Читать книгу Und eines Tages öffnet sich die Tür - Louise Boije af Gennäs - Страница 6

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Der nächste Tag war ein Mittwoch, und ich sollte eigentlich zwischen zehn und achtzehn Uhr im Ica-Laden sein, aber ich hatte mit Lotta getauscht, um lernen zu können. Wir hatten am Montag Prüfung in Angewandter Methodik, das hieß also, es ging um das ganze Fach, und ich saß den ganzen Morgen wie festgenagelt vor den Büchern, Datenblättern und Gruppenuntersuchungen an meinem Schreibtisch. Dann am Nachmittag war ich gezwungen, in die Geriatrische Klinik von Sabbatsberg zu gehen, um Großmutter einen Besuch abzustatten. Der Schneematsch war fast weggetaut, aber es wehte ein ziemlich scharfer Wind, der Regen ankündigte. Mit recht gemischten Gefühlen kämpfte ich mich im Gegenwind über das Krankenhausgelände, folgte den Schildern, die zur Geriatrie wiesen. Ich hatte in den vergangenen acht, neun Jahren nicht gerade oft an Großmutter gedacht.

Als ich klein war, hatten wir uns ziemlich häufig gesehen, denn da wohnte Großmutter in einem Häuschen in Äppelviken, und Mama pflegte meinen Bruder und mich dort abzusetzen, wenn sie etwas zu erledigen hatte. Ich erinnerte mich an lange, träge Tage bei Großmutter, in denen die Zeit anders war, irgendwie stiller als zu Hause, und in denen man unter ihrer geduldigen Aufsicht in der Küche Sirupbonbons kochen durfte, ohne daß es viel ausmachte, wenn man kleckerte und schmierte. Großmutter hatte Zeit. Sie lebte irgendwie mitten in der Zeit, so daß diese stillzustehen schien, wenn man sich bei ihr befand, und doch flog sie offenbar dahin, denn plötzlich war Mama wieder da, und es hieß schnell, schnell, und man sollte los, und wo hatte man seinen einen Schuh gelassen und die Schultasche, und Ebba möge entschuldigen, aber wir müssen wirklich los ... Großmutter protestierte nie, sie lächelte Mama nur freundlich an und nickte voller Verständnis, und dann schaute sie dich mit ihren klugen Großmutteraugen an, und man wußte, sie wußte es, daß man selbst es wußte, daß sie mitten in der Zeit lebte und daß es okay war, wenn man ein anderes Mal wiederkam, um mit ihr in dieser Zeit zu leben.

Dann wurden wir älter, schließlich Teenager und verloren jedes Interesse an Großmutter, und Mama brauchte uns nie mehr irgendwo abzusetzen, denn wir konnten allein überallhin gehen. Und dann kam es zum Zerwürfnis zwischen Papa und seinem Bruder, und Großmutter nahm irgendwie Partei für Onkel Anders, oder jedenfalls glaubte Papa das, und mehrere Jahre lang besuchte keiner von uns weder Onkel Anders und seine Familie noch Großmutter. Und dann war Großmutter plötzlich alt und in eine Wohnung mitten in der Stadt gezogen, und Papa vertrug sich mit Onkel Anders oder jedenfalls einigermaßen, und wir redeten ab und zu davon, Großmutter besuchen zu müssen, aber es kam immer so viel anderes dazwischen. Großmutter hatte immer Zeit, das wußten wir ja, und darum war das mit Großmutter nicht so wichtig; sie konnte warten, bis auch wir etwas Zeit finden würden, wir, die wir immer so beschäftigt waren. Mama machte einen Besuch, und Papa fuhr auch irgendwann mal hin, und jedesmal schien damit das gemeinsame schlechte Gewissen der Familie erleichtert zu sein, so daß man für mehrere Wochen überhaupt keinen Gedanken daran verschwenden mußte. Und die Eltern lagen uns Kindern ein bißchen in den Ohren, sagten, ihr begreift ja wohl, daß Großmutter ihre Enkel sehen will, aber jedesmal, wenn Mama das sagte, entgegnete Papa, er finde, Onkel Anders’ Familie könne sich auch mal um sie kümmern, und jedesmal, wenn Papa das sagte, entgegnete Mama, sie hätte die Male, wo sie Großmutter besucht habe, auch nicht gerade bemerkt, daß sich Onkel Anders’ Kinder dort drängelten. Und wir sagten gar nichts, sondern pflichteten dem vorhergehenden Redner nur still bei, das war ja wirklich das Letzte, daß unsere Cousins und Cousinen so wenig für Großmutter übrig hatten, schlürften unsere Suppe oder kauten schweigend unsere Blutpastete, und dann wechselte jemand das Gesprächsthema, und die Sache war wieder aus der Welt. Aus der Welt.

Aber jetzt hatte Mutter angerufen, und als ich am Dienstagabend zurückrief, machte sie mir klar, daß es nun an mir sei, die Sache zu übernehmen. Sie habe es satt, immer für alle anderen einspringen zu müssen, sagte sie, deutlich an Vater gerichtet, der im Hintergrund saß und Nachrichten schaute. Und ich sagte, sicher könne ich Großmutter besuchen. Ich dachte, das sei eine ziemlich einfache Angelegenheit, erledigt in höchstens vierzig Minuten, und ich konnte ja ein Bund Bananen mitnehmen und eine Illustrierte mit einem Kreuzworträtsel, denn das hatte sie immer gern gemocht. Und bald würde sie sicher wieder gesund und zurück in ihrer Wohnung sein, und dann brauchte ich mir nicht länger den Kopf zu zerbrechen.

Großmutter war nach Sabbatsberg gekommen, weil jemand von ihren Nachbarn Alarm geschlagen hatte. Post und immer mehr Zeitungen hatten aus Großmutters Briefkasten geragt, und das, obwohl sie doch wußten, daß Großmutter zu Hause war – schließlich war sie das immer. Großmutter wohnte nicht sehr weit von mir entfernt, in der Kungstensgata, in einem alten Mehrfamilienhaus, von dem Vater behauptete, es sei überhaupt vollgepfropft mit Senioren. Laut Vater, wenn er in der entsprechenden Stimmung war, lebten wir alle wie Bienen im Korb, jeder in seinem eigenen kleinen Bereich, trotzdem aber als Teil eines großen Ganzen. Das sei ein ausgezeichnetes Beispiel für den sozialdemokratischen Zeitgeist und seine großartigen Projekte, sagte er, vor allem, um Mutter zu ärgern, die bei der Landesorganisation der Gewerkschaft angestellt war. Drohnen rechts, Weibchen links, sagte Papa. Kinder in die Kita, Alte in die Seniorenwohnung oder ins Heim, und dann keinen Kontakt zwischen den Gruppen.

Vermutlich war es Großmutters Glück, daß die Krise sie gerade in diesem Haus erwischt hatte, in dem die Senioren sich heimlich beäugten. Wer weiß, wie lange sie sonst in ihrem Schaukelstuhl gesessen hätte. Vermutlich sechs, sieben Monate lang, und man mußte ja dankbar sein, daß sie so viel Geschmack besessen hatte, sich nicht auf den Balkon zu setzen, wie es irgendeine selbstsüchtige, halbtote Alte vor ein paar Jahren getan hatte. Man hatte sie erst gefunden, als Leichenwürmer in die Blumenkästen des Nachbarn krochen und dicke Spinnennetze über den leeren Augenhöhlen der Toten gelegen hatten. Großmutter fand man jedoch noch immer ganz lebendig in ihrem Schaukelstuhl sitzen. Der Hausmeister hatte ein paar Sanitäter mit dem Schlüssel in die Wohnung geschickt, und als sie Großmutter gefunden hatten, maßen und wogen sie die Kranke und stellten fest, daß sie an Austrocknung litt und eine Zeitlang im Krankenhaus behandelt werden müßte. Austrocknung, so lautete die Diagnose. Daß Großmutter nicht reden wollte, darüber stand kein Wort im Bericht. Einige Tage oder vielleicht Wochen in Sabbatsberg würden alles in Ordnung bringen, und danach konnte man Großmutter nach Hause in ihre Wohnung entlassen, frischgewässert und wieder aufgeblüht wie eine beschnittene Rose.

Großmutter hatte vier Wochen in Sabbatsberg gelegen, ohne einen einzigen Ton von sich zu geben. Anfangs hatte sie ein wenig gegessen, und sie hatte am Tropf gehangen, aber jetzt war es auch mit dem Appetit vorbei. Schließlich hatte der Chefarzt Mutter angerufen und gesagt, jemand aus der Familie müsse etwas tun. Nicht einen einzigen Besuch hatte Großmutter bekommen, seit sie eingeliefert worden war. Und jetzt, das konnte Mutter der Stimme des Chefarztes entnehmen, war das Personal schon leicht irritiert. Über wen und weshalb ging nicht daraus hervor. Jedenfalls sei es nun an der Zeit, daß ich hinging.

Der November in Schweden ist ein scheußlicher Monat. Die Bäume sehen so nackt aus, fast desperat, wenn sie ihre Zweige zum Himmel recken, der sich niemals öffnet, der sich nicht einmal zu erinnern scheint, was Sonnenschein ist oder wie dieses massive Grau jemals hatte durchbrochen werden können. In meinen dunkleren Stunden erinnerte mich der November an meine eigene Seele, oder wie ich meine innere Landschaft nun nennen wollte. Er war genauso karg, düster und trostlos.

Auf dem Krankenhausgelände von Sabbatsberg biß mir der scharfe Wind ins Gesicht. Hier und da leuchteten warme gelbe Lampen in den Fenstern, und ich stellte mir vor, daß es vielleicht gar nicht so schlecht war, im Krankenhaus zu liegen. Eine kurze Zeit der krassen Wirklichkeit hier draußen zu entfliehen und sich umsorgen zu lassen. Man konnte irgendwas Einfaches haben, ein gebrochenes Bein zum Beispiel, so daß man noch immer essen, trinken, Bücher lesen und fernsehen konnte, ohne daß irgend jemand mit Forderungen an dich herantrat, zum Beispiel, daß du um die und die Zeit im Ica-Laden oder draußen in der Universität zu irgendeinem Seminar erscheinen möchtest. Man würde es da drinnen sicher ganz nett haben, mit einer kleinen gelben Leselampe am Bett und reizenden Schwestern, die einem ein Glas Saft brachten und Fieber maßen. Flotte Ärzte in weißen Kitteln würden zur Visite erscheinen und flüsternde Gespräche über die junge Frau mit dem komplizierten Beinbruch führen.

Ich hatte die Geriatrie fast erreicht und mußte mich konzentrieren, um die richtige Station zu finden. Dritte Etage, hatte Mutter gesagt. Frage die Schwestern nach Frau Ljunggren. Ich zog die schwere Außentür auf und ging suchend weiter. Drei Treppen. Noch eine schwere Glastür, und ich stand vor der Station. Geriatrie. Was für ein Name. Hier handelte es sich doch schließlich ums Altwerden und damit zusammenhängende Beschwerden. Geriatrie, das klang nach Experimenten mit Ratten. Man mußte an lange Käfigreihen voller großer Nager denken, mit nackten Schädeln und rosaschuppigen Schwänzen, die frustriert am Metallgitter kratzten, wenn man vorbeiging. Hin und wieder eine Injektion, gefolgt von einem vollständig hysterischen Kreiseln im Käfig, bis sie ihre Krallen in die Luft streckten. Auch diesmal nicht das Richtige, Herr Professor. Geriatrie. Das klang jedenfalls nicht nach der Betreuung alter Leute.

Die Tür ließ sich nicht öffnen. Ich zerrte und zog, aber nichts half. Auf der anderen Seite des Glases sah ich einen glatzköpfigen älteren Mann im Rollstuhl vorbeifahren, seine Augen hatten einen verwirrten Ausdruck. Schließlich bemerkte ich, daß ganz oben am Türrahmen ein Sicherheitshebel angebracht war. Man sollte die Türen hier nicht ohne weiteres öffnen können, das war deutlich. Wegen der senilen Alten, vermutlich. Dennoch hatte ich ein unangenehmes Gefühl, als ich die Station schließlich betrat.

Zwei junge Schwestern gingen mit raschen Schritten an mir vorüber, völlig mit Lachen und Reden beschäftigt. Ich unterbrach sie und fragte nach Großmutter. Die eine wußte nicht, wo sie lag, doch die andere konnte mir den Weg weisen. Den Korridor links hinunter, vierte Tür rechts, Zimmer vier. Ich bedankte mich, und sie gingen weiter. Ich blieb erst einmal stehen, sog die Witterung ein wie ein Hund. Es roch merkwürdig; irgendwie war es ein Gemisch aus Küchendünsten und dem Geruch unmoderner Arztpraxen. Hier draußen in dem, was vermutlich eine Art Diele oder zumindest ein Verbindungsraum zwischen zwei Korridoren sein sollte, hingen Plakate und einige Kinderzeichnungen an den Wänden. Vor mir befand sich ein altmodisch möblierter Aufenthaltsraum mit einem Klavier und Polstergarnituren. Ein einsamer, allzu früh aufgestellter Adventskerzenständer leuchtete im Fenster. Ein alter Mann saß auf einem Stuhl, den Rücken zum Leuchter, und sah fern. Seine Lippen bewegten sich tonlos, sonst blieb sein Gesicht ausdruckslos vor den sich verändernden Bildern. Der Widerschein des Fernsehapparates lag auf seinem Gesicht, und es schillerte abwechselnd in Blau, Grün, Rot oder gleichzeitig in verschiedenen Farben. Es sah absurd aus. Ich machte rasch auf dem Absatz kehrt und ging den Korridor linker Hand hinunter.

Großmutter lag mit drei anderen Frauen zusammen im Zimmer. Ich sah erst all die anderen, ehe ich Großmutter entdeckte, die ganz hinten links am Fenster lag. In der vorderen rechten Ecke lag ein dickes Weib mit einer Nachthaube. Sie strickte und blickte mit mürrischem Blick zu mir auf. Das Knäuel war auf den Fußboden gerollt, doch ich hob es nicht auf – weshalb, wußte ich nicht. Ihr gegenüber saß halbaufgerichtet eine dunkelhaarige Frau mit einer Nierenschale neben sich. Ihr Atem ging flach und rasselnd und kam nur stoßweise. Ich ging ein paar Schritte ins Zimmer hinein. Rechts hinten am Fenster lag eine magere Frau mit ängstlichen Augen. Sie lächelte mir unbeholfen zu und flüsterte »Guten Tag«. Ich lächelte matt und nickte ihr zu. Und dann sah ich Großmutter.

Sie lag ganz hinten in der Ecke, und ihre Lampe brannte als einzige nicht. Sie war auch die einzige im Zimmer, die mich nicht ansah. Ihr Blick war aus dem Fenster gerichtet, hinter dem der Himmel immer dunkler wurde und die schwarzen Zweige der Bäume sich im Wind bewegten. Großmutter trug eins ihrer alten Nachthemden, an das ich mich von früher her erinnerte. Es hatte schmale blaßrosa Seidenbänder um Arme und Hals, und es duftete nach Lavendel von den kleinen Säckchen, die sie zwischen ihre Sachen zu legen pflegte. Diese Säckchen stellte sie selbst her, sie hatte mir gezeigt, wie man Lavendelblüten trocknete und kleine Stofftaschen mit Zugsaum nähte, die man dann füllte. Mama rümpfte die Nase dazu und sagte, es nähme viel zu viel Zeit in Anspruch und sei eine altmodische Sitte, die in einem gutfunktionierenden modernen Haushalt nichts zu suchen habe. »Wenn du gut riechen willst, kannst du Parfüm benutzen«, sagte sie, als ich vorschlug, auch Lavendelblüten zu trocknen und kleine Säckchen mit Zugsaum zu nähen. »Großmutter hat nichts anderes zu tun«, sagte sie dann. »Deshalb kann sie sich mit so was abgeben.« Aber ich glaubte ihr nicht. Ich ahnte, daß sich Großmutter immer mit solchen Dingen beschäftigt hatte, und daß auch damals kleine Säckchen mit Lavendel in ihrem Schrank gelegen hatten, als sie alle Hände voll zu tun gehabt hatte mit ihren Kindern, ihrer Arbeit und ihrem eigensinnigen Mann.

Als erstes sah ich, daß ihr Nachthemd nicht sauber war. Irgendeine Soße war ihr auf der linken Seite ins Halsbündchen gelaufen, und das Hemd war eindeutig schmutzig. Es war so ganz untypisch für Großmutter, nicht blitzsauber zu sein, daß ich fast zusammenzuckte. Vielleicht ging mir erst in diesem Augenblick auf, daß mit ihr nicht alles zum Besten stand und es vielleicht nicht genügen würde, sie neu zu beschneiden, mit Flüssigkeit zu füllen und wieder nach Hause zu schicken, damit die Dinge ihren alten Gang nehmen konnten.

Dann sah ich Großmutter selbst, wenn auch nur undeutlich. Schockiert begriff ich, daß Großmutter, meine Großmutter, die Großmutter, die ich in meiner Kindheit besucht hatte, nicht mehr da war. Meine Großmutter war eine muntere ältere Dame mit wachen Augen und etwas rundlicher Figur, immer hübsch und ziemlich gutgekleidet für eine Frau mit relativ geringer Rente. Die Person vor mir war nicht sie. Das war eine ausgemergelte Frau mit tiefen Falten um Augen und Mund, hängenden Hautlappen unter dem Kinn, mit glanzlosen Augen und leerem Blick. Ein Schlauch lief von einer Tropfvorrichtung direkt in ihre Armbeuge. Ihre Hände, die auf der Bettdecke ruhten, sahen gräßlich aus. Die blaufarbenen Adern hoben sich neben den deutlich sichtbaren Knochen scharf ab. Die Nägel waren gelblich und lang, standen von den Fingerkuppen ab, als wenn sie sehr lange nicht geschnitten worden waren. Blau – gelb, fuhr es mir durch den Kopf. Die schwedischen Farben. Dann ging ich ein paar Schritte auf das Bett zu und versuchte zu lächeln.

»Großmutter!« sagte ich. »Hallo Großmutter!«

Großmutter rührte keine Miene. Sie wandte mir nicht einmal den Blick zu. Starrte nur immer weiter aus dem Fenster, als wäre ich überhaupt nicht vorhanden. Ich merkte, daß ich Angst bekam. Es war, als sei Großmutter tot, und doch konnte ich sehen, daß sie lebte. Sie atmete, aber trotzdem war sie wie tot. Ich riß mich zusammen, legte vorsichtig meine Hand auf ihre abgewandte Wange und drehte mir ihr Gesicht zu. Mich schauderte innerlich bei der Berührung – ich hatte keine Lust, diese lebendige Leiche anzufassen. Großmutters Haut war weich und glatt, trotz der Runzeln. Ihr Blick blieb an den Bäumen hängen, bis es ihr unmöglich war, sie noch länger zu sehen. Dann erst wandte sie mir den Blick zu. Das Gefühl des Unbehagens verstärkte sich. Es war, als sehe sie mich, aber blicke dennoch direkt durch mich hindurch. Die Augen hatten keinen Glanz, waren wie tot. Dennoch wußte ich, daß sie lebte, und ich sah, daß sie sah. Sie sah mich und zog es vor, direkt durch mich hindurchzusehen, mich auszulöschen, als gäbe es mich nicht.

»Großmutter«, sagte ich mit gespielter Fröhlichkeit. »Ich bin Maja! Ich bin es, Großmutter!«

Die Sekunden vergingen. Großmutter sah durch mich hindurch und antwortete nicht. Doch von der dunkelhaarigen Frau in der Ecke kam ein Röcheln, das zur Hälfte ein Schnaufen war. Dann spuckte sie geräuschvoll in ihren Spucknapf.

»Sie redet nicht«, sagte sie. »Es hat keinen Sinn.«

Mein Herz hämmerte wie wild, aus Angst und Wut. Ohne daß ich mich umgedreht hatte, wußte ich, daß alle drei Augenpaare auf mich gerichtet waren. Ich gab hier die Unterhaltung ab, und sie alle saßen in der ersten Reihe. Ohne die rechte Hand von Großmutters Gesicht zu nehmen, bosselte ich mit der linken die Papiertüte auf und hielt Großmutter das Bananenbund hin.

»Guck mal, Großmutter«, sagte ich. »Bananen! Dein Lieblingsobst!« Großmutter reagierte überhaupt nicht. Hinter mir hörte ich ein Röcheln, das wie ein gehässiges Lachen klang. Jetzt war es die Dicke mit dem Strickzeug, die ihre Stimme erhob.

»Sie ißt nichts. Du siehst doch, daß sie am Tropf hängt.«

Ich wehrte mich. Mußte man in diesem verdammten Krankenhaus das Zimmer denn unbedingt mit einer Menge anderer Weiber teilen? Warum durfte Großmutter nicht in einem Einzelzimmer liegen, so daß man wenigstens in Ruhe bei ihr sitzen konnte. In der nächsten Sekunde verspürte ich nur Dankbarkeit. Mit dieser lebendigen Leiche allein im Zimmer zu sitzen war im Augenblick das letzte, was ich mir vorstellen konnte. Ich ließ Großmutters Gesicht los, das merkwürdigerweise in derselben Stellung verblieb, und nahm eine Illustrierte aus meiner Tasche.

»Hier ist was zu lesen, Großmutter!« sagte ich wieder mit genauso fröhlicher Stimme. »Es sind eine Menge Kreuzworträtsel drin, die hast du doch so gern.«

Großmutter antwortete nicht. Sie verriet mit keiner Miene, ob sie meine Worte gehört hatte oder ob sie sich meiner Anwesenheit überhaupt bewußt war. Doch ihr Brustkorb bewegte sich unverdrossen auf und ab, auf und ab. Ihren Atem konnte sie nicht kontrollieren. Über Leben und Tod hatte sie trotz allem keine Kontrolle. Hinter mir erhob die feiste Frau wieder ihre Stimme.

»Du bist vielleicht eine Optimistin«, sagte sie.

Ich starrte Großmutter mit wachsendem Widerwillen an, ohne mich zu der Person umzudrehen, die gesprochen hatte. Großmutters stumpfer schwachsinniger Blick in dem alt gewordenen Greisinnengesicht ruhte auf mir, in mir oder vielmehr auf einem Punkt weit hinter mir, als sei ich unsichtbar oder durchsichtig. Ihre Nägel auf dem weißen Bettzeug leuchteten gelb. Der Brustkorb bewegte sich beharrlich auf und ab, mager wie der eines ausgemergelten Vogels, als hätte er sich entschlossen, lieber seinen Besitzer zu Tode zu quälen als selbst zu sterben. An ihrem Kinn stach ein einsames weißes Haar hervor.

Die Alte hatte einen Bart bekommen!

Wut stieg in mir auf, durchlief in Wellen meinen Körper und erfüllte mich mit Ekel. Ich starrte noch ein paar Sekunden auf Großmutters Gesicht. Dann knüllte ich meine Tüte zusammen, nahm meine Tasche und stand auf.

»Mach’s gut, Großmutter«, sagte ich ziemlich hart. »Komm wieder auf die Beine, ja.«

Dann verließ ich, hochaufgerichtet und ohne die drei anderen eines Blickes zu würdigen, das Zimmer, ging den Korridor hinunter, ließ die Glastür mit ihrer verhaßten Senilitätssperre hinter mir, stieg die Treppe hinunter und ging wieder in den Novembermatsch hinaus.

Es war das erste Mal seit acht Jahren, daß ich Großmutter gesehen hatte.

Der ganze Besuch hatte nur zehn Minuten gedauert.

*

Zu Hause angekommen, rief ich Mutter an und berichtete, daß ich bei Großmutter gewesen war. Ich erreichte sie auf der Arbeit. Wie üblich saß sie mitten in einer Sitzung und hatte keine Zeit, mit mir zu sprechen.

»Ist schön«, sagte sie nur. »Und wie steht es mit ihr?«

»Na ja«, sagte ich. »Es scheint ihr nicht besonders gut zu gehen. Sie redet nicht und ißt überhaupt nichts mehr.«

Mutter stöhnte leise. Einen Moment darauf begann sie mit jemandem in ihrer Nähe über unvollständige Berichte zu reden, und ich konnte nicht feststellen, ob sie über Großmutter gestöhnt hatte oder über diese Berichte. Schließlich sprach sie wieder mit mir.

»Wie du hörst, habe ich jetzt ein bißchen viel um die Ohren«, sagte sie. »Glaubst du, du kannst noch mal hingehen? Ich meine, einer von uns muß sich ja um sie kümmern.« Ich fluchte innerlich. Ich hatte nicht die geringste Lust, Großmutter noch einmal zu besuchen.

»Sicher«, sagte ich. »Aber sie muß ein paar Tage warten, im Augenblick habe ich keine Zeit.«

»Danke, Schatz«, sagte Mutter. »Bis bald. Küßchen.« Noch ehe sie den Hörer aufgelegt hatte, hörte ich sie schon mit jemandem im Hintergrund reden.

Ich wollte nicht noch einmal zu Großmutter gehen, unter keinen Umständen. Ich war aus verschiedenen Gründen wütend auf sie. Erstens hatte sie die Erinnerung an meine Großmutter kaputtgemacht, an die nette alte Dame mit den Apfelbäckchen in dem kleinen Haus, und das gedachte ich ihr fürs erste nicht zu verzeihen. Es war eins der wenigen glücklichen Bilder gewesen, die ich von meiner Kindheit hatte. Außerdem zwang sie mich, dauernd ins Krankenhaus zu rennen, was ich grundsätzlich nicht ausstehen konnte. Ich hatte einen Horror vor Krankenhäusern; ich mochte den Geruch nicht, auch das Gefühl nicht, das einen dort überfiel. Es roch nach hinausgezögertem Tod; das ganze Krankenhausmilieu war eine einzige große Erinnerung an das, was kommen würde, was man aber jetzt noch eine Zeitlang hinauszuschieben versuchte. Um den Tod ging es. Den Tod, den Befreier. Den Tod, die Einsamkeit. Den Tod, die große Ungewißheit. Das Ende.

Außerdem hatte Großmutter mich vor drei wildfremden Weibern blamiert und mich als komplette Idiotin dastehen lassen, mit meinen Bananen und meiner lächerlichen Illustrierten. Es war, als läge sie einfach nur da, in eine Art Hochmut gebettet, und ich sei der lächerliche Clown, der Faxen und Kunststücke zu machen hatte, damit ihr Hof sich amüsierte. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal so wütend gewesen war oder mich so gekränkt gefühlt hatte. Ich war ganz einfach stinksauer, unheimlich wütend über Großmutters verdammte Zicken und Flausen. Iß, Alte, und rede! Oder stirb wenigstens wie eine normale Großmutter! Zum Teufel, gib den Geist auf! Lieg nicht so elend da, wie eine Art konzentriertes schlechtes Gewissen von uns allen! Verdammte Egoistin!

Natürlich sagte ich Mutter nichts davon, vor allem weil ich mich meiner Gefühle schämte. Statt dessen beschloß ich, nächste Woche zu Großmutter zu gehen, vielleicht diesmal mit einem Joghurt, den ich ihr einflößen und mit einem Buch, aus dem ich laut vorlesen konnte. Wollte sie nicht essen, konnte sie es ja bleibenlassen. Und wenn sie nicht hörte, was ich vorlas, dann war es auch scheißegal. Jedenfalls hatte ich was zu tun in den dreißig Minuten, die ich diesmal bleiben wollte, aber keinen Augenblick länger. Bis dahin wollte ich nicht über Großmutter nachgrübeln. Bis dahin wollte ich es mir ein bißchen schön machen.

Am Abend rief ich Eva an, die mit mir denselben Grundkurs in Soziologie belegte und die keine Fete ausließ. Ich fragte sie, ob sie Lust habe, ein bißchen mit mir rumzuziehen, trotz der bevorstehenden Prüfung. Das hatte sie; schließlich habe man ja noch das ganze Wochenende zum Pauken, sagte sie. Wir fingen bei mir zu Hause an, tranken ein bißchen Sherry aus einer alten Flasche, die ich von meinem Vater bekommen hatte. Wir tranken aus Eierbechern, während wir uns in meinem kleinen Badezimmer zurechtmachten, und wir rauchten beide Evas Zigaretten, trugen dick Eyeliner auf und redeten von Männern. Eva hatte neulich mit ihrem Freund Schluß gemacht und wollte einen neuen kennenlernen, und ich selbst hatte über zwei Jahre keine Beziehung gehabt.

Ich fand, im Herbst, wenn es auf Weihnachten zuging, fühlte man sich noch einsamer. Weihnachten war für niemanden ein schönes Fest, besonders dann nicht, wenn man keine riesengroße Familie besaß, nicht auf dem Land wohnte und keine Mutter hatte, die Zimtschnecken buk und die ganze Zeit herum wirbelte. Eine solche Mutter hatte ich nicht, und unser Weihnachten war mit den Jahren eine immer kürzere und langweiligere Angelegenheit geworden, wo die Familie nur etwa vom Donald-Duck-Film an versammelt war, zu dem wir Glühwein tranken, bis nach dem Essen, wo sich alle nach der Verteilung der Geschenke schon wieder auf den Heimweg machten. Sicher wäre es schön, jemanden kennenzulernen, besonders jetzt vor Weihnachten, aber ich machte mir da keine Hoffnungen. Es würde ja doch nur wieder in die Brüche gehen.

Eva und ich nahmen guten Mutes und mit frischgepuderten Wangen den Bus ins Zentrum. Aber je weiter der Abend voranschritt, desto mehr sank unser Mut, unsere Nasen glänzten immer heftiger, und als wir irgendwann gegen zwei im Taxi nach Hause fuhren, war ich gründlich deprimiert. Wieder einer von einer langen Reihe von Abenden in lauten, vollgestopften Bars mit einer Menge selbstgefälliger Kerle, manche im Anzug, andere in Lederjacke, ohne daß auch nur einer von ihnen das geringste Interesse zeigte.

Eva fuhr mit dem Taxi weiter, und ich stieg die Treppe zu meiner Wohnung hoch. Wie immer schepperte der Briefschlitz in der Tür, die hinter mir zuschlug, und es spielte überhaupt keine Rolle, ob ich mir literweise Eyeliner ins Gesicht geschmiert hatte oder nicht. Die Wohnung, in die ich kam, war jedenfalls genauso still und einsam. Ein kalter Mond breitete sein Licht über meinen Fußboden, ließ den Spültisch glänzen, und da standen nur ein Teller, ein Glas und etwas Besteck in der Geschirrablage. Und als ich die Schminke abgewaschen und die Sachen über eine Stuhllehne gehängt hatte, außer dem Jackett, das ich vor das Fenster hängte, um den Zigarettenrauch auszulüften, und nachdem ich die Zähne geputzt, die Haare gekämmt, ein paar Mitesser ausgedrückt, mich mit Gesichtswasser gereinigt, gecremt und das Nachthemd angezogen hatte, dann ins Bett gekrochen war und schließlich die Lampe ausgemacht hatte, als da nur noch ich, der Mondschein, das grüne Leuchten des Aquariums hinten in der Ecke und meine Möbel waren, die im Halbdunkel merkwürdig verkrüppelt aussahen, da dachte ich doch an sie. Da, verdammt noch mal, dachte ich an Großmutter.

Und eines Tages öffnet sich die Tür

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