Читать книгу Und eines Tages öffnet sich die Tür - Louise Boije af Gennäs - Страница 5

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Der Geruch nasser Wolle umgab uns wie eine unsichtbare, feuchte Wolke. Der Eigengeruch des Busses nach altem scharfem Schweiß und Urin, der von den hintersten Sitzen aufstieg, mischte sich mit dem feuchten Wollgeruch, der sich von oben herabsenkte. Er rührte von Handschuhen und Schals her, irgendwo in Dachhöhe, wo wir uns krampfhaft an Haken und Stangen festhielten, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, aneinanderzustoßen und so ungewünscht Körperkontakt zu haben. Augenbrauen wurden gerunzelt, wie um zu betonen, daß eine eventuelle Berührung nicht freiwillig erfolgte. Blicke richtete man unwirsch in die Ferne, ohne sie an einem bestimmten Ziel, ganz sicher aber nicht an einer bestimmten Person festzumachen. Wir schauten direkt durch die anderen hindurch, ohne das Geringste zu sehen, wie es sich eben gehörte, wenn man in der Öffentlichkeit allzu sehr in die Nähe fremder Menschen geriet.

Meine eigenen Handschuhe waren auch feucht und rochen unangenehm, das hatte ich vor dem Geldautomaten bemerkt, als ich den rechten mit den Zähnen auszog, um mit den steifgefrorenen Fingern die Karte in den schmalen Schlitz stecken zu können. Zweihundert Kronen hatte ich eingegeben; ich war überzeugt, so viel auf dem Konto zu haben. Aber ich mußte mir wieder einmal etwas falsch notiert haben, denn aus der Maschine ertönte nur ein peinlicher, langgezogener Pfeifton, gefolgt von einer grünleuchtenden Mitteilung auf dem Schirm, daß der Betrag nicht gedeckt sei.

Hinter mir in der langen Schlange traten entnervte, frierende Leute von einem Fuß auf den anderen, vielleicht mit dem gleichen Gefühl beißender Kälte in den Zehen wie ich, und einer seufzte so vernehmlich, als meine Karte wieder ausgespuckt wurde, daß ich keinen weiteren Versuch wagte. Glücklicherweise kam der Bus, so daß ich niemandem in die Augen sehen mußte, sondern einfach die Karte aus dem Automaten reißen und losrennen konnte. Spaghetti, konnte ich gerade noch denken. Ganz hinten in der Speisekammer hatte ich noch eine halbe Packung davon, und mit Margarine und französischen Kräutern zubereitet waren sie zu den Nachrichten völlig okay. Dann rutschte ich direkt vor dem Bus im Schneematsch aus, der Frankforth-Nachmias flog aus der Tasche und landete aufgeschlagen mit den Seiten nach unten in einer bräunlichen Pfütze, und ich selbst steckte mit dem Knie in einem Haufen Modder.

Die Nässe drang durch den Jeansstoff direkt bis auf die Haut und löste ein Gefühl des Unbehagens im ganzen Körper aus, wie damals, als man klein war und sich in die Hosen gemacht hatte, irgendwo auf einem unbekannten Kiesweg weit von zu Hause entfernt, auf dem man mit fremden Leuten spazierenging. Einen Augenblick glaubte ich, nun würde mir der Busfahrer auch noch die Tür vor der Nase zumachen, aber ausnahmsweise hatte ich einmal Glück. Er wartete geduldig, während ich mich hochrappelte, das Lehrbuch packte und meine Tasche jetzt mit festem Griff umfaßte. Mein Herz schlug heftig, irgendwo in Höhe der Halsgrube, als ich die glatten, grauen Busstufen hochstieg. Der Fahrer grinste mir zu, legte, noch während ich meine Karte hochhielt, den ersten Gang ein, und wir entfernten uns vom Bürgersteig. Buskarte! Wie schön; eine Sache, die unabhängig von den Geldmitteln im Portemonnaie oder auf dem Konto funktionierte. Mein Studienkredit war so gut wie aufgebraucht, obwohl wir erst November hatten, und bis zur nächsten Prüfung in einer Woche hatte ich auch nicht die Zeit, im Ica-Laden zu jobben. Ich war gezwungen, diese acht Punkte zu machen, sonst sah es mit dem Darlehen für das Frühjahrssemester ziemlich kitzlig aus.

Einen Sitzplatz bekam ich natürlich nicht, den bekam man um diese Zeit fast nie. Der Bus war brechend voll mit müden, gereizten, trübseligen, gleichgültigen Menschen. Ich wurde zwischen eine dicke Frau im verfilzten, braunmelierten Mantel und einen älteren Mann mit kaputten Zähnen gepreßt, der nach altem Tabak roch, und nur mit einer Kraftanstrengung gelang es mir, die glänzende Stange über meinem Kopf zu greifen. Schweratmend stand jemand hinter mir, der offenbar Knoblauch zu Mittag gegessen hatte. Ich kniff die Lippen zusammen, schluckte und versuchte mit den Schlingerbewegungen des Busses mitzugehen, ohne daß mir übel wurde. Vor meinem inneren Blick beschwor ich das Bild eines Wasserfalls – ein Wasserfall in den Alpen, so einer, wie man ihn auf ausländischen Schokoladenstückchen finden konnte, umgeben von hohen schneebedeckten Bergen und kleinen Kirchdörfern in der Ferne. Es war ein Trick, den ich oft benutzte, um der Übelkeit zu entgehen, wenn ich zu viel getrunken hatte oder eine Magengrippe im Anmarsch war. Ich dachte an einen sauberen Fluß, einen Wasserfall, ein Gewässer oben in den Bergen. Jede Menge frischer Luft. Grüne Wälder und hohe Berge.

Der Mann hinter mir unterdrückte ein Rülpsen und atmete dann mit offenem Mund aus. Ein stechender Knoblauchgeruch zog an meinem Gesicht vorbei und ließ den Speichel rinnen, während mein Magen sich gleichzeitig zusammenzog. Alpengipfel. Klares Wasser. Frische Luft. Kein Mensch in Sicht, nur ausgedehnte Wälder und große Weite.

Im Fenster, hinter dem Rücken der verfilzten Dame, entdeckte ich mein Gesicht, eingeklemmt zwischen dem Arm des älteren Mannes und dem Anorak eines jungen Burschen. Ich sah blaß und übellaunig aus, genauso übellaunig wie alle anderen. Ein ganz normales schwedisches Mädchen, Anfang Zwanzig, mit rattenfarbenem Haar und grauen Augen. Regelmäßigen Zügen, wie es in den Jungmädchenbüchern aus Mamas Kindheit hieß. Nicht schön, aber auch nicht gerade häßlich. Ich sah ganz einfach aus wie die Leute im allgemeinen aussehen, und schon das war erschreckend genug in einer Welt, in der man keine Chance mehr hatte, wenn man sich nicht abhob, nicht etwas Besonderes war, etwas ganz Spezielles.

Oft saß ich in der U-Bahn und erkannte mich in anderen Menschen wieder, egal wie alt sie waren. Manchmal sah ich ein kleines Mädchen mit einem Blick, der an meinen eigenen erinnerte, manchmal eine Dame mittleren Alters mit dem gleichen Gesichtsausdruck oder Profil, dann wieder eine ältere Frau, deren Körper auf die gleiche Weise zusammengesunken war, wie ich mir meinen eigenen in späteren Jahren vorstellte. Wir sind alle eine Rasse, dachte ich dann; die nordische Kartoffelzüchterrasse. Stille, nette, ängstliche Menschen, die ihre Gedanken für sich behalten und niemandem auf die Zehen treten wollen. Wir sind erzogen, der Obrigkeit, der Kirche, dem Adel, den Politikern, Lehrern, Journalisten, Gewerkschaftsbossen und Direktoren zu gehorchen. Wir sind eine leicht zu lenkende Rasse, die unter dem Begriff Demokratie koexistiert, weil das die ansprechendste und am leichtesten zu verkaufende Version der Machtausübung von oben nach unten ist. Es hat jedenfalls den Anschein, als ob wir alle mitbestimmen. Im Ausland hält man uns für ein modernes, freimütiges Volk. Doch im Grunde sind die meisten von uns dieselben Kartoffelzüchter und Schnapsbrenner geblieben, die wir immer gewesen sind, und wir haben überhaupt nichts zu sagen. Damals nicht, heute nicht und ganz gewiß nicht in der Zukunft. Um den Schmerz und die Gewißheit von unserer eigenen Bedeutungslosigkeit zu betäuben, brauchen wir in regelmäßigen Abständen ein ordentliches Besäufnis. Um irgendwann einmal richtig locker zu sein und eine Ansicht äußern zu können, müssen wir zum Schnaps greifen. So sind wir. So bin ich auch.

Der Bus schlingerte und schaukelte, und ich trat ein Stück zur Seite, um die Spiegelung meines Gesichts hinter einem Wildledermantel und einem nach Wolle riechenden Schal zu verstecken. Statt dessen betrachtete ich die Leute um mich herum. Ihre Augen schienen leer und müde zu sein, irgendwie grau, aus Mangel an Licht. Wir befanden uns immer noch auf dem Weg in die dunkle Jahreszeit, obwohl es schon so lange her war, daß wir die helle Zeit hinter uns gelassen hatten, und es noch viel länger dauern würde, bis es um uns herum wieder heller würde. Wir sind ein Volk, das schnell vergißt, dachte ich. Glücklicherweise. Jedesmal wenn das Licht zurückkommt, vergessen wir, daß es jemals dunkel gewesen ist. Wir vergessen die unendlichen Nächte und die matschigen, dunklen Tage mit nur ein paar Stunden Atempause mittendrin, wie ein Loch im Eis, von unten gesehen. Wir vergessen die Grippewochen und den Lohnstopp und die ständig steigenden Lebensmittelpreise. Wenn das Licht zurückkehrt, sitzen wir an stillen Buchten in der Dämmerung, prosten uns mit Schnaps zu, braungebrannt und glücklich und voller Mückenstiche, und wir vergessen alles außer dem milden Licht, das uns umgibt und in uns ist, in unseren Augen und auch in den Augen all der anderen. Wir stoßen auf den Sommer an, das Licht und die Hochkonjunktur, und wir glauben, mit der Dunkelheit, falls sie jemals wiederkehren sollte, bestens fertig werden zu können, denn so stark lebt das Licht in dieser Zeit in uns, daß es durch alle Arten von Dunkelheit bis zur nächsten hellen Periode zu reichen scheint, und wenn sie auch noch so weit entfernt sein mag. So schnell vergessen wir. Und so schnell verschwindet auch das Licht in uns, jedesmal und immer wieder. Wir sind ein Volk, das schnell vergißt. Was für ein Glück.

Der Bus war an meiner Haltestelle angekommen. Ich schob mich durch die feuchte Wolke, vorbei an den vielen Körpern, den vielen Mänteln, den vielen ins Nichts gerichteten Blicken und kam an der Tür an, als sie sich gerade mit einem Zischen wieder schließen wollte. In allerletzter Sekunde stellte ich meinen Fuß in die Lichtschranke, und dann fiel ich fast in die erleuchtete Nachtdunkelheit hinaus. Die Tür schloß sich hinter mir, der Bus machte einen Knicks nach oben und rollte schwer davon, einen starken Geruch nach Äthanol zurücklassend. Auch der umgab mich wie eine Wolke, brachte meinen Magen wieder in Aufruhr und ließ erneut den Speichel rinnen.

Flüsse. Alpengipfel. Frische Luft. Licht.

*

Die Wohnungstür mit dem kaputten Briefschlitz schlug scheppernd hinter mir zu. Auf dem Dielenboden lagen zwei braune Kuverts und das Werbeblatt eines Lebensmittelladens. Wenn ich nachmittags nach Hause kam, hatte ich immer ein erwartungsvolles Kribbeln im Bauch, ein Gefühl, daß vielleicht heute was Besonderes mit der Post gekommen war. Ich wußte nicht genau, was das sein sollte. Vielleicht eine Einladung zu einer tollen, luxuriösen Party, von einer ganz besonderen Person. Nicht daß ich was zum Anziehen gehabt hätte, um auf eine solche Party zu gehen. Und irgendeine besondere Person kannte ich auch nicht.

Einmal hatte eine Ansichtskarte aus Italien auf dem Dielenteppich gelegen, eine wundervolle Ansichtskarte mit einem Bild vom Mittelmeer und einem lachenden Paar in einem Restaurant im Vordergrund. Sie kam von einem Italiener, und als ich, wie immer, als erstes nach dem Absender sah und begriff, daß sie wirklich von ihm, Sandro, kam, machte mein Herz einen Doppelsprung. Vor mehreren Jahren war ich ihm auf einer Sprachreise begegnet und hatte mich Hals über Kopf in ihn verknallt. Ungefähr einen halben Tag lang hatte er in Maßen mit mir geflirtet und sich dann Chiara gewidmet, dem schönen Mädchen mit den langen Beinen aus Florenz. Als ich die Karte zu lesen begann, spürte ich die Erwartung in mir, doch als ich am Ende angelangt war, war sie längst verschwunden. »Mit Chiara ist Schluß. Vielleicht komme ich nach Stockholm«, stand da in holprigem Englisch. »Love, Sandro.« Die Karte war an Marja adressiert, nicht an Maja, nicht an mich. Plötzlich sah ich Sandro vor mir, wie er in seinem erbosten, italienischen Hochmut und angetrieben von verletztem männlichen Stolz sein ganzes dickes Adreßbuch durchpflügte und danach Ansichtskarten an alle unbekannten Mädchen abfeuerte, mit denen er jemals Adressen gewechselt hatte. Vielleicht hatte eine unbekannte Marja in Finnland nun den Vornamen Maja erhalten. Ich wollte Sandro nicht wiedersehen, und er wollte mich nicht sehen. Er wollte nicht mich sehen.

Auch ich hatte Sandro natürlich nie richtig gesehen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was für ein Mensch er eigentlich war; ich erinnerte mich nur an ein hübsches Profil und eine schlaksige Männergestalt. Vielleicht wollte Sandro gar nicht gesehen werden; vielleicht begnügte er sich damit, Mädchen aus anderen Ländern oberflächlich zu beeindrucken und dann ihre Sehnsucht mit Ansichtskarten vom Mittelmeer zu nähren. Ich aber wollte gesehen werden, von ihm oder einem anderen. Mehr als alles andere hatte ich schon immer gewollt, daß jemand mich sah. Mich sah.

Der Anrufbeantworter war Punkt zwei meiner Erwartung, wenn ich nach Hause kam. Ich hatte so einen Apparat vom Tele-Amt, einen kleinen billigen aus weißem Plastik, den mir mein Bruder Steffe überlassen hatte, als er sich ein größeres, eleganteres Modell angeschafft hatte. Manchmal ging der Apparat kaputt und mußte zur Reparatur, aber genausooft sprang er wieder an, wenn man ihn nur ein paarmal auf den Küchentisch schlug. Hatte ich keine schöne Post bekommen, konnte ich immer noch hoffen, daß irgend jemand Interessantes angerufen hatte. Auch in dem Fall wußte ich nicht genau, worauf ich hoffte; vielleicht, daß ein alter Schulfreund von sich hören ließ, etwa auf folgende Weise: »Maja! Hier ist Per. Erinnerst du dich an mich? Wir sind zusammen in die Penne gegangen. Ich habe dich gestern im Bus gesehen, und du hast unheimlich süß ausgesehen. Ich habe noch gerufen, aber die Türen gingen zu und du hast nichts gehört. Ich habe gleich, als ich nach Hause kam, im Telefonbuch nachgesehen, und da stand ja deine Nummer. Ich weiß nicht, ob du mit jemandem zusammen bist oder so, aber ... hast du vielleicht Lust, irgendwann mal ein Bier trinken zu gehen und über alte Zeiten zu reden? Ruf mich an unter 5691822!« Piep!

Meistens gab es keinerlei Nachrichten. Meistens leuchtete mir, wenn ich nach Hause kam, nur eine verdammte rote kleine Digitalnull aus dem Dunkel des Wohnzimmers entgegen. Zwei Dinge leuchteten in meinem Wohnzimmer: die Null und das Aquarium. Mein grünes Aquarium, das ich schon hatte, als ich noch zu Hause wohnte. Wenn ich auf die verdammte Null geschielt hatte, ging ich hin und legte die Hände aufs Glas, das sich lauwarm anfühlte, und blickte zu meinen Fischen hinein. Sie schienen mich nicht zu sehen, bewegten sich nur mit graziösen Schleierbewegungen durch das Wasser und schienen nicht im geringsten zu begreifen, daß ich sie mit dem Kescher herausholen und in Ei und Semmelbrösel braten konnte, wenn ich es nur wollte.

Fische waren keine guten Haustiere, besonders nicht, wenn man allein wohnte und die Null beinahe jeden Abend, wenn man nach Hause kam, ärgerlich rot leuchtete. Manchmal rief ich mich selbst von der Arbeit aus an, nur damit der Apparat eine Eins oder Zwei anzeigte. Dann ließ ich die Ziffer den ganzen Abend stehen. Einmal habe ich mehrere Tage hintereinander bei mir zu Hause angerufen, nur um wenigstens ein einziges Mal ein bißchen Gerede anhören zu können, und schließlich erinnerte ich mich nicht mehr, wie oft ich angerufen hatte. Als der Apparat eine Vierzehn anzeigte, rauschte ich eines Abends zur Tür herein, warf den Mantel ab, schlug die Beine übereinander und begann mit dem Stift in der Hand das Band abzuhören, als hätten im Laufe des Tages wirklich vierzehn Personen versucht, mich über diesen kleinen Apparat zu erreichen. Natürlich erwies sich, daß dreizehn Gespräche von mir kamen und eins von meiner Mutter, die ungefähr drei Tage zuvor angerufen hatte, und als ich zurückrief, klang sie wütend wie eine Hornisse und erkundigte sich, ob meine Universitätsstudien mich so hochnäsig gemacht hätten, daß ich keine Rücksicht mehr auf die Familie zu nehmen brauchte. In Wirklichkeit war sie es gewesen, die fast vier Wochen nichts hatte von sich hören lassen, und das schlechte Gewissen machte sie, wie üblich, aggressiv. Wie gewöhnlich rief ich sie also an und bat um Entschuldigung, und wie gewöhnlich sagte sie, es mache nichts.

An diesem Abend genoß ich die Vorfreude ein wenig. Ich ging nicht direkt von der Post zum Anrufbeantworter, sondern hängte erst meinen Mantel auf und sortierte meine Lehrbücher auf dem Schreibtisch vor dem Fenster. Ungewollt sah ich meine eigene, undeutliche Spiegelung in der Scheibe, und genau wie im Bus wich ich ihr mit dem Blick aus. Ich sah nicht so aus, wie man nach Romanen, Filmen und Werbetafeln auszusehen hatte, das hatte ich schon frühzeitig festgestellt. Auch wirkte ich nicht interessant, wie eine verkrachte Existenz zum Beispiel, nicht originell oder exzentrisch. In der Damensauna oder in einer Menschenmenge schauten mich die Leute zerstreut an, ehe sie den Blick weitergleiten ließen. Ich weckte keine Aufmerksamkeit, aber mein Anblick brachte auch niemanden dazu, den Blick abzuwenden. Man sah mich ganz einfach nicht. Ich war nur eine von vielen, völlig normal, genau so eine wie alle anderen. Im Café ›Ritorno‹, in dem ich oft einen Kaffee trank, hatten die Plunderstücke und Kuchen keine feinen französischen Namen wie anderswo, sondern auf den kleinen Schildchen standen normale, urschwedische Namen, die den Inhalt beschrieben oder die Bezeichnungen angaben, die die Kunden benutzten. Infolgedessen hieß die eine Sorte Plunderstücke »Ein Klebriges«, eine andere »Was Gutes«, eine dritte »So eins« und eine weitere Sorte »Genau so eins«. Ich hatte das Gefühl, wenn ich ein Plunderstück wäre, läge ich unter denen, die man »Genau so eins« nannte, gesprochen mit leiser Stimme vor dem Schaufenster des Cafés, im Hintergrund der schwedische Herbsthimmel.

Nachdem ich meine Sachen wegsortiert hatte, warf ich endlich einen Blick auf den Anrufbeantworter. Eine Zwei leuchtete in der Dunkelheit! Ich drückte sofort auf die Wiedergabetaste. Zwei Gespräche! Ich selbst hatte nicht angerufen. Und nur eins davon konnte schließlich falsch verbunden oder ein schrilles, falsch gelandetes Faxsignal oder auch Mutter sein, die mich an etwas erinnern wollte. Das Band lief surrend an. Erst erklang der Piepton und danach Karins Stimme. Karin war eine Freundin, die früher mit mir bei Ica gearbeitet hatte. Jetzt war sie Kellnerin im ›Hard Rock Café‹, und oft wies sie mich mit leiser Verachtung in der Stimme darauf hin, daß es an der Zeit wäre, mir einen Stoß zu geben und ebenfalls weiterzukommen. Sie meldete sich nicht mehr oft bei mir, doch wenn sie es tat, hörte sie sich an wie immer: »Hallo, ich bin es. Gott, es ist ja Ewigkeiten her. Wenn du Lust hast, kannst du morgen mit mir mitkommen. Ich will mich mit jemandem von der Arbeit im Wasahof treffen. Rufe mich heute noch an. Hier ist Karin, habe ich das überhaupt gesagt?«

Piiiep, sagte der Apparat. Dann nahm Mutters Stimme das Zimmer ein. Bei ihr war es nie der Fall, daß sie wie andere zu leise aus dem Apparat klang, so daß man vielleicht gezwungen war, das Band zurückzuspulen, um gewisse Einzelheiten zu erfassen; nein, Mutters Stimme war wirklich imstande, ein ganzes Zimmer zu füllen. Auch in der Kirche nahm Mutters Stimme den ganzen Raum ein, wenn sie bei den Liedern laut und klar mitsang. Sie war nicht etwa kirchlich, o nein. Mutter doch nicht. Religion war für sie beinahe so etwas wie Opium fürs Volk. Doch man mußte solidarisch sein und sich den jeweiligen Sitten und Gebräuchen anpassen; bei einer Hochzeit, Beerdigung oder Taufe ging man in die Kirche und füllte den Kirchenraum mit seiner Stimme. Man hatte den Willen anderer zu respektieren, und zugleich konnte man die Durchführung der Sache selbst ein wenig prägen. Als kleines Kind war ich überzeugt, daß Mama selbst Gott übertönen konnte.

»Hier ist Mama«, sagte sie jetzt, und ihre Stimme quoll zwischen Sofa und Tisch, rollte weit unter meinen Schreibtisch, wogte hinauf bis zur Decke und um die dunkle Lampe herum wie eine Flutwelle vibrierender Töne. »Bist du nicht zu Hause? Jetzt ist es halb sechs. Ich habe es auch schon bei deiner Arbeitsstelle versucht, aber Pelle hat gesagt, du kommst die ganze Woche nicht. Kannst du dir das wirklich leisten? Bist du schon wieder unterwegs? Ich hoffe wirklich, daß du diese Nachricht heute abend erhältst. Großmutter liegt in Sabbatsberg, und nun hat sie auch noch aufgehört zu essen. Ich begreife nicht, was mit ihr los ist, sie hat doch alles, was sie braucht. Jedenfalls wirst du einmal hingehen. Weder Papa noch ich schaffen es diese Woche, und von dir aus ist es ja nur ein Katzensprung. Kannst du doch machen, oder? Ruf uns an, wenn du nach Hause kommst.«

Piiiep.

Karin wollte mich mit in die Kneipe nehmen. Jemand von der Arbeit, wer konnte das sein? Einer aus dem ›Hard Rock‹, natürlich. Ein hübscher Typ mit großen Bizeps, auf den Karin scharf war. Oder so ein irres Girlie mit Lederjacke, halblangem Haar und lautem Lachen, von der Karin die abgelegten Sachen erbte. Ich war ihren Kollegen schon früher begegnet. Nicht, daß mir das etwas ausmachte. Ich war über jeden glücklich, den ich kennenlernen durfte, glücklich, überhaupt angerufen zu werden, glücklich über die Idee, mitten in der Woche auszugehen und zusammen mit Karin und ihrem unbekannten Freund oder ihrer Freundin im ›Wasahof‹ ein Bier zu trinken.

Ich ging zum Aquarium und drückte die Handflächen an das lauwarme Glas. Dort drinnen bewegten sich die Fische in ihrem graziösen Schleiertanz. Sie stiegen und sanken im unsichtbaren Wasser wie anmutige, träge Paradiesvögel in einer ganz anderen Atmosphäre als jene, die wir in unserem kläglichen Erdenleben zustandebrachten. Ich sah, wie sich meine Augen im Glas spiegelten, ganz schwach in der Dunkelheit, und ich sah, wie mir meine Zähne in dem lächelnden Mund entgegenschimmerten. Und es schien tatsächlich, als schwimme einer der kleinen Fische auf mich zu und betrachte mich mit seinen lidlosen Augen, sehe mich ausnahmsweise einmal direkt an, ohne den Blick abzuwenden. Dann legte er die Schleier zusammen, öffnete sie, legte sie zusammen und öffnete sie wieder, wendete und schwamm in eine andere Richtung davon.

*

Am nächsten Abend kam ich ungefähr zehn nach acht in den ›Wasahof‹, weil ich nicht die Erste sein wollte. Mir hatte es nie gefallen, in Kneipen allein an Bars herumzuhängen, denn ich wußte nie, ob ich etwas bestellen und allein trinken oder ob ich warten sollte und falls ich wartete, was ich in der Zwischenzeit machen sollte. Ich traute mich nicht zu rauchen, weil ich befürchtete, man könnte sehen, daß ich nur eine Sonntagsraucherin war und keine richtigen Lungenzüge machte, und lesen wollte ich auch nicht, obwohl ich beinahe immer ein Buch in der Tasche hatte, denn ich fand, das wirke zu gewollt. Ich war ganz einfach typisch für dieses Land. Immer besorgt, was andere sagen würden, immer in Angst, was andere denken könnten, obwohl alle anderen total mit sich beschäftigt waren und mich nicht einmal eines Blickes würdigten. Die Lösung des Problems sah ich darin, zu Verabredungen in Gaststätten und Bars ständig zu spät zu kommen. Ich war eigentlich ein ausgesprochen pünktlicher Typ, was die Sache ein wenig erschwerte, aber ich zog es stets vor, wie auch in diesem Fall, vier Runden um die Gustav-Vasa-Kirche zu drehen, statt rechtzeitig da zu sein und allein an der Bar herumzustehen.

Karin war nicht zu sehen. Ich ging ein paarmal durch die ganze Bar und das Speiserestaurant, die Brauen unschuldig erhoben und die Miene ausgesucht beschäftigt, als sei ich nur zufällig hierhergeraten auf dem Weg zu einer unerhört wichtigen Verabredung, und danach stellte ich mich mit einem tiefen Seufzer allein an die Bar. Ich schielte auf meine Armbanduhr. Fast Viertel nach acht. Hatte ich mich im Ort geirrt? War es nicht der ›Wasahof‹? Ich zog wieder ungeduldig die Augenbrauen in die Höhe, hob meine Schultertasche auf die Theke und zog den Kalender heraus. Diskret warf ich einen Blick hinein. Doch. »Karin Wasahof 20.00 Uhr« stand da mit rotem Stift. Und heute war Dienstag. Und das hier war der Wasahof.

Sechzehn Minuten nach acht.

Ich studierte die Theke. Sie war mit einer Messingplatte bedeckt, eingefaßt von dunklem Holz. Ganz hübsch. Am Boden befand sich eine lange Stange als Fußstütze, ebenfalls aus Messing. Oder war es etwas anderes? Vielleicht irgendein Ersatzmetall. Auf der Theke standen gewaltige Aschenbecher. Eine Schiefertafel kündigte das Bier-Extraangebot des Abends an: »Großes Doppelbock 39,–«. Doppelbock. Verbocken. Nach einem zu großen Doppelbock alles verbocken. Die Barhocker waren rund und hoch. Etwa fünfzehn oder zwanzig davon umgaben die Bar. Bis auf drei waren alle besetzt. Drei von, sagen wir, zwanzig. Das hieß, daß ein, zwei, ein Sechstel der Stühle frei waren. Nein, ein Siebentel. Dreimal sieben war einundzwanzig ... Zwei Dreizehntel der Stühle waren frei.

Oder?

Siebzehn Minuten nach acht.

Ich fuhr zusammen, als der Barkeeper plötzlich vor mir stand und fragte, was ich haben wollte. Meine Tasche ging auf, und der Inhalt fiel zu Boden. Ich fühlte, wie ich rot wurde, weil sich ausnahmsweise einmal alle Blicke auf mich richteten. Gleichzeitig versuchte ich dem Barkeeper zu erklären, daß ich nichts haben wolle – oder vielleicht doch, ein mittelstarkes Bier vom Faß – nein, lieber doch nicht, ich wollte noch warten. (Wenn sie nun nicht kam! Dann konnte ich das Geld für etwas Besseres verwenden!) Verwirrt beugte ich mich hinunter und versuchte, meine Sachen zusammenzusuchen. Der Typ neben mir hatte sich auch gebückt und meine Haarbürste und das Feuerzeug aufgehoben, und jetzt reichte er mir beides freundlich lächelnd.

»Hier«, sagte er.

»Danke«, erwiderte ich.

Dann wandte ich mich wieder zur Bar um. Mein Gesicht brannte vor Scham. Der Typ hatte sich auch wieder der Bar zugewandt. Ich musterte ihn verstohlen. Er hatte dunkle Haare, braune Augen und sah ein bißchen von der Sonne gebräunt aus, obwohl wir November hatten. Vermutlich Einwanderer. War er unterwegs, um leichtsinnige schwedische Mädchen aufzureißen? Im selben Augenblick sah er mich plötzlich an und lächelte wieder, und ich fühlte, wie ich erneut rot wurde, wie ertappt. Im selben Augenblick segelte Karin zur Tür herein, groß, blond und schön wie immer, in abgewetzter Lederjacke und ausgeblichenen Jeans.

»Hallo!« rief sie fröhlich in meine Richtung, und ich machte einen Schritt auf sie zu, um sie zu umarmen.

Aber der Einwanderertyp kam mir zuvor. Er umfaßte Karin mit beiden Armen, und sie küßte ihn herzlich auf den Mund. Ich blieb unbeholfen neben ihnen stehen, bis sich Karin endlich entschloß, mich zu sehen.

»Maja!« sagte sie und umarmte mich. »Gott, ist das lange her. Habt ihr euch bekannt gemacht?«

Ich schüttelte den Kopf, während der Typ zur gleichen Zeit bestätigend nickte. Dann grinste er mich breit an und sagte: »Sicher haben wir das. Ein Marlboro-Feuerzeug. Keine Schuppen in der Haarbürste.«

Karin blickte uns ein wenig erstaunt an, und ich beeilte mich zu erklären: »Meine Tasche ist umgekippt, und es ist alles auf die Erde gefallen.« Karin lachte ein bißchen steif.

»Das sieht dir ähnlich, du Tolpatsch«, sagte sie und wandte sich wieder dem Typen zu. »Habt ihr schon bestellt?«

Er ignorierte Karin. Statt dessen sah er mich lächelnd an und streckte mir die Hand hin. »Ich habe dich schon gesehen, als du reingekommen bist«, sagte er. »Ich heiße Christos.«

»Maja«, erwiderte ich.

Wir schüttelten uns die Hand. Karin betrachtete uns wortlos und zündete sich eine Zigarette an. Christos’ Hand umschloß die meine. Ich fand, er hielt sie ungewöhnlich lange fest. Seine Hand war warm, trocken und sonnengebräunt, und meine Hand sah in der seinen weiß und schmal aus. Plötzlich wünschte ich, nicht die Nägel abgeknabbert und sie überhaupt besser gepflegt zu haben. So wie Karin. Ihre Nägel waren immer lang, rot und bestens gefeilt.

»Was wollt ihr trinken?« fragte Christos, ließ meine Hand los und legte seine Arme um uns beide. »Ich lade euch ein.«

Karin kicherte entzückt. »Christos ist Gentleman bis in die Fingerspitzen«, sagte sie zu mir, doch ohne den Blick von ihm zu lösen. »Du wirst dich noch total ruinieren, wenn du so weitermachst. Ein großes Pils, bitte.«

Christos sah mich fragend an, aber ich brachte keinen Ton heraus. Statt dessen nickte ich, und er bestellte drei Pils.

»Werdet ihr von schwedischen Männern nie zum Bier eingeladen?« fragte er dann und zündete sich ebenfalls eine Zigarette an.

»Sei nicht so selbstgefällig!« sagte Karin und boxte ihn leicht in den Bauch. »Ein Kompliment reicht ja wohl!«

»Und was sagst du dazu, Maja?« fragte Christos und wandte sich zu mir.

Ich zuckte mit den Schultern. »Kommt wohl vor«, sagte ich. »Aber es ist nicht die Regel.«

»Woher kennt ihr beide euch?« fragte Christos. »Seid ihr Freundinnen aus der Kindheit?«

»Nein, das wäre wirklich zuviel gesagt!« antwortete Karin und lachte schallend. »Voriges Frühjahr haben wir eine Zeitlang zusammen bei lca gearbeitet, ehe ich im ›Hard Rock‹ angefangen habe. Dort konnte man aber einfach nicht bleiben. Pelle, der Alte, dem der Laden gehört, kann von keiner Frau die Finger lassen. Und ich meine, an der Kasse sitzen, das ist nichts für mich.« Sie schüttelte vielsagend den Kopf. Dann fuhr sie mir unsanft über die Haare.

»Klein-Maja hier fällt es schwer, sich einen Stoß zu geben!« sagte sie. »Aber wir arbeiten dran, stimmt’s Herzchen?«

Ich lächelte. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte.

»Arbeitest du voll?« fragte mich Christos.

»Nein«, sagte ich, »ich mache das nur manchmal nebenbei, ein paar Tage in der Woche. Ansonsten studiere ich. Soziologie.«

Christos Gesicht erhellte sich, und er drehte sich noch weiter zu mir um. »Wirklich?« fragte er. »Toll! Ich studiere Wirtschaftswissenschaft. Im Moment belege ich Betriebswirtschaft. Nächstes Frühjahr werde ich fertig.«

Ich lächelte ihm dankbar zu, aber ehe ich antworten konnte, legte Karin ihre Hand auf Christos Arm.

»Maja ist unheimlich tüchtig«, sagte sie und legte den Kopf schief. »Eines schönen Tages wirst du Sozialkundlerin, stimmt’s?«

»Soziologin«, sagte ich. »Aber ich habe erst angefangen, jetzt im Herbst.«

»Was willst du danach machen?« fragte Christos.

Ich zuckte mit den Schultern. »Weiß nicht«, sagte ich und verstummte.

Das Bier kam und wir prosteten uns zu. Christos lächelte Karin zärtlich an, und sie gab das Lächeln strahlend zurück. Warum sie mich zu dieser Verabredung eingeladen hatte, konnte ich beim besten Willen nicht begreifen. Aber vielleicht brauchte sie einfach einen Kontrast; ein Maß, das neben ihr nicht bestehen konnte, wodurch sie selbst noch strahlender erschien. Sie redete ununterbrochen mit Christos, lachte, warf die Haare nach hinten und benahm sich so, wie ich mich immer gern benommen hätte, wenn ich nur gewußt hätte, wie man es anstellte.

Statt dessen nippte ich schweigend an meinem Bier. Es waren jetzt viele Leute in der Bar. In den Gläsern und in den großen, verkehrt herum hängenden Behältern hinter der Theke schimmerten verschiedenfarbige Flüssigkeiten, und hinter uns lag das Stimmengewirr wie ein Geräuschteppich. Christos war lieb und nett, und Karin war hübsch und ganz okay, schließlich hatte sie mich angerufen, und ich hatte überhaupt nichts dagegen, einen Kontrast darzustellen, wenn ich an einem ganz gewöhnlichen Dienstagabend zu einem Bier eingeladen wurde und es in netter Gesellschaft trinken durfte. Hin und wieder sah mich Christos mit seinen freundlichen Augen lächelnd an. Ich kam damals und dort zu dem Schluß, daß es doch nicht ganz so dumm war, hin und wieder allein in der Bar zu warten und vielleicht zufällig die Tasche auszukippen und sich ein bißchen zu blamieren. Nur manchmal, allerdings. Zur Abwechslung.

Und eines Tages öffnet sich die Tür

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