Читать книгу Und eines Tages öffnet sich die Tür - Louise Boije af Gennäs - Страница 8
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ОглавлениеAm Samstag kam ich gegen zwei nach Hause, alles tat mir weh, ich war erschöpft, glücklich und verwirrt. Auf dem Anrufbeantworter blinkte eine Vier. Ich spulte das Band ganz zurück, hörte Mutters wütende Stimme in verschiedenen Tonlagen und Karins wirres, leises Gerede aus einer geräuschvollen Bar. Mutter hatte dreimal angerufen und Karin einmal.
Schon als ich den Ton von Mutters Stimme hörte, fiel mir ein, was ich vergessen hatte – den Termin beim Chefarzt in Großmutters Krankenhaus. Ich hatte natürlich anrufen und absagen wollen, aber irgendwie hatte die Nervosität vor der Begegnung mit Christos alle anderen Verpflichtungen total in den Hintergrund gedrängt. Ich hatte es gerade noch geschafft, meine Sachen durchzuprobieren, den Müll rauszubringen und zu versuchen, ein paar Stunden zu büffeln, dann war es schon Zeit gewesen zu gehen. Der Chefarzt hatte um halb fünf bei Mutter angerufen, und jetzt erkundigte sie sich halb hysterisch, wo ich denn nur bleibe. Ihr erster Anruf war zwanzig vor fünf erfolgt, ihr zweiter um halb acht und der dritte um zehn Uhr morgens.
Zwischendurch hatte Karin angerufen, am Freitagabend gegen Mitternacht, leicht beschwipst und echt deprimiert. Wo ich denn nur sei, fragte sie. Wie sei es mit Christos gelaufen? Es gäbe ein paar Dinge, die ich über ihn wissen sollte, nur für den Fall, daß ..., damit ich nicht unnötig verletzt werde. Zwischen den Zeilen hörte ich, daß Karin eifersüchtig und traurig war, und mich packten heftige Gewissensbisse. Als sie anrief, hatten Christos und ich vermutlich gerade unsere Brote aufgegessen und waren dabei, uns gegenseitig mit Marmelade zu bekleckern.
Karin würde sich meinen Freitagabend nie vorstellen können, nie im Leben. Für sie war ich die Maja, die sich ständig fragte, ob dieser oder jener Bursche an einem Mädchen mit einer solchen Haarfarbe interessiert sein könnte, ob sie meine, daß er am Freitag im Pub wäre und falls ja, ob ein Minirock besser wäre als lange Hosen. Nun wollte sie wissen, ob wir uns noch einmal verabreden würden, zu einem Essen, einem Bier oder sonstwas. Kurz gesagt, sie wollte wissen, ob es durch mich für sie schwieriger geworden war, ihn zu kriegen, oder leichter. Sie hoffte, ich würde erzählen, daß wir uns überhaupt nicht besonders verstanden hätten. Es reizte mich, ihr zu sagen, doch, wir haben uns recht gut verstanden. Wir haben uns die halbe Nacht geliebt und den halben nächsten Morgen, und jetzt kann ich kaum sitzen.
Ich hatte geglaubt, es könne nichts Dümmeres und Unwahreres geben als diese Redewendung, Liebe auf den ersten Blick. Dennoch fiel mir genau das ein, als ich mir jetzt überlegte, wie ich über das Geschehene berichten könnte. Als ich da so in meinem Wohnzimmer stand, die Schultertasche in der einen, die Jacke in der anderen Hand, und das Band abhörte und es schließlich wieder an den Anfang zurückspulte, fühlte ich, wie das Glück, das am Tag zuvor in mir aufgestiegen war, jetzt plötzlich mit voller Kraft durch jeden Zoll meines Körpers brauste. Das Gefühl war so stark, daß ich schrie und laut vor mich hin lachte. Nie mehr allein! Wenn ich dem zu vertrauen wagte, was meine Sinne mir erzählten, so hatte ich, wie durch ein Wunder, durch Liebe auf den ersten Blick, durch die mitfühlende Vorsorge des Küchengottes Makkaroni essender Mädchen, mein Puzzlestück gefunden, meine verlorene Hälfte, mein Spiegelbild. Er war ich, und ich war er. Die Gefühle, die entstanden, als wir uns liebten, konnten nicht trügen! Sie mußten wahr sein! Das Unmögliche war trotz allem eingetroffen, bei einem Mädchen mit rattenfarbenem Haar in einer Einzimmerwohnung mit Schlafalkoven am Odenplan.
Ich ließ Jacke und Tasche fallen und ging zu meinem Aquarium. Die Schleierfische schwammen mit derselben kühlen Unerreichbarkeit wie zuvor umher. Mir fiel ein, daß ich sie seit Tagen nicht mehr gefüttert hatte. Ich nahm die Dose mit dem Fischfutter und streute ein bißchen davon auf das Wasser. Plötzlich kam Leben in die Fische. Sie sausten blitzschnell an die Oberfläche, fraßen und fraßen, schubsten sich fast zur Seite, um die größten Flocken zu erwischen, als diese durch das klare Wasser hinabsanken. Sie waren total ausgehungert. Mit einer einfachen Bewegung meines Handgelenks hatte ich, Maja, sie mit Glück, Sicherheit und der Möglichkeit der Sättigung versehen. Als sie eine Weile gefressen hatten, beruhigten sie sich und begannen immer langsamer zu schwimmen. Mit zunehmender Würde und nur halb offenen Mündern kreuzten sie gemächlich durch das Wasser, bereit, eine einsame Flocke Fischfutter zu verschlingen, die hin und wieder an ihnen vorübertrieb.
*
Christos mußte den ganzen Tag arbeiten, also rief ich Karin an und verabredete mich mit ihr zu einem Kaffee im ›Panorama‹. Das Café trug diesen Namen, weil man dort eine weite, herrliche Sicht hatte, und ich hatte das Gefühl, Karin und ich könnten das vielleicht brauchen. Ein bißchen Aussicht, oder vielleicht eher Einsicht. Ich hatte die Absicht, auf jeden Fall die Karten auf den Tisch zu legen. Aber manchmal lief nichts so, wie man es sich vorgestellt hatte.
Karin kam nicht allein. Sie brachte einen anderen Kollegen vom ›Hard Rock‹ mit, einen großen, blonden, langweiligen Burschen mit Brille, der Göran hieß. Ich verstand erst nicht, warum sie ihn mitgebracht hatte. Karin sagte, sie wollten ins Kino gehen, doch das war nicht der Grund. Der wirkliche Grund war, das begriff ich ein Weilchen später, daß Karin vorhatte, uns beide zu verkuppeln. Göran ging zur Toilette, während wir Kaffee holten, und als wir uns an einen Fenstertisch gesetzt hatten, beugte sich Karin zu mir und sagte: »Er ist super. Er wird dir gefallen.«
»Ja, er scheint nett zu sein«, sagte ich.
»Und er sieht doch gut aus«, sagte Karin. »Ist auch mächtig clever. Studiert, genau wie du. Allerdings Jura. Er wird eines schönen Tages bestimmt ein unheimlich gewitzter Anwalt.«
»Hmm«, sagte ich.
»Außerdem hat er einen tollen Körper«, sagte Karin kichernd. »Er trainiert ungeheuer viel. Du mußt dir mal seine Muskeln an den Oberarmen ansehen.«
»Klingt Spitze«, sagte ich. »Warum bist du nicht mit ihm zusammen? Er scheint total verknallt in dich zu sein.«
»Hör bloß auf!« sagte Karin mit einem leisen Aufschrei, der in Lachen überging. »Wir sind nur Freunde! Zwischen uns ist nichts! Ich sage nur, daß er ein unheimlich süßer Kerl ist und jede, die ihn kennenlernen darf, kann sich glücklich schätzen.«
»Jede, bin das ich?« fragte ich spitz. »Es klingt, als wolltest du ihn verkaufen.«
»Mein Gott, nein!« erwiderte Karin.
Ich merkte, daß sie bei der ungewohnten Schärfe meiner Stimme leicht zurückzuckte. Sie war es nicht gewohnt, daß ich mich wehrte. Andererseits war sie nicht die Person, die so schnell aufgab.
»Das habe ich überhaupt nicht gemeint!« fuhr sie deshalb leichthin fort und zündete sich noch eine Zigarette an. »Aber jetzt, wo du es sagst! Ja, tatsächlich! Ich glaube, ihr könntet wunderbar zusammenpassen!«
Glücklicherweise kam Göran im selben Augenblick von der Toilette zurück. Er ließ sich ein wenig verlegen am Tisch nieder. Vermutlich hatte er gehört, was Karin als letztes gesagt hatte.
»Ist das mein Kaffee?« fragte er und zog eine der Tassen zu sich heran. Dann holte er sein Portemonnaie heraus. »Wer hat es ausgelegt?«
Ich betrachtete ihn mit neugewonnener Verachtung. Mein und dein. Typisch Schwedisch! Was hatte Christos gesagt? Schwedische Männer besäßen keinen Stolz, keine natürliche Großzügigkeit. In den Restaurants ließ man sich sogar vom Nachbartisch die Zigarette bezahlen, statt sie dem anderen einfach zu überlassen. Genau, Göran repräsentierte den schwedischen Mann. Groß, blond und wässrig wie zu lange gekochter Spargel. Mit ihm zu schlafen hieß, sich noch länger mit dem unbefriedigenden Ein und Aus abzugeben, das war völlig klar. Göran war ungefähr genauso sexy wie eine Ken-Puppe. Seine Auffassung von Sinnlichkeit beschränkte sich vermutlich darauf, die Rechnung genau zu teilen, auch wenn die Dame als einzige eine Nachspeise genommen hatte.
»Ich lade dich ein«, sagte ich ironisch und lächelte. Der Kaffee kostete fünfzehn Kronen, aber das war die Sache wert.
»Danke!« erwiderte Göran freundlich, lächelte zurück und steckte das Portemonnaie wieder in die Gesäßtasche. Seine Augen hinter der Brille waren recht hübsch, aber das war auch alles.
»Maja ist mit Christos Kaffee trinken gewesen«, sagte Karin zu Göran und sah mich herausfordernd an, während sie die Asche in ihren nur halb gegessenen Kuchen abschlug. »Wie war es?«
Zu meiner großen Verwunderung glühten mir nicht einmal die Wangen. Ein Glück; ich hatte jede Lust verloren, aufrichtig zu ihr zu sein. Ich hatte jedenfalls nicht die Absicht, hier vor Göran über Christos und mein Verhältnis zu ihm zu reden.
»Danke, bestens!« sagte ich daher ruhig. »Wir waren im ›Ritorno‹. Ich finde es immer sehr gemütlich dort.« Karin wartete. Sie war es gewohnt, daß alles aus mir herausströmte, so als drücke man auf einen Knopf.
»Und?« fragte sie.
»Was und?«
»War es denn nett?« fragte sie gereizt.
»Bist du schon mal im ›Ritorno‹ gewesen?« fragte ich Göran, ohne ihr zu antworten. »Diesem Café im Vasapark?«
»Ist es das, wo kleine Musikboxen an den Tischen stehen und die Tafel erleuchtet ist?« fragte Göran.
»Ja genau!« erwiderte ich.
»Das mag ich nicht«, sagte Göran. »Ich finde so was zu aufgemotzt. Mir gefallen langweilige Gaststätten, Pizzerias und so.« Hinter seiner Brille glitzerte es ein wenig. »Mir gefällt es, die Pizzabäcker bei der Arbeit zu beobachten«, fuhr er fort. »Schwedische Cafés haben so was Gewolltes. Alles muß immer wahnsinnig toll sein. Das scheint eine Art Volkskrankheit zu sein, besonders hier in Stockholm.«
»Ja, das stimmt wirklich!« bestätigte Karin eifrig und schlug die Asche so heftig ab, daß ihre Armbänder klimperten. »Aber was hat Christos nun gesagt?«
»Wozu?« fragte ich unschuldig.
»Tja, zu allem!«
»Er mag dich«, sagte ich herzlich und ohne zu lügen. »Er hat gesagt, daß er dich sehr gern hat und dich total hübsch findet.«
Karin kicherte und tat, als sei sie verlegen. Göran betrachtete sie amüsiert. Dann sah er mich wieder an.
»Ich finde Christos nett«, sagte er. »Er scheint wirklich okay zu sein. Und ihr seid zusammen?«
Jetzt lachte Karin auf, ein schrilles kleines Lachen, das fast wie ein Schrei klang. Ich lächelte Göran zu.
»Wir sind uns am Dienstag das erste Mal begegnet«, sagte ich.
»Oh, ist es schon so spät!« sagte Karin. »Wir müssen jetzt los, Göran!«
»Es ist doch erst zwanzig vor«, entgegnete Göran verwundert. »Und wir haben schon Karten!«
»Ich will die Reklame nicht verpassen!« sagte Karin bestimmt und zog ihn am Arm. »Komm jetzt!« Sie standen auf und umarmten mich alle beide. Dann gingen sie.
Ich blieb noch eine Weile sitzen und fühlte, wie mir allmählich schlecht wurde. Da war irgendwas mit dem Prinzeßtörtchen, der Dämmerung vor dem Fenster und der erleuchteten Säule im Springbrunnen, das sich nicht vertrug, und Karins Parfüm hing noch in der Luft neben Görans verschmitztem Lächeln, das dem Grinsen der Cheshire-Katze ähnelte.
Ich zog meinen Mantel an, nahm den Fahrstuhl zum Parterre, und lief los. Ich ging den ganzen Sveaväg entlang bis zum Wennergren Center und wieder zurück. Dann ging ich ins Kino Filmstaden und setzte mich in den erstbesten Film, der gerade anfing – ein stinklangweiliger Western mit Clint Eastwood. Nach dem Film ging ich in ein Chinarestaurant und wollte gerade das billigste Essen auf der Speisekarte, vier kleine Gerichte für 64 Kronen bestellen, als ich merkte, daß ich überhaupt keinen Hunger hatte. Ich entschuldigte mich also vielmals bei den Kellnern, faltete meine Serviette zusammen und ging wieder. Es hatte erneut angefangen zu regnen, und draußen war es völlig dunkel. Ich ging zielstrebig geradewegs zu Christos’ Wohnung, und als er die Tür öffnete und sah, daß ich es war, sagte er überhaupt nichts, sondern preßte mich nur an sich, ganz fest, und dann fanden unsere Münder sich, und wir waren wieder mittendrin.
*
Die Liebe macht einen dumm. Dumm und langweilig. Du bist nicht nur unbedacht, linkisch oder befangen und machst alles falsch, du bist einfach total unintelligent und phantasielos. Am Sonntag saß ich zu Hause und versuchte zu lernen, aber es war total unmöglich. Ich hatte nur eine Sache im Kopf: Christos. Was Christos gesagt und getan hatte. Wie seine Stimme klang. Wie er lachte. Was er dachte und träumte. Ich lächelte im Laufe einiger Stunden tausendmal glücklich vor mich hin, während ich an lauter kleine Dinge dachte, die er gesagt, getan oder angedeutet hatte. Ich konnte mich absolut nicht auf Davies und Essevelds »Qualitative Frauenforschung« konzentrieren, und ich fühlte, wie sich meine Möglichkeiten, die Prüfung in Methodik zu schaffen, im fernen Dunst verloren. Aber andererseits: Mir war die Liebe begegnet. Was konnte man jetzt also von mir verlangen?
Schließlich gab ich das Büffeln auf. Statt dessen nahm ich einen Notizblock und schrieb alles Phantastische und Wunderbare auf, was mir zu Christos nur einfiel. Dann lehnte ich mich zurück, um es durchzulesen und einfach zu genießen. Leider klang alles ziemlich pathetisch. »Christos hat ein ganz süßes Grübchen in der Wange, wenn er lächelt.« »Christos streckt im Schlaf die Arme über den Kopf und murmelt vor sich hin.« »Christos sagte, er könne vor sich sehen, wie wir zusammen in Griechenland sind, und er wisse genau, welche Orte er mir zeigen werde.« Das klang alles nur lächerlich, und in den Worten schien kein Platz für Christos’ Größe zu sein.
Ich warf den Block hin. Dann starrte ich lange Zeit einfach in die Luft. Ich hatte absolut keine Ahnung, was ich machen sollte. Christos war wieder bei seinem Job, und ich konnte ihn nicht gut im ›Hard Rock‹ aufsuchen, obwohl ich es am liebsten getan hätte. Zwischen den karierten Tischtüchern und den goldenen CDs hätte ich in die Rockmusik und den Hamburgerdunst hinein und zu Christos hingehen wollen, der gerade Bestellungen aufnahm, ihn einfach bei der Hand fassen, ins Raucherzimmer führen und mich dort auf dem Stuhl auf seinen Schoß setzen und mit dem Küssen anfangen wollen. Und danach wollte ich uns in den Kühlraum einschließen, so daß wir uns lieben konnten, immer wieder und wieder, zwischen Tomatenstiegen, Gläsern mit Salatsoße und Schlagsahnebechern. Bis es für ihn Zeit war, nach Hause zu gehen, wollte ich ihn lieben; dann konnten wir hierhergehen und weitermachen. Was sollte ich allein hier draußen anfangen, in einer Welt, deren Mittelpunkt Christos hieß, wenn Christos nicht da war? Einfach nichts.
Um sechs ging ich zum Videoverleih und holte mir zwei Filme, und auf diese Weise gelang es mir, die Zeit totzuschlagen, bis es Viertel nach zehn war. Um zwölf war Christos’ Schicht zu Ende, und dann wollte er mich anrufen. Ich wartete, wartete und wartete. Es wurde zwölf. Dann halb eins. Ihm war doch wohl nichts zugestoßen? Um eins rief ich im ›Hard Rock‹ an und erwischte gerade noch den letzten vom Personal. Nein, versicherte er, Christos war gegen Viertel vor eins nach Hause gegangen, nachdem er in der Küche mit ein paar Kollegen ein Bier getrunken hatte. Bier in der Küche? Viertel vor eins? Irgendwo in mir verspürte ich einen Stich. Wie konnte er nur? Schon fünf vor zwölf hatte ich angefangen, das Telefon nicht aus den Augen zu lassen. Wenn ich arbeiten gewesen wäre, hätte ich Punkt zwölf angerufen und zwei Minuten später ein Taxi genommen.
Jetzt war es zehn nach eins. Ich schleppte mich ins Badezimmer, wusch mir das Gesicht, zog mich aus, putzte die Zähne. Ich konnte, ich wollte ihn nicht anrufen. Er würde sehen, was er davon hatte! Ging es darum, ein Spiel zu spielen, dann, weiß Gott, war ich dabei auch nicht so schlecht. Ich überlegte, ob ich den Telefonstecker herausziehen sollte, sah aber ein, daß ich die Ungewißheit nicht ertragen würde. Also war es schon besser, den Anrufbeantworter am Netz zu lassen, die Lautstärke herunterzudrehen und dann zu versuchen zu schlafen, mit einem Kissen über dem Kopf, damit ich das Klicken nicht hören mußte. Oder das Ausbleiben des Klickens.
Ich hatte gerade mein ganzes Gesicht mit rosa Creme eingeschmiert, als es an der Tür klingelte. Es war jetzt zwanzig nach eins. Ich sauste in die Diele und blickte durch den Spion. Lächelgrübchen. Breite Lücke zwischen den Schneidezähnen. Einsame rote Rose.
Wir stürzten uns in die Arme und fingen wieder von vorn an.
*
Am Montag saß ich meine Klausur ab, mehr war es nicht. Ich stand frühzeitig auf, gab Christos, der nur verschlafen grunzte, einen Kuß auf die Wange und rüstete ihn mit meinen Ersatzschlüsseln aus. Dann ließ ich die Prüfungsroutine ablaufen, die ich mir zu eigen gemacht hatte. Ich duschte, zog bequeme Klamotten an, aß einen Teller Brei und zwei Scheiben Brot, trank starken Kaffee und nahm den 40er Bus durch den Morgendunst zur Universität.
Wie üblich wimmelte es dort draußen von Leuten, und man hatte mehr das Gefühl, es gehe um ein gesellschaftliches Ereignis als um Wissensvermittlung. Die häßlichen, weißblauen Hochhäuser ragten wie sechs klobige Finger in den heller werdenden Winterhimmel. So sollte eine Universität nicht aussehen, das war meine feste Überzeugung. Eine Universität sollte alt und ehrwürdig sein, ein bißchen gotisch im Stil, und in einer Art nachdenklicher Stille ruhen. Kluge ältere Männer und Frauen in schwarzer Kleidung sollten murmelnd miteinander konversieren, während sie zwischen den Gewölben hin- und hereilten. Die Luft sollte so voller Weisheit sein, daß man sie mit dem Messer schneiden konnte. Das einzige, was hier draußen in der Luft lag, war dicker Rauch im Gemeinschaftshaus und im Café Sexan, angereichert mit einer ständigen sozialen Angst.
Auch der Klausursaal war voller Angst. Die Leute saßen schon in den Bänken, starrten vor sich hin oder zur Decke, während sie nervös mit Stift und Radiergummi spielten. Ich selbst war absolut ruhig. Die Sache würde natürlich schiefgehen; es gab keinen Grund zur Aufregung. Ich nickte Eva zu, die ganz hinten saß und tiefe Augenringe hatte. Dann klemmte ich mich auf einen Platz, gerade als der Dozent mit den Klausurblättern hereinkam.
Als ich mein Blatt erhalten hatte, las ich die Fragen rasch durch, um zu sehen, was zu tun war. Bei der ersten Frage bestand eine Möglichkeit zu antworten. Vielleicht. Bei der zweiten auch. Die dritte war ein absolutes Mysterium. Die vierte, fünfte und sechste Frage ließen mich zweifeln, ob ich denselben Kurs wie die anderen im Saal belegt hatte.
Ich nahm meinen Stift und begann die Antworten niederzuschreiben. Für die Klausur waren drei Stunden festgelegt, also hatte ich genügend Zeit. Sorgfältig erläuterte ich die wenigen Kenntnisse, die ich besaß, um möglichst noch ein paar Extrapunkte herauszuschlagen. Als ich alles aufgeschrieben hatte, was ich wußte, und einige Wahrheiten sicherheitshalber ein paarmal wiederholt hatte, schaute ich auf die Uhr. Fünfundvierzig Minuten waren vergangen. Um mich herum schrieben die Leute, was das Zeug hielt, oder wenigstens schien es so.
Weitere zehn Minuten ging ich meine Antworten durch und zog sie ein wenig in die Länge. Dann war die Grenze erreicht, sowohl die meiner Geduld, als vermutlich auch die des Dozenten, wenn er meine Arbeit durchsah. Deshalb stand ich auf, so leise wie möglich, und schlich aus dem Saal. Drei, vier Personen starrten mir hinterher, als ich die Tür zuzog. Idiotin oder Genie, fragten sie sich vielleicht; weshalb geht sie schon? Ich lief den Korridor hinunter bis zum Kiosk im A-Haus, wo ich mir einen Schokoladenriegel kaufte, das Papier sofort mit den Zähnen aufriß und ihn zu essen begann. Noch ehe ich die Bushaltestelle erreicht hatte, war er schon alle. Die Klausur war vorbei, und ich hatte versagt. Wieder einmal.
*
Am Nachmittag ging ich zu Großmutter, um einen zweiten und letzten Besuch abzustatten. Derselbe trostlose Eingang, dieselben öden Treppen, derselbe Versuch, schon im voraus Weihnachtsfreude zu genießen. Bonjour Tristesse. Jetzt wußte ich, wo sie lag, und ging zielbewußt direkt zu Großmutter hinein.
»Hallo, Großmutter«, sagte ich und packte aus, was ich mitgebracht hatte.
Einen Joghurt mit Walderdbeergeschmack. Einen Löffel. Eine Banane. Eine Keksschokolade. Einen Roman von Ivar Lo-Johansson »Gute Nacht, Erde«, den ich selbst vor langer Zeit gelesen und gut gefunden hatte und von dem ich annahm, Großmutter würde sich vielleicht ein bißchen darin wiedererkennen – irgendwie war sie doch auf dem Land aufgewachsen oder so. Irgendwas mußte ich schließlich tun, während ich dasaß.
Großmutter sah genauso aus wie beim letzten Mal, obwohl sie jetzt ein weißes Krankenhausnachthemd mit blauem Aufdruck anhatte. Ihr Blick ruhte noch immer irgendwo draußen vor dem Fenster oder richtiger jenseits des Fensters. Ich wartete dieses Mal nicht, ob sie reagierte, sondern umfaßte ihr Gesicht und zwang sie, den Blick in meine Richtung zu lenken. Ich steckte den Löffel in den Joghurt und stopfte ihn ihr in den Mund. »Walderdbeerjoghurt«, sagte ich.
»Du gibst nicht so schnell auf, was?« sagte eine Stimme hinter mir.
Ich tat, als hörte ich nichts. Großmutters Mund stand halb offen und blieb völlig reglos. Der Löffelstiel ragte heraus. Vorsichtig schob ich den Unterkiefer nach oben und zog den Löffel wieder heraus, so daß wenigstens ein bißchen Joghurt drinblieb. Großmutter lag regungslos. Es war absolut unmöglich zu sagen, ob sie etwas bei sich behalten hatte. Ich steckte den Löffel in den Joghurt und schlug das Buch auf.
»Dann fangen wir an«, sagte ich und begann laut zu lesen.
Es war ein guter Roman. Die Handlung packte einen sofort. Man geriet mitten hinein in den traumähnlichen Wachzustand des Kindes, wo alles passieren konnte, wo die Angst davor, neben den Rand des Flickenteppichs zu treten, gleichwertig war mit der starken, unausgesprochenen Furcht im Erwachsenenalter, in den Abgrund des Todes zu stürzen. Die Geschichte fesselte mich selbst stark, und ich las ein paar Seiten, ohne an die Zeit zu denken. Als Michael sich den Älteren gegenüber im Lügen zu üben begann, machte ich eine Pause und sah Großmutter an. Sie lag noch immer reglos da, ohne jeden Ausdruck im Gesicht.
»Großmutter, willst du ein Stückchen Banane?« Ich wußte, daß sie nicht antworten würde, aber es war ein irgendwie blödes Gefühl, einen erwachsenen Menschen zum Essen zu zwingen, ohne wenigstens zuerst um Erlaubnis gefragt zu haben. Ich schälte die Banane, brach einen Brocken ab und schob ihn ihr in den Mund. »Versuch mal ein bißchen, Großmutter«, sagte ich. »Mach schon.«
Ich schlug das Buch wieder auf und las weiter. Michael log und schreckte seine Mutter auf, die müde Landarbeiterfrau, gerade als sie sich ein bißchen ausruhen oder »zurücklehnen« wollte. Als ich eine halbe Seite gelesen hatte, blickte ich auf. Das Bananenstück war Großmutter aus dem Mund gefallen. Es war mit Joghurt beschmiert. Ich steckte die Keksschokolade wieder in meine Tasche, holte tief Luft und las weiter. Ein Drittel des ersten Kapitels war nach fünf Seiten zu Ende. Jetzt konnte ich mit gutem Gewissen gehen. Das nächste Mal durfte Mutter wahrhaftig selber herkommen.
*
Unterwegs nach draußen sah ich plötzlich das Schild »Chefarzt«, und mir fiel ein, daß ich hineingehen und einer Sekretärin erzählen konnte, daß ich letzten Freitag krank war oder so was. Er selbst war garantiert nicht da. Irgendwo unterwegs. Hier eine Visite, da eine Visite. Typisch für Ärzte – jeder war der wichtigste. Die Tür zum Büro stand offen, und zu meiner Verwunderung saß er persönlich in seinem weißen Kittel auf der Schreibtischkante und las in einer Krankengeschichte. Wenn ich nur die Möglichkeit gehabt hätte, hätte ich kehrtgemacht und wäre wieder gegangen, aber er sah mich und sagte sofort: »Komm herein. Womit kann ich dienen?«
Ich ging ins Zimmer, verlegen und wütend zugleich.
»Meine Großmutter liegt hier«, sagte ich. »Ebba Ljunggren.«
»Ja, richtig«, erwiderte er. »Warst du das, die am Freitag nicht gekommen ist?«
»Tut mir wirklich leid«, sagte ich. »Ich lag mit Fieber im Bett, eine Erkältung, daher habe ich vergessen anzurufen.«
Hinter seiner Brille blitzte es.
»Ach so«, antwortete er. »Deine Mutter hat angerufen und gesagt, du kommst nicht, weil du übers Wochenende nach Mora gefahren bist.«
Sie redet so manches« murmelte ich und wurde rot.
»Ja«, sagte er. »Eine äußerst redselige Dame. Im Unterschied zu deiner Großmutter. Willst du nicht Platz nehmen?«
Ich setzte mich auf einen niedrigen, durchgesessenen Stuhl, dessen Ledersitz unter mir quietschte.
»Es ist folgendermaßen«, sagte er, »wenn es deiner Großmutter nicht bald besser geht, müssen wir sie ins Pflegeheim bringen. Hier können wir Patienten, die weder essen noch reden, nicht länger behalten. Wir haben nicht die richtigen Voraussetzungen für ihre Pflege.«
Ich starrte ihn an. »Aha«, sagte ich. »Und was kann ich da tun? Ich bin eben oben gewesen, habe sie mit Joghurt und Banane gefüttert und ihr laut vorgelesen. Das Essen fiel ihr einfach wieder aus dem Mund. Sie will einfach nicht.«
Er sah mich leicht lächelnd an. »Woraus hast du vorgelesen?«
»Ivar Lo. ›Gute Nacht, Erde‹.«
Er nickte langsam. »Weißt du, der Grund, weshalb ich jemanden aus der Familie sprechen wollte, ist der, daß ich ihre Chancen als ziemlich gering einschätze, wenn sie ins Pflegeheim kommt.«
»Als gering? Warum? Was bedeutet denn das Pflegeheim?«
Er verschränkte die Finger unter dem Kinn und sah mich an. »Pflegeheim bedeutet ungefähr dasselbe wie Dauerpflege. Wie soll ich es sagen? Das Pflegeheim wird meist eine Art letzte Station. Von dort kommt nur äußerst selten jemand wieder hierher zurück. Oder von dort nach Hause.«
Wir schauten uns ein paar Sekunden an.
»Wie sehr magst du deine Großmutter?«
»Ich habe sie in den letzten zehn Jahren nicht gerade viel gesehen.«
Er lehnte sich zurück und starrte lange Zeit an die Decke. Ich glaubte allmählich, er sei eingeschlafen, als er sich plötzlich wieder aufrichtete. »Ich möchte dir eine Sache vorschlagen«, sagte er.
»Okay«, erwiderte ich vorsichtig. »Was denn?«
Er sah mich wieder lange und prüfend an. »Ich schicke deine Großmutter nicht vor, sagen wir, einem Monat ins Pflegeheim, falls es nötig ist. Dafür versprichst du, jeden Tag eine Stunde herzukommen, ihr vorzulesen oder mit ihr zu reden.«
Ich starrte ihn an. War er noch zu retten?
»Eine Stunde pro Tag?«
Er nickte. »Das ist nicht gerade viel, wenn man bedenkt, daß sie die übrigen dreiundzwanzig Stunden allein daliegt und aus dem Fenster starrt.«
Ich blickte zu Boden. Mein Herz schlug heftig. Würde ich tatsächlich eine Stunde pro Tag mit diesem lebendigen Leichnam dasitzen müssen? Gleichzeitig fühlte ich, wie sich mein schlechtes Gewissen bemerkbar machte. Er mußte es gespürt haben, denn genau dort hakte er ein.
»Meinst du nicht, daß deine Großmutter dir eine Stunde pro Tag geopfert hätte, wenn du es gebraucht hättest?« fragte er vorsichtig.
Großmutter. Ihre roten Wangen und leuchtenden Augen, ihre mehligen Hände. Das Tor zum Garten des Hauses, das immer halboffen stand. Man durfte daran schaukeln. Die Katze Strimlan lag im Gras und sonnte sich. Kitzelte man ihr den Bauch, rollte sie herum und streckte die schneeweißen Pfoten in die Luft. Großmutters gestreifte Schürze, die man beim Backen umbinden durfte, sie war wie ein langes Kleid. Die zerfledderten Märchenbücher aus Papas Kindheit, aus denen sie vorlas, wenn es dämmerte, Mama noch nicht wiedergekommen war und man ein bißchen müde und quengelig wurde. Dann bekam man eine Schnecke und ein Glas Milch und saß beim Vorlesen auf Großmutters Schoß. Bekleckerte man sie mit Milch, machte das nichts. Wenn Mama kam, wollte man nicht nach Hause. Und dann der Spielzeugschrank, mit Spielsachen von Großvaters Kindheit bis in unsere Tage. Den durfte man nur aufmachen, wenn Großmutter dabei war, aber sie nahm gern das eine oder andere heraus, zeigte es und zog die Spieldosen auf.
Ich seufzte tief.
»Und was soll das für einen Sinn haben?« fragte ich gereizt. »Sie hört ja doch nicht, was ich sage.«
»Wenn du das glaubst, warum hast du dann heute das Buch mitgebracht?«
Ich starrte ihn an. Er lächelte, aber seine Augen hinter der Brille blickten ernst.
»Na okay«, sagte ich schließlich. »Aber nur einen Monat. Danach ist das nicht mehr mein Problem.«
Wieder lächelte er. »Es ist auch jetzt nicht dein Problem«, sagte er. »Es ist ihr Problem. Und unseres. Ein Problem der Gesellschaft.«
»Aber ich bin es offensichtlich, die das in Ordnung zu bringen hat«, sagte ich wütend. Ich nahm meine Tasche und stand auf. Er streckte mir seine Hand hin.
»Dann sind wir uns also einig?«
»Sind wir wohl«, erwiderte ich.
Als ich das Gebäude verlassen hatte, blieb ich stehen und holte tief Luft. Worauf hatte ich mich da eingelassen? Jeden Tag eine Stunde, und das einen ganzen Monat lang! Das bedeutete, fast bis Weihnachten.
Wie hatte er mich nur dazu gebracht? Ich lief los. Halb um das Haus herum, blickte ich an der Fassade hoch. Dort, vermutlich in dieser Reihe, war das Fenster, aus dem Großmutter schaute. Sie sah mich jetzt sicher nicht, aber dennoch. Dort drinnen lag sie, halbverfaulend in stummem Protest, voller Gase, Exkremente und den physischen Problemen einer alten Frau, an die ich nicht denken wollte und die durch ihre Weigerung zu essen kaum besser wurden. Von dort aus war es ihr gelungen, mich in ihrem verdammten Netz einzufangen, mich zu manipulieren. Wütend blickte ich zum Fenster hoch und ging dann weiter. Weg von Großmutter. Nach Hause zurück. Zurück zu Christos und seiner warmen Umarmung. Zurück zum Leben. Warum war ich so böse auf Großmutter? Sie hatte niemals versucht, mich oder einen anderen, den ich kannte, zu manipulieren, nicht so lange sie gesund und munter war. Woher kam diese Wut? Ich konnte sie mir nicht erklären, ich fühlte nur, daß sie stark und mächtig war. Ich war stinkwütend. Einen ganzen Monat war ich jetzt bei dieser Alten da oben angebunden.