er versuchte, die Dächer der Häuschen zu erkennen. Alles eingeschossig. Umrahmt wurde die Schrebergartensiedlung in drei Richtungen von den Rückseiten der Gartenhäuser. Fünf Stockwerke anno Anfang zwanzigsten Jahrhunderts, dazwischen sorgsam gestutzte Obstbäumchen laut Nutzgartengebot. Nur hier und da ragte ein einzelner Laubbaum weit über seine Nutzgeschwister hinaus. Bestandsschutz. Mindeststammumfang anfüttern und draußen waren die fällsüchtigen Gartenfreunde.

Keine Fahnenstange weit und breit, nur Wetterhähne und Dachpappe. Jakob sprang hoch, um weiter gucken zu können.

»Wat suchen se denn?« Auf ihren Unkrautjäter gestützt stand eine dicke Frau im dicken Pullover auf dem schmalen Weg zwischen ihren strotzenden Rabatten.

»Den Schuman, Tagchen, wissen Sie, wo der seine Laube hat?«

»Kenn’ ick nich’, wer soll det sein?«

»Hat ’ne große Bärenfahne, hat’s mit dem Rücken und ist Kommissar. Ich bin sein Kollege.«

»Ach, die Stimmungskanone. Na, wenn der’s mit dem Rücken hat, bin ick Mutter Theresa. Sticht gerade Spargel, falls Ihnen das was sagt.« Sie deutete mit einem Arm vage den Weg runter. »Immer weiter, und dann linke Hand, ist nicht zu verfehlen, hat als einziger ein blaues Tor. Herthafan, die arme Sau.«

Jakob genoß den von trompetenden Maivögeln besungenen Weg zum blauen Tor. Er sah Schuman zu, wie er gebeugt die Spargelstangen freilegte. Kraftvoll stieß er den Spargelstecher in die Erde, sanft legte er die Stangen in den Korb. Jakob öffnete das jaulende Tor und Schuman richtete sich auf.

»Was willst denn Du hier? Schickt Dich der Chef, um zu gucken, was meine Diensttauglichkeit macht? Kannst gleich wieder gehen. Untauglich, sagt mein Doktor. Und wenn Du mich fragst, kann das auch noch ’ne Weile so gehen.« Er deutete um sich. »Hier gibt’s jede Menge zu tun.«

»Freut mich auch, Dich zu sehen«, sagte Jakob. »Hast Du keinen grünen Spargel?«

»Sag’ nicht, daß Du Dich damit auskennst, Du Schlaumeier. Ich hab’ zwar nicht studiert, aber von Spargel verstehe ich mehr als Du.«

»Immerhin weiß ich, daß er nicht auf Bäumen wächst.«

»Sehr beeindruckend.«

»Können wir uns nicht irgendwo setzen? Dann kann ich Dir auch sagen, warum ich hier bin.«

Schuman schaufelte gemächlich das letzte Loch zu, streifte sich die Hände ab und ging zur Laube. Von der Terrasse nahm er einen Stuhl und stellte ihn Jakob auf den Rasen davor. Er selbst blieb stehen, lehnte sich an die holzverkleidete Umrandung der Terrasse und verschränkte die Arme.

Jakob setzte sich. »Sarah Schubert, erinnerst Du Dich?«

»Die Ex-Prostituierte mit dem feinen Pinkel aus Schlachtensee als Mann? Sicher erinnere ich mich.«

»Focke hat mir den Fall gegeben.«

»Na, da haste ja nicht mehr viel zu tun. Zeit für die Lorbeeren.«

»Und was meinst Du, wer es war?«

»Hast Du die Akte nicht gelesen? Ich denke, Du bist so eine Leseratte, sind meine Texte nicht gut genug? Der Alte natürlich. Verstrickt sich bei den Befragungen ständig in Widersprüche, war nervös wie eine Jungfrau auf dem Abschlußball.«

»Aber er hat ein Alibi. War er nicht in den USA zu einer Tagung?«

»Ja, ja, der Herr Physiker, schlauer Typ, aber nützt ihm nix. Klar hat er das nicht selbst gemacht. Aus dem Milieu hat er sich wen geholt und ist dann ab nach Amerika. Du hast doch gesehen, wie die Alte zugerichtet war? Klassische Milieukarriere. Die Brandwunden, der zerlegte Unterleib, der gefälschte Ausweis, ist doch sonnenklar. Er hat sie da rausgeholt, der feine schlaue Pinkel. Irgendwo in Westdeutschland, wenn Du mich fragst. Hat ihr ein schickes Häuschen in Berlin gebaut und gedacht, die Vergangenheit liegt irgendwo hinten und stört nicht weiter. Und nach ein paar Jahren hatte er sie satt, oder sie hat nicht gespurt. Also ist er zurück ins Milieu und hat zugesehen, daß er sie los wird, mit überschaubaren Kosten, trennen wäre teuer gekommen.«

»Hast Du für all das Beweise, die ich noch nicht kenne?«

»War der nicht im Norden irgendwo, bevor er hierher kam? Haben die sich da nicht kennengelernt? Das einzige, was noch fehlt, um ihn festzunageln, ist der Auftragnehmer. Ich tippe mal Hamburg. Kann doch nicht so schwer sein, den zu finden, nicht mal für Dich.«

»Und was ist mit der Tätowierung?«

»Milieu, sag’ ich doch. Eine Art Markierung. Ich kann mich nicht um jede Perversion unserer Kundschaft kümmern.«

»Hast Du mit Hamburg schon was unternommen?«

»Amtshilfe beantragt, im letzten Sommer. Bevor ich nachhaken konnte, trat meine Bandscheibe auf den Balkon.«

»Sonst noch etwas, das ich wissen muß?«

»Was sollte das sein, wie gesagt, alles so gut wie fertig. Bißchen blöd, wie lange das her ist, zugegeben, aber Focke hätte auch früher jemanden darauf ansetzen können. Warum der Dich eingeteilt hat, ausgerechnet jetzt, ist mir nicht ganz klar.«

»Was soll das heißen?«

»Na, Du bist ja auch krank und so.«

»Vor allem und so.«

»Krank ist krank. Darüber spottet man nicht. Du magst ja ein aufgeblasenes Arschloch sein, aber trotzdem bist Du krank.« Er holte sich einen zweiten Stuhl von der Terrasse und setzte sich neben Jakob. »Weißte denn schon, ob es für die Frühpensionierung reicht?«

Jakob stand auf und brachte seinen Stuhl zurück. »Was ist eigentlich mit Deiner Fahne? Ich sehe nicht mal einen Mast.«

»Ich sage nur Vereinsheim. Die Herren und neuerdings auch Damen der Kolonie Edelweiß haben abgestimmt. Sechsundvierzig zu eins. Die Fahne stört das Gesamtbild, daß ich nicht lache. Berlin ist auch nicht mehr, was es mal war.«

»Ich muß dann. Wenn mir noch Fragen einfallen, komme ich wieder vorbei.« Jakob wandte sich zum Gehen.

»Aber immer gerne, ich geh’ hier nur zum Schlafen weg. Meine Alte hatte auch schon mal bessere Laune. Dann lieber Spargel.«

Natürlich ist das Krankenhaus ein Ort zum Sterben. An einem so großen Klinikum wie dem Hannas wurde praktisch täglich das Zeitliche gesegnet. Aber niemals, das ist ehernes Gesetz seit Urvater Dr. med. Abrahams Zeiten, niemals, weil der Patient es möchte.

Es wird gestorben gegen den schweißtreibenden Einsatz von Ärzten, Pflegern und Krankenschwestern. Gegen den Lebenswillen, das Nach-Luft-Japsen, Schreien um ein paar Tage mehr auf diesem überfüllten Planeten. Keine Qual ist zu groß, keine Erniedrigung zu tief, um nicht noch verlängert zu werden. Das Weitermachen, Gezerre an schon halb Entglittenen ist das Gesetz des Krankenhauses. Nach sieben Jahren an diesem Ort wurde Hanna, als sie in das Lächeln des zerknitterten Spatzengesichts von Hermine Neuhaus inmitten von gleißendem Weiß sah, plötzlich bewußt, was sie tat.

Sie führte kein Konzert auf, befähigte niemanden, sein Leben zu führen, befreit von den Malaisen des Körpers. Das einzige, was sie tat, war, dafür zu sorgen, daß dieses Konzert nicht zuendeging. Die Platte hatte nahe dem Ende einen Sprung, der sie in einer scharfen Rille zum Anfang zurückführte. Alle Musiker waren betäubt von den immergleichen Akkorden und von steigender Angst erfüllt, was geschähe, wenn sie erschöpft zusammensänken. Die Dissonanzen, in die Hanna so quälend eingeschraubt war, sie waren die vertonte Angst des Orchesters, das mit aufgerissenen Augen spielte.

Hanna hielt sich an Hermines Bett fest, hielt dem Blick stand, diesem alten, braunen Blick und verstand, daß alles nur auf die Angst zurückging, es könnte still sein.

Und Hanna ersehnte nichts mehr als diese Stille.

Jede zugeschlagene Tür war Folter. Jede sprechende Stimme, der brodelnde Autoverkehr, der Vielklang der U-Bahn, das Zwitschern der Spatzen, Knispern der Mäuse, alles zu viel, zu viel. Und jetzt zog Hermine Neuhaus in ihr Revier und wollte ihr die Stille bringen.

Sie bekam das schönste Zimmer. Christian legte indische Tücher über Neonleuchten, Hanna saß an ihrem Bett, streichelte die kleine Hand, die so viele und vieles berührt hatte und lauschte auf das Leben, das da mit dürrem Knistern an ihr vorbeizog. Hermine war 94 Jahre alt, hatte ein pralles Leben im Gestern zu bieten und eine gesättigte Gegenwart. Niemand war mehr auf Erden, den sie schätzte, mit dem sie fühlte. Sie wollte heim zu ihren Lieben, je schneller, desto besser.

Mit einer Darmblutung war sie eingeliefert worden, weil eine Apothekerin den Notarzt rief, als Hermine eine Großpackung Einlagen kaufte, um den Blutfluß aufzunehmen. Der Diensthabende hörte Hermine zu, die mehrfach wiederholte, das alles sei ein Mißverständnis, machte eine Darmspiegelung und bot ihr zwei Möglichkeiten an. Erstens Reparaturbetrieb. Sie hatte einen ausgewachsenen Darmtumor, vermutlich bösartig. Metastasen seien wahrscheinlich. Um die Blutung zu stoppen, würde man ihn entfernen. Zweitens, man entließe sie nach Hause, wo sie verbluten würde.

Verbluten ist ein schöner Tod, sagte Hermine. Ich nehme die Zwei.

Aber allein sein wollte sie nicht, ob sie nicht ein Eckchen für sie hätten, sie sei still, brauche nichts. Also landete sie, für einen Tag, höchstens drei, auf der Inneren II, der Endstation, bei Hanna.

Aber der alte Körper versickerte nur langsam. Zu viel Leben mußte auslaufen. Hanna überzog ihren Dienst, hielt Hermines Kopf und ein Wasserglas an die trockenen alten Lippen, schwieg mit einem unverschluckbaren Kloß im Hals, als der Spatz sagte, es würde ihm eine Freude sein, Hanna ihre Tellerchen, Tiegelchen und Tässchen zu vermachen. Im Testament sei ihre Nachbarin begünstigt, die gute Seele. Einen schönen Gruß von Mine, dann würde sie ihr schon alles geben.

Schließlich wurde Hanna vom sie ablösenden Kollegen unter Verweis auf die arbeitsrechtlich maximale Verweildauer von der Station geworfen. Der Spatz plusterte sich ein letztes Mal auf, reckte den Schnabel und tschilpte tapfer, das bringe er schon allein zuende.

Hanna ging. Das war der größte Fehler ihres halb verstrichenen Lebens. Zuhause versuchte sie das Gefieder des Spatzen von ihrer wunden Seele zu schütteln. Sie lief durch die Straßen im eiskalten Berliner Februar, sah den träge trudelnden Schneeflocken hinterher und war zu müde, schlafen zu gehen.

Die vorgeschriebenen 36 Stunden später war sie zurück. Eine renitente Leberzirrhose und ein Blutsturz forderten ihre ganze Aufmerksamkeit und so kam sie erst nach drei Stunden dazu, im Schwesternzimmer nach Hermine Neuhaus zu fragen. Deren Bett war abgeräumt, das Zimmer leer und so nahm Hanna an, daß sie verstorben war. In den Unterlagen war eine Verlegung vermerkt, was Hanna für einen Irrtum hielt. Eine erfolgreich erfolglose Reanimation an einem 86-jährigen Lungenkarzinompatienten sowie zwei Neuaufnahmen später sank sie erschöpft auf einen Stuhl und rief in der Leichenhalle an. Keine Neuhaus. Hermine hatte der Linoleumboden verschluckt.

Kurz vor Hannas Schichtende kam Christian in Mütze und Stiefeln auf die Station. Besonders breit, besonders deprimiert, und schilderte, was geschehen war. Eine Großnichte Neuhaus hatte an der Pforte randaliert, lebensrettende Maßnahmen gefordert und mit Anzeige gedroht. Der neue, leider lebenserfahrungsfreie und sicherheitsverliebte Diensthabende war mit ihr zur Inneren gegangen, hatte die in die Bewußtlosigkeit gesunkene Patientin in Augenschein genommen, Blumenvasen und psychedelische Tücher mit Verachtung gestraft und gesagt, das sei ein Krankenhaus und kein Hospiz. Eine halbe Stunde später war Hermine in den OP geschoben worden, hatte ihr Rektalkarzinom verloren, war zwei Mal wiederbelebt und mit einer großen Kanne Blutplasma versorgt worden.

Hanna spürte etwas in sich platzen, als sich im gleichen Moment die Fahrstuhltür öffnete und ein Krankenhausbett auf den Flur geschoben wurde. Hermines Schnabel war riesig, die Augen geschlossen, das Gefieder ausgefallen. Über dem Bett baumelte ein unverkennbarer Beutel, aus dem ein Schlauch führte und eine graugrüne Masse unter die Bettdecke, in die Reste des Spatzen entleerte.

Sie hatten ihr eine Magensonde gelegt. Sie hatte klar ihren Willen geäußert, eine Patientenverfügung hinterlegt, sie lag im Sterben und sie hatten ihr dieses Sterben verweigert. Das Kreischen des Bettes schlug von Wand zu Wand. Die Magensonde quietschte höhnisch.

Da lief es in Hanna über. Sie schrie und schlug um sich. Riss die Tür zu den Hilfsmitteln auf, warf Kanülen gegen Wände, zerfetzte künstliche Darmausgangspackungen, zerbrach Nährlösungsflaschen an Schränken. Griff Stühle und schleuderte sie den Flur hinunter. Trat gegen Spritzenkartons, zerschlug einen Mülleimer auf dem Tisch und stieg dann, mit einem Stuhlbein in der Hand, auf Hermines, inzwischen verlassen und verloren im Flur stehendes Bett zu. Sie riß die Decke hoch, sah die frische OP-Narbe, das hilflose Schamdreieck dieses fast hundertjährigen Spatzen, sah die kleine Brust sich müde, getrieben, getreten ins Leben, heben und senken, sah den Atem schwer gehen durch den halbgeöffneten Mund, sah die Venen ächzend auf den zerknitterten Handrücken pulsieren, den eingefallenen, vernarbten Bauch und riß mit einer energischen Bewegung die Magensonde ab.

Spritzend verteilte sich der Inhalt des Beutels, seine proteinreiche, physiologisch ausgewogene Nährlösung auf dem Flur. Sie nahm den Schlauch, und richtete ihn auf alles, was sie umgab. Drohte mit ihm, als eine Schwester jammernd in ein Zimmer flüchtete. Sie sah alle Lampen blinken, hörte ein Signalhorn, das sie nicht kannte, dumpf hinter dem höhnenden Gejaule, Gepfeife und Gedonner all der Homunculi, deren fratzenhafte Wesen sich nur ihr zeigten. Als der Beutel leer war, warf sie von einem Rollwagen in ihrer Nähe zwei bräunlichgelb gefüllte Urinale den Flur hinunter, schob Hermine in ihr altes, leeres Zimmer, schloß es von außen ab und verbarrikardierte sich im Schwesternzimmer. Sie fand in der Jackentasche einer Schwester Zigaretten, öffnete das Fenster, steckte sich mit zitternden Fingern eine an und sog mit dem Rauch tief die eiskalte Februarluft in ihre Lunge.

Gut gemacht, Hanna, dachte sie. Sehr, sehr gut gemacht.

Fallsucht

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