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IV

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Kriminalrat Hans-Dieter Fockemeyers Bürotür stand wie immer weit offen. Niemand, der ihn kannte, würde es wagen, einfach über die Schwelle zu treten. Focke war nur scheinbar Verfechter flacher Hierarchien, die geöffnete Tür fungierte als subtiles Machtmittel und gab Aufschluß über die Charakterstruktur seines Besuches.

Jakob klopfte an den Türrahmen. Sein Chef sah hoch und winkte ihn jovial herein, ohne sein offenbar amüsantes Telefongespräch zu beenden. Als Jakob vor dem Schreibtisch angelangt war, erschallte ein dröhnendes Lachen. Sicher nicht das erste, Schweißperlen glitzerten auf der haarlos hohen Stirn. Jakob wartete geduldig und aktualisierte seine Kenntnisse der mächtigen Buche vor dem geöffneten Fenster. Ihr Grün war von tränentreibender Zartheit, jetzt im Mai. Noch war wenig von der Härte zu sehen, die ihre Blätter im Verlauf des Sommers annehmen würden. Alle fingen flaumig an.

Focke warf das Telefon auf den Tisch. »Hagedorn, mein Lieber, schon wieder beim Tagträumen? Schön, Sie zu sehen, setzen Sie sich.«

Jakob fiel auf den Besuchersessel und sah seinen Chef an.

»Krankgeschrieben sind Sie immer noch, nicht wahr? Gut sehen Sie aber aus. Ist ja wohl auch nix, das einem im Gesicht steht. Dachte mir, vielleicht haben Sie Lust, wieder bißchen reinzuschnuppern in ihr altes Leben.« Er griff sich einen schwankenden Aktenstapel und ließ eine nach der anderen Akte krachend von links nach rechts wandern.

»Da ist sie ja. Gewaltsamer Todesfall. Der noch offene Fall des Kollegen Dings, Sie wissen schon, der mit dem Rücken. Lag flach kurz vor der Aufklärung, wie das so ist. Opfer war eine Professorengattin aus Schlachtensee mit Milieuvergangenheit. Hübscher Beleg für die These, daß man die Frau aus dem Puff, aber nicht den Puff aus der Frau bekommt. Vielleicht erinnern Sie sich sogar, war eine äußerst unappetitliche Schlachteplatte in einer muffigen Anglerhütte an der Havel. Irgendwelche Körperteile sind sogar bis heute abgängig. Gott, wie doppeldeutig, Schlachtensee und Fleischermetaphern, ich sollte das Dichten anfangen. Der Witwer ist nicht nur gescheit, sondern auch noch öffentlich erfolgreich, hoffe, das bekommen sie hin mit Ihren sensiblen Fingerspitzen. Schauen Sie, ob Sie sich das schon wieder zutrauen. Wirklich was Leichtes für Angeschlagene. Schuman heißt er, Heinz, jetzt habe ich’s. Guter Mann eigentlich, aber der Rücken, da kann man nichts machen.« Er schoß Jakob die Akte über den Tisch zu, der sie an der Kante stoppte.

»Wie soll das denn vor sich gehen, wollen Sie, daß ich mich gesund schreiben lasse?«

»Aber nein. Ich dachte mir, Sie schnuppern einfach mal ein bißchen, etwas Reha, Sie verstehen? Bleiben Sie ruhig weiter krankgeschrieben, bis Ihre Sache geklärt ist.«

»Meinen Sie die Gerichtsverhandlung?«

»Die natürlich auch. Und Ihr krankes Hirn«, er wackelte rechts und links der Ohren mit den Händen, »weiß man da schon Genaueres?«

Jakob schüttelte den Kopf.

»Kann auf jeden Fall nicht schaden, Sie auf andere Gedanken zu bringen. Viel vor die Tür müssen Sie nicht, ist alles ermittelt. Sehen Sie sich den Tatort an, Petri heil, lesen Sie die Akte, das wird schon reichen. Dann nur noch die Haftbefehle rausjagen und aus die Maus.«

Jakob runzelte die Stirn.

»Gefällt Ihnen nicht? Keine Geister, keine Medien, die Sie zum Helden machen? Bewegung durch die Stadt ist zur Zeit doch nicht so ratsam, oder? Bleiben Sie mal schön sitzen, da fallen Sie nicht so tief.« Fockes Lachen dröhnte in Jakobs Schädel. »Nix für ungut. Auf den Fluren macht man härtere Witze. Gibt nicht viel zu lachen in der Keithstraße, gönnen Sie den Kollegen ihr kleines Vergnügen.«

»Ich gewöhne mich zur Zeit an so allerlei, das ich mir nie hätte träumen lassen.«

»Wer weiß, wozu es gut ist.« Focke verschränkte die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich weit in seinem ledernen Chefsessel zurück. »Kann noch einiges auf Sie zukommen, ungefragt und in Bildern.«

Jakob zog sich die Akte auf den Schoß. »Vielleicht wäre es besser, Sie stellten mir den Kollegen Blum zur Seite. Nur zu Sicherheit, falls ich aus dem Rahmen falle.«

»Ach was, das schaffen Sie doch allein. Was ist schon eine tote Nutte mit angeheiratetem Professorentitel für Sie? Ihr Freund Oskar hat genug mit seinen eigenen Fällen zu tun. Auftragsmorde, bulgarische Mafia. Die sind von anderem Kaliber, weniger Reha.«

»Aber was mache ich, wenn doch nachrecherchiert werden muß? Immerhin bin ich krankgeschrieben.«

»Ich werde es mir überlegen, irgendein unterbeschäftigter Kollege wird sich schon finden, um ein paar Botengänge zu erledigen.«

Focke beugte sich vor und schlug mit beiden Handflächen auf den Tisch. »Also was ist? Ich habe nicht ewig Zeit. Machen Sie es oder lassen Sie es bleiben?«

»Mein Kopf braucht neuerdings etwas länger für Entscheidungen.«

»Vergessen Sie nicht, es ist auch eine Chance für Sie, es allen zu beweisen.«

»Habe ich das nötig?«

»Das wissen Sie selbst am besten. Ich gebe Ihnen bis übermorgen, in Anbetracht Ihrer verfallenen Situation, danach ist ein anderer Kollege dran, vom Raub, würde ich sagen, die haben zur Zeit leichte Überkapazitäten.«

Dr. Johanna von Bredow war eine wirklich große Frau. Geneigt waren der schmale Rücken und ihr Kopf, was kleinere Artgenossen als sympathische Defensive deuteten, tatsächlich aber nur anzeigte, wie unvollständig sie sich ohne ihr Cello im Arm fühlte.

Das Hochaufgeschossene lag in der Familie, auch Hannas fünf ältere Schwestern eroberten die Welt aus lichter Höhe. Nach einer Pause von neun Jahren hatte die Mutter sie geboren und darauf bestanden, jede ihrer weiblichen Orgelpfeifen sei ein Wunschkind.

Einen Vater hatten all die Langen nie gesehen. Hannas Mutter war mit einem meist in familiären Ländereien in Übersee abwesenden Familienvorstand aufgewachsen und hatte wenig vermißt. So suchte sie einen gutdotierten Beruf mit Freiraum, wurde Professorin an der FU und füllte als Beamtin mit beachtlichen Bezügen gelassen ihr Leben mit einer Mädchenstimme nach der anderen.

Das Kosmopolitische des Vaters hatte sich vererbt. Hannas Mutter unternahm, als Biologin mit Hang zur Flora ferner Länder, weite und ausgiebige Forschungsreisen, um Setzlinge für die Wissenschaft und Samen für den adeligen Nachwuchs aufzunehmen und kehrte fünf Mal geschwängert von fremden Kontinenten zurück.

So wuchs, in einer riesigen Altbauwohnung am Rüdesheimer Platz unter drei Meter zehn entfernten Decken, Hanna heran, umrankt von tropischen Pflanzen, die in ihrem explodierenden Wachstum zum Ausdruck brachten, daß auch sie inmitten dieser interkontinentalen Weiberschar nichts vermißten.

Die Anlage der von Bredowschen Familie hatte sich durch Jahrhunderte, Pestilenzen und Kriege geboxt und war in den Mädchen, trotz der aufmüpfigen Erzeugerwahl ihrer Mutter, erstaunlich dominant geblieben. Auf den in Hessisch Sibirien abgehaltenen Familientreffen wurden mandelförmige Augen und undeutscher Teint skeptisch beäugt, bis die Mädchen auf Bredows Schulterhöhe herangewachsen waren. Dann nahm man sie auf, nicht ohne Stolz, sich, genetisch gesehen, mal wieder behauptet zu haben.

Was bleibt dem Etagenadel außer Haltung.

Hanna war als Spätgeborene von gleich zwölf Mutterbrüsten umgeben, wurde geherzt, gefüttert und an die Hand genommen. Nur Grete, Lehrerin und beste Freundin der Mutter, die, wenn aufgeschlagene Knie zu versorgen, Lehrer zu befrieden, Taschentücher zu reichen und Schwangerschaftstests zu überstehen waren, die vielbeschäftigte Professorin vertrat, verschaffte dem Nesthäkchen ab und an Luft.

Aber Hanna schien es selten zu viel zu werden. Sie vertrug kübelweise Liebe und verströmte noch mehr. Im dicken Windelpopo saß sie bei heimischen Kammerkonzerten auf dem Schoß der Klavier spielenden Mutter, streckte die dicken Finger nach der Querflöte der Schwester aus, jauchzte der Viola entgegen und legte mit selig geöffnetem Mund ihre kleine Patschhand auf das Cello der Ältesten.

Endlich auf zwei Beinen, sauste sie durch die Wohnung, stiebitzte Kleidung und Lippenstifte ihrer Schwestern, steckte Finger in Schüsseln und Töpfe, besprühte ernst und konzentriert tropische Rankpflanzen und Rauhfasertapete, verschenkte reihum Steinchen, Kekse, Kartoffeln und Zärtlichkeiten.

Ihre größte Sorge war, sie könnte von all dem Leben, das durch die Zimmer flutete, einen Tropfen verpassen. Und so fand man sie allabendlich auf einer Türschwelle, noch ein Spielzeug in der Hand, in komatösen Kinderschlaf gefallen. Trug sie dann eine ihrer Schwestern ins Bett, tappelte sie wenig später mit kleinen Äuglein aus ihrem Zimmer, suchte Licht und Stimmen und krabbelte auf den erstbesten weiblichen Schoß.

Ihr ganzes Leben war Musik um sie. Jeder verschobene Stuhl, jede Blume, der schaufelnde Gang eines Menschen, der Geschmack reifer Tomaten wurde Hanna zu Musik. Frisch eingeschult, erzählte sie ihrer zweitältesten Schwester, der neue Füller sei nicht harmonisch und schlug nach einigen Fehlversuchen die Dissonanz am Flügel der Mutter an. Ihre Schwester berief den Familienrat ein und Hanna lernte erst Klavier-, dann Cello spielen. Vom Kinderarzt als Synästhetin erkannt, lief sie durch Wohnung und Stadt und sang Schwestern und Mutter Farben und Dinge vor. Und hielt das Nesthäkchen sich die Ohren zu, obwohl weit und breit nur das Grundrauschen Berlins zu vernehmen war, hieß es, soeben gekaufte Orangen dem Nachbarn zu schenken, oder die Zahnpastamarke zu wecheln.

Mit den Jahren zogen die ersten Schwestern in die Welt hinaus. Hanna schlief vor der Wohnungstür und fragte, wo Amerika läge. Grete kaufte ein Kaninchen, das bald, nach Hannas Diagnose, es litte unverkennbar unter Einsamkeit, die kein Mensch zu beenden imstande sei, Gesellschaft bekam und kurz darauf hoppelnden Nachwuchs.

Drei Wochen später zog ein Igel, der Gefahr lief, in einem Berliner Park bei Plusgraden zu erfrieren, in die Wohnung, und nahm das reichhaltige Futter so gut an, daß er erst sieben Monate später, begleitet von Hannas Tränenbächen, kugelrund unter den freien Himmel und die dicken Laubschichten Berlins zurückkehrte. Zum Igel kamen Meisen mit gebrochenen Flügeln, eine blinde Drossel, zwei vom Biergarten gegenüber verscheuchte Streifenmäuse, die alte Schildkröte einer verstorbenen Nachbarin und, inmitten eines ausgeklügelt gebauten Terrariums von beachtlicher Größe mit Badeteich und Mittelgebirgsimitat, eine Hamsterfamilie.

Hanna hegte und pflegte sie alle. Wie die Bewohner der Arche Noah rückten Tiere, die sich sonst nie begegnet wären, um ihre kleine Zoodirektorin zusammen, ließen sich Geschichten vorlesen und hörten dem Cello zu.

Als Hanna elf war und die letzte verbliebene Bredowsche Orgelpfeife, fand ihre Mutter, in Anbetracht der nahenden Möglichkeit, das Kind könne sich demnächst für andere Menschen oder gar das gegenüberliegende Geschlecht interessieren, sie sollte keine neuen Tiere mehr aufnehmen. Hanna schluchzte, nie würde sie die Menschen den Tieren vorziehen.

Als Hanna fünfzehn wurde, eine dunkelhaarig grazile Schönheit von einem Meter siebzig, waren nur noch ein dementes Kaninchen und die stoische Schildkröte übrig geblieben, und sie verliebte sich unsterblich in einen Achtzehnjährigen mit verschwommen glitzernden Augen hinter langen Wimpern und sehr vielen Pickeln.

Dreihundertsiebzehn anstrengende Tage später verließ er sie für eine weiche Blondine von Eins fünfzig. Hanna verfluchte ihn mit Gretes Hilfe, schwor Männern und Liebe ab, erwog ein Klosterleben und verliebte sich unsterblich in einen Referendar. Als der nach einem Jahr erfolglosen Schmachtens Schule und Stadt verließ, konzentrierte sich Hanna sublimierend auf ihre Pflichten, übersprang eine Klasse und machte mit knapp achtzehn das Abitur. Sie nahm, gegen Gretes Rat, ein Medizinstudium auf. Dann, im ersten Semester, verschwand ihre Mutter.

Von einem Tag auf den anderen war sie wie vom Erdboden verschluckt. Hannas Schwestern trudelten aus allen Weltregionen ein, füllten die Wohnung mit Tränen und Hilflosigkeit. Die Polizei beschwichtigte, gab sich vorübergehend Mühe und stellte schließlich die Suche ein. Die Schwestern kehrten zurück in ihre Leben, Hanna saß allein in der riesigen Wohnung auf dem Dielenboden, um die Ecke kroch die alte Schildkröte, Hanna weinte und rief Grete an. Die engagierte einen Privatdetektiv, warf ihn nach vier erfolglosen Wochen hinaus und zog an den Rüdesheimer Platz.

Hanna verlernte das Weinen und wurde eine ernste junge Frau.

Mit trödelnden Rockschößen sah Hauptkommissar Oskar Blum seinen Freund traumwandlerisch den Flur hinunterschaukeln. Er zog Jakob in sein Büro. »Und, was wollte Focke?«

»Mir einen Fall andrehen.«

»Wundert mich nicht, Dein Fehlen reißt eine Riesenlücke in den Dienstplan. Wir arbeiten wie die Tiere.« Oskar hüpfte auf die Tischplatte.

»Welche?«

»Was meinst Du?« Oskar sah seinen Freund an. Die Freizeit an irgendwelchen Gewässern hatte seine Haare durcheinandergewirbelt und zwei rötliche Halbmonde auf die Wangen gelegt, direkt unter den Rand seiner altertümlichen Nickelbrille.

»Ich frag mich, welche Tiere. Ameisen vielleicht?« Wieder dieser verträumte Blick. Wo ging er bloß immer hin? Oskar seufzte. »Du bist unmöglich.«

Jakob kehrte auf die Erde zurück und sah ihn an. Tief, dunkel, mitten hinein in die Region, die gesperrt war. »Krank bin ich, sonst nichts,« sagte er. Er löste seinen Blick von Oskar, der schnell die Zugbrücke hochzog. »Deshalb hätte Focke es auch gern inoffiziell. Vor Ende der Gerichtsverhandlung und der internen Ermittlung.«

»Die Ratte.«

»Es ist eine Chance zu beweisen, daß ich noch alle Tassen im Schrank habe.«

Oskar zog die Augenbrauen zusammen. »Du mußt nichts beweisen. Epilepsie ist keine Geisteskrankheit. Alle wissen, daß Du Dich überhaupt nicht verändert hast.«

»Nichts ist mehr, wie es war. Mein Körper spinnt und die Seele steht ratlos daneben. Unterschiedliche Reifungsgrade sozusagen.«

»Kauf’ Dir eine neue Brille, dann wird das schon wieder. Und Deine komischen Wanderschuhe haben ein Loch, weißt Du das eigentlich?«

»Hast Du nicht eben erst gesagt, die Brille sähe aus wie von einem Filmstar und darauf würden die Frauen stehen?«

»Der Filmstar war ein kleiner Junge, der das zaubern lernt. Sag nicht, Du weißt immer noch nicht, wer das ist, es ist wirklich hoffnungslos. Nun hast Du schon so viele Bücher, und wenn es mal welche gibt, die wirklich jeder liest, kennst Du sie nicht.« Oskar schüttelte den Kopf. »Laß uns mit den Schuhen anfangen und wenn Dein Schlag bei Frauen nachläßt, verhandeln wir noch mal.«

»Das ist der neuralgische Punkt, da gehen die Nähte immer kaputt. Ich bringe sie erst mal zum Schuster.«

»Wo lebst Du eigentlich?« Oskar verdrehte die Augen. »Aber zurück zu ernsteren Dingen. Es gefällt mir nicht, daß Focke Dir halboffiziell Arbeit gibt. Er haßt Dich, nicht erst seit Pommerenkes Umzug ins vergitterte Tegel. Du hast allen Grund, auf der Hut zu sein.«

»Kein Problem, ich habe doch meinen weltbesten Beschützer. Der ist sogar Polizist«, sagte Jakob und lachte.

Sie hatte Medizin studieren wollen, um Kranken zu helfen. Der Klassiker. Erst fühlt man mit allem, daß das Kinderherz platzt, schient Drosselflügel, füttert Igel und am Ende wird man Krankenschwester oder Ärztin. Dumm, kindlich, typisch weiblich.

Vielleicht hätte sie aus den Fähigkeiten ihrer langen Finger am Cello etwas machen können. Sie wurde herumgereicht, bei drittreihigen Orchestern eingeladen, gewann provinziell rotwangige Preise. Aber sie wollte ja die Mühsal der Welt in ihre feinen, großen Hände nehmen. Niemand errettet mit dem Cello, dachte sie.

Dummes Mädchen, womit hebt man die Welt aus den Angeln, wenn nicht mit dem Cello?

Also verdammte sie die Sehnsucht nach der Musik, den liebkosenden Bogen und die schwingenden Saiten in die Nächte und studierte in ihrer Heimatstadt Medizin. Bimste sich abfragbares Wissen ein, schnitt Leichen auf, beatmete Dummis und lauschte dröhnendstimmigen Professoren, die medizinische Weisheiten ausgossen. Das Sauerbruchgequatsche stieß der verhinderten Cellistin bald gallig auf.

Die wenigen ihr begegnenden Patienten behandelte sie wie in ihrer Wohnung gelandete Singvögel, erwarb sich einen bespöttelten Ruf im Kreis der Kommilitonen, Respekt beim medizinischen Hilfspersonal und wurde nach sechs Jahren universitärer Infiltration als Dreiviertelärztin auf die Straße gespuckt. Voller Elan suchte sie eine Stelle an einem Krankenhaus, um ihr vor Wissen schier platzendes Hirn endlich durch die Arbeit am Patienten zu entlasten.

Da gerade der Schweinezyklus eine Überzahl aufstrebender Jungärzte produzierte, zog es sich. Kommilitonen landeten je nach Charakterstruktur hinter dem Lenkrad eines Taxis, in bereichernder Pharmabranche oder medizinischer Lobbyarbeit.

Hanna schob die Promotion hinterher, leistete schlechtbezahlte Nachtschichten im Rettungswagen der Feuerwehr ab, berauschte sich an ihrer rotgekleideten Bedeutung und nahm zuweilen ihr Cello zur Hand. Bis sie nach zwei Jahren eine Krankenhausstelle fand.

Endlich stand sie, zuversichtlich in kompetentes Weiß gekleidet, den Zumutungen gegenüber, die die biologische Uhr für das zerbrechliche, zerbrechende Menschlein vorsieht. Patienten schauten zu ihr auf, legten Leben bereitwillig in junge Akademikerhände. Aber was anzufangen war mit dem gereichten Leben, hatten die schmalen, langen Finger keine Ahnung. Hanna hatte ein Übermaß an Mitgefühl zu bieten, aber keine wirkliche Hilfe.

Nach drei Monaten in der Krankenhausschleuse hatte sie gelernt, den Menschen, der von Schwester Fatma in ihr Gesichtsfeld gerollt wurde, in seine mechanischen Bestandteile zu zerlegen. Je länger sie arbeitete, desto kleinteiliger wurde ihr Einsatzgebiet. Am Ende des sich stetig verengenden Mausegangs angekommen, kroch man in seine Nische. Und säbelte, nach zehn, fünfzehn Jahren Aus- und Fortbildung, am Fließband trüb gewordene Linsen aus alten Augen, ersetzte sie durch Hightechprodukte, bei deren Einkauf man alte Kommilitonen wiedersah, nicht übermüdet, in schicken Autos und mit unsauberen Angeboten aus ledernen Aktenkoffern, die auszuschlagen nur einer zu großen Frau einfiel.

Das war nicht, was Hanna sich vorgestellt hatte. Sie wollte Cello spielen. Klänge hörbar machen, die darauf warteten, geweckt zu werden, jahrhundertelang. Ein Tropfen sein im ewigen Fluß, immer gleich, immer neu. Hanna wollte für Patienten den Bogen führen, den Fluß in Gang halten, ihren Klang finden, Freiräume, den Igel wieder vor die Tür, den Spatzen in die Lüfte entlassen. Flausen halt, weggepustet in der Zugluft des Apparates.

Aber kehrt man um so weit entfernt vom Ausgangspunkt?

Das Studium hielt sie für Wartezeit, Lehrjahre, in denen man gestutzt wird, sich an Etüden abarbeitet, ermüdend, aber notwendig für die künftige Fingerfertigkeit.

Dann kam die Facharztausbildung, die Jagd nach den Linsen. Sie versuchte Kinderheilkunde, Psychiatrie, Gynäkologie, fand Freunde, Förderer, aber keinen Gefallen. Alles schien beliebig und austauschbar, sie selbst immer öfter am falschen Ort.

Sie las kalhlköpfigen Kindern vor, verscheuchte grüne Männchen, legte überraschten Müttern ihre blutigen Babys an den Hals. Immer ratloser werdend entschied sie sich, vorläufig, für die Allgemeinmedizin, die Weggabelung vor den Linsen. Also blieb sie im Krankenhaus, leistete ab, was eine künftige Allgemeine so durchstehen muß. Nachtschichten folgten auf Spät-, Frühschichten auf Sonntags- und Sechsunddreißigstundendienste, Bereitschafts- auf Feiertagsdienste.

Sie wurde müde. Die Schultern beugten sich auch ohne Cello, der Kopf geriet aus der lauschenden Neigung in die defensive Senkung. Ihr Instrument staubte ein, sie schlief viel und wurde empfindlich. Wartete auf OP-Termine, um ihr Rabattmarkenheftchen mit dem vorgeschriebenen Blutzoll zu füllen. Verbrachte ihre Zeit mit Organen, die sich schlecht benahmen oder erschöpft den Geist aufgaben. Statt den Bogen zu führen, befreite Dr. Johanna von BredowMenschen von Körperteilen, als hätte der Schöpfer aus purem Übermut ein paar Saiten zu viel aufgezogen.

Das Leben reduzierte sich auf den biologischen Verfallsprozeß und die kluge, dunkelschöne Ärztin wurde sein Müllmann.

In Berlin begegnet man der allgegenwärtigen Hektik mit extremer Zeitdehnung. Und so bewohnte die in einer Anglerhütte an der Havel erstochene Schlachtenseer Professorengattin Sarah Schubert noch immer ihr enges, dunkles vorletztes Zuhause. Das wiederholte Drängen des Witwers, den Leichnam freizugeben, war in den Fluren der Rechtsmedizin reaktionslos verhallt. Immerhin war nicht auszuschließen, daß er selbst Hand angelegt hatte. Jakob fand also dreizehn Monate nach dem Mord nicht nur den zuständigen Rechtsmediziner, sondern auch das tiefgekühlte Opfer vor.

»Ein präziser Stich in den Rücken mit einem kultiviert geschliffenen Messer. Zweischneidig im übrigen. Keine Billigware erfreulicherweise. Keine unerträgliche Anzahl von Rupturen, keine ausgefransten Wundränder, zerprügeltes Muskelgewebe, zerfledderte Gefäße. Ein einziger, wunderschöner Schnitt. Lege artis«, erklärte der Leiter der Rechtsmedizin Dr. BerndCumloosen Jakob auf dem Weg zum Leichenkeller der Dauergäste.

»Ein Ästhet als Mörder?«, fragte Jakob.

»Das ist nicht mein Revier. Es war einfach schön, so etwas mal zu sehen, nach all dem Gefetze und Gemansche, das mir normalerweise in meine Stahlwannen gelegt wird.«

»Und wie wurde der Stich ausgeführt?«

»Kommen Sie her, ich zeige es Ihnen.« Dr. Cumloosen zog Jakob an seine Brust, hob den rechten Arm und stieß ihn mit einem unterdrückten Schrei in den Rücken. »Das Ganze, so würde ich meinen, in liegender Position.« Er schob Jakob weg. »So weit wollte ich es mit Ihnen nicht treiben.«

»Danke, sehr zuvorkommend.« Jakob sah an seinem Hemd hinab.

»Keine Sorge, die letzte Hirnmasse hängt an einer anderen Schürze.« Cumloosen grinste. »Ich freue mich immer, daß unter der Schädeldecke meiner Klienten tatsächlich ein Großhirn verborgen ist.«

»Was allerdings keinen Rückschluß auf die Lebenden zuläßt«, sagte Jakob.

Der Rechtsmediziner öffnete eine Tür und machte Licht. »Hier haben wir die Liegenschaften der letzten drei Jahre und die befristete Unterkunft Ihres Havelabgangs.« Er ging die Fächer ab, verglich die Nummern mit seiner Akte und zog ein Fach auf. »Sie kennen das Obduktionsprotokoll?«

Jakob nickte, atmete durch und hob mit beiden Händen vorsichtig das Leichentuch. Obwohl er wußte, was ihn erwartete, erschrak er. Der Körper wies so viele Narben auf, daß kaum noch ein Stück unversehrter Haut blieb. Nur das ebenmäßige Gesicht und die Brustwarzen ragten blank und schutzlos in das kalte Licht des Leichenkellers.

»Jahrelange Marter in der Qualität unserer schönen Gegenwart. Was brauchen wir das Mittelalter, wir perfektionieren alles.« Cumloosen deutete auf runde Narben auf beiden Brüsten, sicher sechzig, siebzig an der Zahl. »Der Klassiker: Zigaretten die kleinen, Zigarillos die mittleren, Zigarren die großen. Das erkennen Sie an der Hautstruktur, die unebene Oberfläche der Glut produziert zerklüftete Vernarbung. Erinnert an vulkanisches Gestein, finden Sie nicht?«

»Können Sie sehen, wie alt diese Verletzungen sind?"

»Waren Sie mal auf Lanzarote? Eine vernarbte Landschaft, über einen langen Zeitraum entstanden. Ähnliches kann man hier sagen, wenn auch auf Menschenmaß zusammengeschnurrt. Wußten Sie, daß Narbenbildung ein steter Prozeß ist, der Jahrzehnte andauern kann? Diese Frau wurde sicher seit vielen Jahren und bis in die nahe Vergangenheit gequält. In Ermangelung neuer Fläche hat der Täter die alten Krater immer wieder benutzt. Vielleicht waren es auch verschiedene Täter über längere Zeit, selbst wenn die Tote nicht wie eine Prostituierte aussieht, könnte sie aus dem Milieu solche Verletzungen als Andenken mitgebracht haben. Vielleicht weiß der Witwer etwas über das Vorleben seiner Frau?«

»Wie muß denn eine tiefgekühlte Leiche aussehen, damit Sie sie für eine Prostituierte halten?«

Der Rechtsmediziner zog die Augenbrauen hoch. »Stark geschminkt, gefärbtes Haar, grell blondiert, tiefschwarz oder signalrot, als Zeichen eines Milieus, das an differenzierenden Feinheiten der Natur nicht interessiert ist. Sarah Schubert hingegen«, er strich der Toten andeutungsweise über das Gesicht und hob vorsichtig ihre Hand hoch, damit Jakob die gepflegten Fingernägel sehen konnte, »hat viel von der Natürlichkeit gehalten. Angeborene leichte Welle im braunen Haar, ein Minimum an Wimperntusche, dezenter Lippenstift, keinerlei Schmuck und kein Nagellack an Fingern oder Zehen. Ich fürchte, für ein solches Angebot gibt es unter unseren Geschlechtsgenossen zu wenig zahlungsbereite Interessenten.«

»Und diese schrecklichen Ringe auf den Oberarmen?« Jakob deutete auf Narben, so breit und tief, daß man sie als, wenn auch verkalkte Abflußrinne hätte benutzen können.

»Das war mir auch neu. Ich habe mich an Photos von Bräuchen der Körpertätowierung durch Schnittwunden erinnert. Sakrifizierung nennt sich das. Ein sehr interessantes Feld für die Bildung von Narbengewebe. In unserem Fall dürften es Schlingen gewesen sein, die langsam zusammegezogen wurden. Vorzugsweise Metall, aber auch Nylon wäre denkbar. Mir scheint, unser Freund hat experimentiert, bevor er zufrieden war.«

»Womit zufrieden, um Himmels willen?«

»Narbenbildung, Wundränder, Blutungsintensität. Beschäftigen sie sich mal mit Sadisten, Kommissar, auch hier regiert zuweilen der handwerkliche Anspruch. Was gegen meine Unterweltthese spricht, zugegeben. Reine Warengesellschaft, keine Handwerkstradition.«

»Dann könnte auch der jahrelang Quälende sie getötet haben?«

»Warum nicht? Aber das ist spekulativ. Kommen wir zum Ende der äußeren Situation. Ich denke, für den inneren Befund ziehen wir uns in mein Büro zurück.« Er hob an einer Schulter und Hüfte die Leiche an und deutete auf den Rücken. »Eine Peitsche hat er auch benutzt, unser Landschaftsgärtner. Ebenfalls über einen langen Zeitraum, das Narbengewebe überlagert sich. Leder würde ich annehmen, vier bis sechs Zentimeter breit, auch wenn ich das nicht mit Sicherheit sagen kann, da die Oberhaut so großflächig vernarbt ist, daß sich kaum die Richtung der Peitschenhiebe feststellen läßt. Falls sie sein Werkzeug finden, wird Gewebe im Leder zurückgeblieben sein. Beweistechnisch haben Naturprodukte ihre Vorzüge.«

»Leider haben wir nichts gefunden.«

»Suchen Sie die Folterkammer. Privat, dezent, schallisoliert. Mit Peitsche und Kippen allein geben sich diese Ehrenmitglieder unseres Geschlechts nicht zufrieden, es braucht Raum, um eine Frau so zuzurichten«, sagte der Rechtsmediziner. »Und wo immer das hier geschehen ist, gibt es Blut, das sich nicht verbergen läßt. Und sei es unter Wandfarbe oder Putz. Viele kleine Lavaspritzer warten erkaltet darauf, daß Sie sie finden.«

Dr. Cumloosen ließ die Leiche vorsichtig wieder auf den Rücken absinken und deutete auf ihren Brustkorb. »Bei den Hautverletzungen ist es nicht geblieben. Acht Rippen waren gebrochen, zwei davon scheinen mir die ältesten Verletzungen an diesem armen Körper zu sein. Zusammen mit einer sehr unangenehmen Splitterfraktur des Brustbeins und der rechten Clavicula circa fünfzehn Jahre alt, entstanden, als das Längenwachstum des Knochenapparates noch nicht ganz abgeschlossen war.«

»Könnte Sie einen Unfall als Jugendliche gehabt haben?«

»Naheliegend, aber unwahrscheinlich. Keine der Frakturen ist medizinisch versorgt worden. Ich gebe einen aus, wenn Sie in ihren Krankenunterlagen etwas über einen Treppensturz oder wie man das in solchen Fällen nennt, gefunden haben.« Er sah Jakob fragend an.

»Das muß ich noch ermitteln. Ihre Papiere waren gefälscht.«

»Sie ist seit über einem Jahr unser Gast.«

»Der Kollege hat es mit der Bandscheibe.«

»Wie auch immer. Kommen wir zu den frischen Arbeiten, die der Mörder vorgenommen hat. Zunächst einmal müßte Ihnen aufgefallen sein, daß die rechte Schulter unseres Gastes etwas Unvollständiges hat.« Cumloosen deutete auf die freiliegenden Schultergelenkknochen. »Er hat den Deltamuskel von Schulter und Oberarm gelöst und, als sei das noch nicht genug, schließlich die linken Adduktoren herausgeschält.« Er deutete sich in den Schritt, hob ein Bein und zeigte auf seine Leiste. »Post mortem glücklicherweise. Übrigens sind das die Muskeln, mit denen man auf dem Pferderücken die Knie und ohne Pferd einiges andere zusammenklemmt.«

»Auch ästhetisch ansprechend?«

»Durchaus, zumal unser Opfer sehr muskulös im Schulterbereich war. Vermutlich hat sie Sport getrieben oder hatte mal einen körperlichen Beruf.«

»Ist es nicht schwierig, die Adduktoren zu entfernen?«

»Für mich nicht.«

»Also ein medizinisch vorgebildeter Täter?«

»Das ginge mir dann doch zu weit. Sowas lernt man spät, nicht mal als Chirurg, eigentlich nur in meinem Metier. Das ist die einzige Facharztausbildung, die etwas vom Schlachtergewerbe hat.«

»Die linke Hand fehlt.«

»Auch sie wurde fachgerecht abgetrennt. Ich vermute ausgezeichnetes Werkzeug, das verdeckt eine Menge mangelndes Geschick. Vielleicht kümmern Sie sich eher darum als um einen irren Rechtsmediziner ...«

»..., den Narbengewebe fasziniert«, ergänzte Jakob.

»... und der seine künstlerische Ader an Menschenfleisch auslebt.«

»Was ist mit der Tätowierung?« Jakob deutete auf den Oberbauch.

»Gute Frage, sieht ein bißchen aus wie bei den Cowboys, finden Sie nicht? Bonanza an der Havel. Da ich nicht weiter wußte, habe ich damals schon ein paar gute Photos gemacht. Außer, daß es sich nicht um ein Brandzeichen, sondern um die Aufbringung von Farbe handelt und sie ebenfalls postmortal zugefügt wurde, zwei, drei Stunden nach dem Exitus und nicht in tiefere Schichten der Epidermis eingedrungen ist, fällt meiner Profession nichts dazu ein. Vielleicht fragen Sie im Milieu, das hatten wir ja schon.«

Die inneren Verletzungen Sarah Schuberts, denen Sie sich bei einem Kaffee, den Jakob nicht anrührte, im Büro des Rechtsmediziners widmeten, waren weniger ästhetisch. Teils lange zurückliegende Verletzungen von Schamlippen und Vagina hatten zu so weitreichenden Vernarbungen geführt, daß Cumloosen tröstend hinzufügte, sie habe wenigstens auch nichts Schlimmes mehr spüren können.

Gebärmutter und Eierstöcke zeigten Narben einer alten, schweren Entzündung. Vermutlich, wenn auch zu spät, um spurlos abzuheilen, antibiotisch behandelt. Sie mußte hohes Fieber gehabt haben, vielleicht fände sich wenigstens darüber ein Beleg in irgendeiner Krankenakte. An sich sei das ein Fall für stationäre Behandlung, aber wer weiß, das Milieu und so weiter. Abgetrieben oder ein Kind geboren hatte sie nicht. Wenn die Metritis früh aufgetreten sei, wofür einiges spreche, sei sie dazu auch gar nicht in der Lage gewesen.

»Dieser Schoß war nicht fähig, ein Nest für ein Menschenküken zu bilden, akute Einsturzgefahr,« faßte der Rechtsmediziner zusammen. Was immer dieser Tod noch gewesen war, Erlösung sicherlich auch. Wenn Sarah Schubert ein schönes Leben gehabt hatte, dann mußte es lange zurückliegen oder gerade erst begonnen haben.

Fallsucht

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