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VII
ОглавлениеNeben dem Eingang lehnte rauchend ein Mann an der Hauswand und fixierte Jakob, der sich, beidseitig mit einer Einkaufstasche beladen, seiner Wohnung näherte. Jakob sah die Straße runter. Weit und breit nur gedankenverlorene Nachbarn auf dem Weg in den Feierabend. Bepackt und abgespannt strahlten sie jene gleichgültige Erschöpfung aus, die nur Metropolen auf den Schultern ihrer Bewohner ablegen. Ein paar Stunden Schlaf hinter all den Wohnungstüren und der neue Tag durfte ihnen wieder entgegenprasseln. Was kein Schlaf zu vertreiben vermochte, waren die Schatten um die Augen, die angeschärften Züge um die Münder. Dafür bedurfte es kleiner Fluchten. Zwei Wochen bayrische Kuhglocken, Ostseesand zwischen den Zehen, eine Prise Mark in der Nese.
Auch Jakob war müde. Es half nichts, wer immer der ihn mit Blicken aus schmalen Augen verfolgende Mann war, er stand neben dem Eingang zu seinem Bett. Jakob nahm die Taschen in eine Hand und zog den Schlüssel aus der Jacke. Er stieß die Tür mit Fuß und Schulter auf und schlüpfte in den Flur. Der Mann folgte ihm. Jakob ging zur Treppe, in seinem Rücken verharrte der Mann. Jakob nahm vorsichtig die erste Stufe.
»Hagedorn?«
Jakob drehte sich um.
»Der Briefkasten«, sagte der Mann. Seine Sporthose glänzte im trüben Licht der klickernden Flurbeleuchtung. Die breitgestellten Beine nahmen den Flur in Besitz wie eingepflockte Grenzpfähle. »Du hast Post, Hagedorn.«
Jakob stellte seine Einkäufe auf der Treppe ab und sah in den Briefkasten. Ein winzigklein gefalteter Zettel lag darin, kariert, ohne Umschlag. Jakob zog ihn heraus, nahm die Taschen und machte sich an den Aufstieg zu seiner Wohnung. Auf dem ersten Treppenabsatz hörte er die Haustür ächzend ins Schloß fallen. Er drehte sich um, glaubte eine knisternde Hose und quietschende Turnschuhe zu hören, aber der Hausflur war leer. Er schüttelte den Kopf über den neuen Hang seines Gehirns zu Langatmigkeit. Vor seiner Wohnung stand eine schwere Wolke aus Schweiß und einem großblütigen Rasierwasser. Jakob rief sein Gehirn zur Ordnung. Unwillkürlich schnupperte er beim Schließen der Tür, roch aber nur die übliche Mischung aus Holz und alten Büchern. Er stellte die Einkäufe auf den Küchentisch, warf den karierten Zettel daneben, füllte den Wasserkessel, bereitete die Teekanne vor, setzte sich und las. Der Zettel war mit einer akkuraten Schrift gefüllt, die die vorgegebenen Quadrate als Richtschnur nutzte.
Geehrter Kommissar. Entschuldigung, wenn mein Kumpel aussieht, als will er Sie ausrauben. Ich kenne nur solche Leute, obwohl ich noch nie eine Vorstrafe auf mich geladen habe. Ist aber echt zuverlässig. Was wichtig ist, wie Sie gleich verstehen. Im Gericht waren Sie bei meiner Verhandlung. Das fand ich gut. Wo Sie doch krank sind. Deshalb glaube ich, Sie sind ein guter Mensch, wollten gucken, was denn jetzt wird aus mir. Hier im Knast sprechen auch alle gut über Sie, schon wegen der Sache mit Ihrem Kollegen damals. Sind natürlich auch keine Mörder. Kann sein, die sehen das anders. Egal. Sie sind der einzige Bulle, der mir jetzt helfen kann. Da läuft ein Komplott. Nicht, daß Sie denken, ich spinne, ist hundertprozentig sicher. Wenn Sie mir helfen wollen, sagen Sie meinem Kumpel Bescheid, der wartet auf Antwort. Ist auch gut für Sie, Sie werden schon sehen.
Hochachtungsvoll W. (Übrigens hasse ich Salamipizza, so deutsch werde ich nie. Habe ich nur gegessen für Sie.)
Jakob ging zum Wohnzimmerfenster. Der Bote stand auf der anderen Straßenseite, einen Fuß gegen die Hauswand gestemmt, und sah zu ihm hoch. Jakob öffnete das Fenster und winkte ihn in die Wohnung. Der Mann zog an seiner Zigarette und schüttelte den Kopf. Er deutete auf Jakob und vor sich auf die Füße.
Jakob grinste, holte den Wasserkocher, hielt ihn schaukelnd aus dem Fenster und winkte erneut. Er öffnete die Wohnungstür einen Spalt, füllte zwei Teeschalen und packte seine Einkäufe aus. Als er die letzten Äpfel vom Taschenboden pflückte, hörte er, wie die Wohnungstür leise geschlossen wurde. Er verstaute das Obst, nachdem er daran gerochen hatte, im Kühlschrank. Als er weiterhin allein blieb, setzte er sich zum Spargelschälen an den Küchentisch. Bei der dritten Stange erschien die Sporthose in der Küchentür.
»Magst Du Spargel?«, fragte Jakob.
Der Mann starrte ihn an. Den Spargel, die Schüssel, den Tee.
»Setz Dich doch, ich habe Tee gemacht. Milch und Zucker?«
Der Mann schob sich an Jakob vorbei, ohne ihn aus den Augen zu lassen und setzte sich auf den Rand eines Stuhls.
»Das ist Assam, echt lecker. Hier aus dem Teeladen eine Straße weiter. Gehört einem ehemaligen Kunden von mir. Hat seine Frau abgemurkst. Genau genommen aus dem Fenster geworfen. Nicht aus dem Laden natürlich, sondern aus dem vierten Stock bei sich zuhause in Tegel. Jetzt verkauft er wieder Tee, zwölf Jahre später. Gibt eben immer ein Leben danach, das vergißt man gerne. Schön kräftig. Das Aroma, meine ich. Müßte was für Dich sein. Nun koste schon, sei nicht unhöflich.«
Der Mann trank einen Schluck.
»Zu stark, was?« Jakob legte den Spargelschäler weg und holte einen Zuckerstreuer. Der Mann ließ ihn nicht aus den Augen.
»Nimm Zucker.« Der Mann süßte seinen Tee. Zwei Schwule bei der feierabendlichen Küchenarbeit, dachte Jakob.
»Ich soll den Zettel wieder mitnehmen.«
»Aber gerne.« Jakob faltete das Karo und hielt es ihm hin.
Der Mann griff zu und versenkte ihn in der Hosentasche. »Und eine Antwort brauche ich auch.«
»Wie war noch mal die Frage?«
»Ob Du Wladimir hilfst oder nicht.«
»Das überlege ich noch«, sagte Jakob und schälte weiter.
»Aber nicht zu lange.«
Jakob sah auf. »Was sonst? Sitzt in meiner Küche, trinkst meinen Tee und willst mir drohen? Was für eine Kinderstube.«
»Entschuldigung, ist mir so rausgerutscht.« Der Mann sah auf seine Hände. »Wladi hat schon gesagt, das hier wird ein ganz anderes Ding als was ich sonst immer mache.«
»Recht hat er.« Jakob war mit dem Spargel fertig, schraubte seinen langen Körper vom Küchenstuhl und räumte auf. »Willst Du nun was mitessen oder nicht?«
»Eine Antwort will ich.«
»Was schlägt er denn vor, wie es jetzt weitergeht, Dein Wladi?«
»Er will Sie treffen, und dann sagt er Ihnen, was Sie machen sollen.«
»Wenn ich mich nicht irre, sitzt er in Untersuchungshaft. Soll ich ihn da etwa besuchen?«
»Auf dem Klo will er Sie treffen, bei Gericht. Montag geht seine Verhandlung weiter. Die wird aber schnell unterbrochen, weil er ein Attest hat und danach, sagt er, muß er aufs Klo.«
»Na, dann sag Deinem Kumpel, ich geh' im Gericht gern aufs Klo und nächsten Montag ganz bestimmt.« Jakob grinste. »Mit Wladimir wollte ich schon immer mal da hin.«
Der Mann lief feuerrrot an, gab Jakob linkisch die Hand und stolperte aus der Wohnung.
Jakob blieb vor dem Schaufenster stehen und sah in den Friseursalon. MM fuhr durch das Haar einer blondierten Kundin tapferen späten Mittelalters, als sei es das zottige Fell eines Straßenköters. Die Frau gestikulierte beidhändig, schwer bereift und beringt. Sogar die Füße zappelten. MM stand hinter ihr, hielt Blickkontakt über den Spiegel, legte zwei perfekt manikürte Hände auf ihre Schultern und unterbrach sie. Auf ein Winken näherte sich ein schmaler Jüngling in hautengen Jeans, den MM in das Blickfeld der Kundin schob. Der Lehrling knipste ein professionell blitzblankes Lächeln an, die Frau sank tief in den Stuhl. Ihre Füße stellten das Zappeln ein.
Jakob betrat den Laden. Hitze aus Fönen und Hauben schlug ihm entgegen. Er schnappte nach Luft, lange genug, um von MMs Umarmung überrascht zu werden.
»Jakob, kleiner Schlaumeier, wo warst Du denn so lang?« Sie gab ihm zwei parfümgesättigte Schmatzer auf die Wangen. »Sonders gut schaust nicht aus. Hast wieder nirgends eine anständige Frau gehabt, die sich kümmert. Na, jetzt bist ja bei mir.«
Jakob grinste.
»Stimmt, hab’ ich geredet Blödsinn. Wenn Maria Magdalena eins nicht ist, ist es anständig.«
»Du bist der anständigste Mensch, den ich kenne.« Jakob lachte.
»Du kennst eben viel zu wenig Leut’.« Sie ging zum Pausenraum voraus, streichelte ihren schnarchenden Mops, der zuckend auf einem mit Leopardenimitat bezogenen Sessel von gewonnenen Schlachten träumte und goß Kaffee aus einer Thermoskanne ein.
»Einen neuen Lehrling hast Du«, sagte Jakob. »Hübscher Junge.«
»Seine Schwester läuft auf der Potsdamer und hat Sorge, daß er sich was abguckt. Ich soll ihm Anständiges beibringen.«
»Das kannst Du.«
»Na klar.« Sie lachten. »Aber süß ist er, oder?«
»Hauptsache, Deine Kundschaft findet das.«
»Meinst Du die Zehlendorfer Tucke?« Sie seufzte. »Die hat mir Samuel geschickt.«
»Er meint es gut.«
»Soll er mich besuchen, wenn er es gut will meinen. Verfluchte Brut.« Sie schniefte.
Jakob strich ihr über die Wange.
»Finger weg, der Putz kostet ein Vermögen.« Sie schneuzte sich.
»Vor kurzem hat er einen großen Fall gewonnen«, sagte Jakob.
»In der Abendschau war er. Mein Junge. Alle konnten ihn sehen.«
»Er ist ein guter Staatsanwalt, meistens.«
»Dünn hat er ausgeschaut, findest Du nicht? Seine Schickse kocht nicht richtig für ihn.« Sie zog sich im Sitzen den Rock herunter. Die Knie blieben unerreichbar. »Was führt Dich denn nun her? Warst wirklich lange nicht bei mir.«
»Ich hatte eine Auszeit. Jetzt könnte ich Deine Hilfe brauchen.«
»Immer, mein Süßer, das weißt Du.«
»Es geht um Deine alten Kontakte.«
»Sag’ nicht, daß Du unter die Freier gehen willst. Ich nenne Dir zwanzig Frauen, die für eine Nacht mit dir zahlen würden.«
»Ich komme darauf zurück, vielleicht kann ich demnächst eine Einnahmequelle gebrauchen«, sagte Jakob lachend. Er zog Photos aus der Jackentasche. »Es geht um eine Tätowierung.«
MM sah sie sich an. »Sagt mir nix. Sieht altmodisch aus, wie eine Markierung. Zugehörigkeit, bestandene Prüfung, so was. Auf alle Fälle nichts Schmückendes.« Sie reichte die Photos zurück.
Jakob wehrte ab. »Ich möchte, daß Du sie behältst und im Milieu rumzeigst.«
»Das kann ich nicht, Schatz, ich bin Friseurmeisterin in Schöneberg. Aber ich könnte Erwin und Tülle fragen.«
»Gute Idee, wie geht es denen?«
»Wie soll es schon gehen, wenn man nichts im Hirn hat und auf dem Altenteil sitzt. Hin und wieder gebe ich ihnen zu tun. Sonst waschen sie ja nur noch ihr Auto.«
Erwin und Tülle waren Überbleibsel aus MMs Vergangenheit. Ihr verstorbener Mann war Besitzer einer Bar in Charlottenburg gewesen, in der es neben Alkohol Ausblick auf viel Busen und andere Rundungen gab, auf denen auch klebrige Männerhände landen durften. Das Hauptgericht mußte man sich jedoch woanders holen. Da das niemand im Kiez glaubte und wechselnde Machthaber des Bordsteins immer wieder ihre explosiven Muckis in der Bar von Siegfried Herzl spazieren trugen, hatte das Eigentümerpaar sich durchgerungen, einen Türsteher zu engagieren. Nach einigen flachschädeligen, halbdebilen Fehlversuchen ihres Mannes nahm MM das Ganze in die Hand und tat den Zuhälter Erwin auf, den es allerdings nur im Paket mit Tülle gab.
Erwin mochten die Mädchen, er hatte als eine Art kostenpflichtiger großer Bruder, dem es nie eingefallen wäre, leistungslos von der horizontalen Knochenarbeit seiner Schwestern zu profitieren, so etwas wie Berufsehre. Es sprach sich schnell herum, daß es bei ihm gewaltlosen Schutz und gute Rendite gab, und so standen die Unabhängigen Schlange, um in seine Familie aufgenommen zu werden. Erwin wußte um seine in mancher Hinsicht begrenzten Kapazitäten, beließ die Hühnerschar im einstelligen Bereich, akzeptierte fremde Reviere und Gehege, ignorierte Brutalitäten und Ungerechtigkeiten außerhalb seines Radius’ und hatte so Auskommen und Frieden.
Bis er eines Nachts einen sterbenden Kollegen im Rinnstein fand.
Dieser Kollege nahm, wozu er Lust hatte, prügelte sich beeindruckend erfolgreich Konkurrenten vom Hals, zog seine Mädchen an Haaren von erigierenden Nebenverdiensten und soff halb Berlin unter den Tisch. In jener Nacht war er auf einen Kollegen getroffen, der gar nicht erst versuchte, seine Gitti mit schmalen Fäusten gegen den legendären Boxer zu verteidigen, sondern gleich ein Messer zog und es, da er ein sicherheitsverliebter Mensch war, gleich zwölf Mal in des Konkurrenten Männlichkeit rammte. Er sah auf den zusammengesunkenen, ehemals starken Mann, dachte an Gittis monatlichen Durchschnittsverdienst, rotzte auf den Besiegten und ging seiner Wege.
Erwin rief, als er vier Minuten später den Blutenden fand, den Notarzt, war sich sicher, der Mann stürbe in seinen Armen und nahm ihm seine unverständliche Lebensbeichte ab. Im Notarztwagen hielt er seine Hand, lauschte schweigend den stotternd hektischen Anweisungen des Sterbenden, entließ ihn fast leergeblutet in den OP und wartete besudelt auf die Nachricht seines Ablebens.
Die Ärzte entfernten seinen völlig zerhackten Hoden, flickten den Penis notdürftig zusammen, so daß er wenigstens zum Pinkeln hielt, kippten literweise Blutplasma in ihn hinein und baten Erwin, als seinen Angehörigen, um seelische Unterstützung beim Klammern an das Restleben des Kastrierten.
So bekam Erwin anstatt kleiner Schwestern einen hilfsbedürftigen Bruder ohne Einkommen. Der Mann erholte sich, sank in sentimentale Anfälle und wurde vorübergehend weibisch. Sie gaben seinem schlaffen Schwanz und ihm den Namen Tülle, bewarben sich mit Erwins Kopf und Tülles immer noch starker Faust bei MM als Türsteher und wurden genommen.
Über die Jahre wurden sie zu Mitgliedern der Familie Herzl, fuhren in ihrer pinkfarbenen Corvette den kleinen Samuel zu Kindergarten und Schule, wiesen breitschultrig finstere Gesellen von der Tür, gewährten Mädchen der Umgebung nach Feierabend Schutz und Erholung in der Bar und wurden zu Charlottenburger Legenden.
»Haben sie denn noch Kontakt zu den Mädchen?«, fragte Jakob.
»Sicher, das ist eine richtige Fangemeinde. Ich werde ihnen sagen, daß der Auftrag von Dir ist, das wird sie freuen.«
»Aber das ist nicht so richtig offiziell.«
»Lad’ sie zum Essen ein und der Fall ist erledigt.«
Jakob zog ein weiteres Photo hervor. »Und noch was. Ich möchte wissen, ob ein Mädchen diesen Typen kennt.«
MM nahm das Photo. »Schönes Gesicht. Sieht gebildet aus.«
»Professor für Teilchenphysik.«
»Und deshalb sollen die Mädchen ihn kennen?«
»Seine Frau sieht aus, als wäre sie beteiligt gewesen an Versuchsreihen. Jahrelang. Als physikalisches Objekt.«
MM zog eine Augenbraue hoch.
»Zigaretten, eine Peitsche, Drahtschlingen.«
MM sah erneut auf das Photo. »Ein schöner Sadist also. Man weiß nie, was sich zeigt, wenn die Pelle ab ist von dem Früchtchen.«
Sie legte das Photo zu den anderen. »Ich leite es weiter. Das wird aber dauern. Mädchen, die sich quälen lassen, waren nie in unserer Nähe. Völlig andere Liga. Harte Aufpasser, hoher Durchlauf. Aber wir versuchen es. Schließlich muß er da erst mal rangekommen sein.«
»Und hat auf dem Weg vielleicht Spuren hinterlassen.«
Sie sah Jakob an. »Was ist mit seiner Frau, ich nehme an, sie ist tot, wenn Du das bearbeitest, sollen wir da auch nachfragen?«
Jakob nickte. »Vielleicht kennst Du den Fall, schließlich ist Informiertsein Dein Beruf. Letztes Jahr Ostern hat jemand ihr Leben in einer Havelhütte ausgepustet.«
»Ach, die Geschichte, war das nicht in Schlachtensee? Ich erinnere mich, ziemlich blutige Angelegenheit. Davon war dann verdächtig schnell nichts mehr zu hören. Und jetzt sollst Du ran, der Geisterseher?«
Jakob verdrehte die Augen.
»Laß den Leuten ihren Gruselschauer. Gibt’s ja sonst nicht viel in unserer braven Gegenwart. Nebenbei, wenn sie das alles klaglos ertragen hat, fragt sich, ob es eine Vorgeschichte gibt.«
»Sicher. Und das deutet auf das Milieu, obwohl sie mir nicht aussieht wie eine Ex-Prostituierte.«
»Ach, Jakob, was glaubt ihr bloß immer. Ein paar Jahre und Du siehst nix mehr.«
»Trotzdem.« Jakob stand auf.
»Aber gehen darfst Du noch nicht. Deine Haare sehen kriminell aus, Kommissar. Du bist eine Schande für meinen Berufsstand.«
»Ich verwechsle in letzter Zeit öfter mal oben und unten. Kann sein, meine Haare vertragen die Richtungswechsel nicht«,sagteJakob und ließ sich wehrlos zum nächsten Stuhl führen.
Auf dem Deckel eines Gerichtsklos hatte Jakob schon lange nicht mehr gesessen. Noch dazu mit angezogenen Beinen. Pubertäre Erinnerungen stiegen in ihm auf.
»Komm’ schon, Alter, verdienst was besseres, als mir beim Kacken zuzusehen. Das Fenster ist auch vergittert, wir sind ja schließlich nicht im Kino. Außerdem ist meine Klappe viel zu groß für den Untergrund, also mach’ die Handschellen auf und geh’ eine rauchen.«
Jakob hörte sich öffnende Handschellen und eine zufallende Tür.
»Kommissar, bist Du da?«
»Du hast mich schließlich eingeladen«, sagte Jakob.
»Kannst rauskommen, mein Kumpel bewacht die Tür.«
Jakob ging in den Vorraum und lehnte sich an den eiskalten Heizkörper unter dem vergitterten Fenster.
»Den hast Du total beeindruckt. So still war er lange nicht. Stimmt das, daß Du den ganzen Flur voller Bücher hast, bis unter die Decke? Und für schwul hält er Dich auch, vielleicht wegen der Bücher. Bist Du schwul, Kommissar?«
Jakob lachte. »Wieso, willst Du mit mir was anfangen?«
»Nix für ungut, aber ich sehe neuerdings überall Schwule. Man denkt ja, man war jahrelang blind, wenn es die Familie trifft«, sagte Wladimir. »Aber jetzt mal zum Ernst des Lebens, Kommissar. Ich fürchte, da läuft ein ganz mieses Ding, Du mußt mir helfen.«
»Erzähl, was ist los?«
»Die Szene, in der wir uns netterweise kennengelernt haben ...«
»Deine Geiselnahme.«
»Meinetwegen. Davon gibt es einen Film.«
»Wie meinst Du das?«
»Wie ich es sage. Ich habe das alles gefilmt, mit meinem Handy.«
»Warum das denn?«
»Keine Ahnung, einfach so.«
»Wolltest Du Deine Heldentaten für die Nachwelt erhalten? Du spinnst doch.«
»Darum geht es jetzt nicht, sondern darum, daß die meisten der feinen Lehrer Scheiße erzählen, ich hätte mit einem Messer hantiert und Dich gewürgt und so, und der Film das beweist.«
»Dein Handy ist ein Beweisstück.«
»Genau.«
»Und wo ist das Problem? Das kann Dich doch nur entlasten.«
»Es ist nicht da.«
»Verstehe ich nicht.«
»Kein Handy, weit und breit.«
»Das gibt’s doch nicht.«
»Und ob.«
»Hast Du es vielleicht verloren?«
»Blödsinn, es war ja noch an, als die Bullerei, ich meine, Deine Kollegen kamen. Und danach waren mir sozusagen die Hände gebunden. Das mußt Du doch noch wissen, Du warst doch dabei.«
»Und wenn es ein Lehrer genommen hat?«
»Es war schon ein cooles Ding, ziemlich neu und teuer, aber die verdienen doch genug an ihrer Schule. Nein, nein, das waren Deine feinen Kollegen, darauf verwette ich meinen Arsch.«
»Warum sollten die Dein Handy verschwinden lassen? Weißt Du, wie viel Ärger wartet, wenn das rauskommt? Unterschlagung von Beweismitteln nennt man das.«
»Darüber raucht ja auch meine Birne. Ich verstehe das nicht. Ich bin kein Unschuldslamm, sicher, aber daß mir irgendein Bulle was reinwürgen will, dazu gibt es keinen Grund. Ich bin nicht mal vorbestraft. Meine Anwältin meint, vielleicht wollte sich jemand was dazuverdienen und hat es an die Zeitung oder das Fernsehen verkauft.«
»Dann wäre es längst erschienen. Exklusivbilder einer Geiselnahme in einer Weddinger Oberschule läßt sich niemand entgehen.«
»Aber was ich nicht verstehe, Kommissar, wieso sagst Du nicht aus? Du könntest doch erzählen, daß es anders war.«
Jakob schwieg.
»Bist Du etwa auf deren Seite?« Wladimir machte zwei Schritte auf Jakob und den kalten Heizkörper zu und sah ihm in die Augen. »Nee, dann wärst Du nicht hier. Du bist schon in Ordnung.«
»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Jakob.
»Wie meinst Du das?«
»Das letzte, das ich weiß, ist, wie Du auf Deinen künftigen Schwager zugegangen bist.« Die Sternschnuppen verschwieg er lieber.
»Danach hast Du so komisch geschrien, war echt gruselig.«
Jakob ging sich die Hände waschen.
»Das heißt, Du weißt von Deinem Abklapper gar nichts? Dann wäre der Film für Dich ja auch spannend. Da ist nämlich alles drauf. Wie Du hingefallen bist, rumgezuckt hast und auch der komische Sabber vor Deinem Mund.«
»Das ist nicht Dein Ernst.«
»Doch sicher, seit dem Schrei bist Du die Hauptperson. Was ist denn los, Kommissar, Du bist ja ganz blaß um die Nase.«
»Du hast das alles gefilmt?«
»Na klar, so was hat man nicht alle Tage. Jetzt sag’ nicht, daß Dich das stört. Um Erlaubnis fragen konnte ich Dich ja schlecht, so wie Du geruppelt hast. Kommissar, was ist los? Nun sag’ doch was. Habe ich was falschgemacht? Hilfst Du mir jetzt nicht mehr? Oh, Scheiße, es tut mir echt leid.« Wladimir schlug mit der flachen Hand auf den Rand des Waschbeckens.
»Laß das, gibt fiese blaue Flecken.«
»Wenn wir das Handy wiederhaben, löschen wir das Stück mit Dir, ich versprech’s.«
»Aber erst mal müssen wir es finden.«
»Du machst das schon, Kommissar, Du bist der beste.«
»Wenn ich mich nicht gerade lang mache und rumzappele.«
»So schlimm ist das auch nicht, Du bist doch voll wieder da, oder nicht? Und das erste Mal wird es ja auch nicht gewesen sein.«
Jakob sah ihn an.
»Oh, Scheiße, sag’, daß das nicht wahr ist. Und ich Penner habe nix Besseres zu tun als ein Filmchen zu drehen.«
»Helfen können hättest Du mir sowieso nicht. Man muß dann einfach zuende zappeln.«
»Na, ein Kissen unterschieben wenigstens, Dein Kopf ist immer auf den Boden gerumst. Hatte aber ein bißchen viel Respekt. An so ’nem echten Kommissar fummelt man nicht einfach so rum.«
»Selbst wenn er zappelt und sabbelt?«
»Kommissar ist Kommissar. Selbst wenn er hampelt wie ein Fisch am Haken.«
»Hast Du dem Lehrer und künftigen Familienmitglied denn nun eine reingehauen?«
»Na logo. Dein Schrei kam direkt nach dem Treffer, ich dachte, das ist jetzt eine göttliche Strafe oder so, klang echt danach.«
»Und warum hast Du ihm eine reingehauen? Weil er schwul ist?«
»Quatsch, sehe ich aus wie ein Tuntenklatscher? Weil er meinen kleinen Sascha schlecht behandelt hat. Die Familie sagt, er ist trotzdem ein feiner Kerl, Sascha ist bei ihm eingezogen, aber da bilde ich mir lieber selbst ein Urteil, wenn ich draußen bin. Der muß noch eine Weile Anstand zeigen, bis ich ihn an die Brust drücke.«
»Daß er sich weigert, gegen Dich auszusagen, ist doch schon mal ein Anfang.«
Vor der Tür rumpelte es.
»Los, Kommissar, verschwinde«, sagte Wladimir. »Mein Kumpel steht bereit, wenn Du was erfährst.«
Jakob krabbelte wieder auf seinen Deckel, Wladimir wusch sich die Hände. Sein Kumpel betrat, dicht hinter ihm Wladimirs Bewacher von der Justizverwaltung, den Vorraum. »Aber sicher ist das Klo für alle da, Wachtmeister«, sagte der Kumpel und ging breitbeinig zu den Pissoirs. »Ist ja kein Privatbesitz, so’n Gericht.«
Wladimir trocknete sich mit einem Papiertuch die Hände ab und streckte sie seinem Bewacher hin. »Legen Sie mich in Ketten, Chef.«
Der Beamte sah sich hektisch um und schloß die Handschellen. »Hast Du Verstopfung, oder was? Das hat ja ewig gedauert.«
»Die Frage ist mir zu privat. Ein bißchen Intimsphäre steht sogar einem Untersuchungshäftling zu. Aber wir Russen essen doch immer Kohl und Rote Beete, damit hat’s sicher zu tun.«
Die Tür fiel zu und Jakob verließ seine wenig komfortable Position auf der Herrentoilette. Ein Handy. Er hatte die Dinger noch nie gemocht. Und die blöde Filmerei von Laien auch nicht. Jetzt war er ein Filmstar, ein zappelnder, sabbernder Jakob, dessen Kopf auf den Boden schlug. Er hing am Haken eines verschwundenen Handys, eine schillernde, sich windende Maräne an einem tiefen, krummen, verfluchten Haken.