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Prolog

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Wir können den Jungen nur bemitleiden, der nie ein Gewehr abgefeuert hat. Er ist nicht menschlicher als andere, doch seine Erziehung wurde leider vernachlässigt.

Henry David Thoreau

Mein erster Abschuss ist eine Katastrophe. Entweder das, oder die Geisterwelt der Tiere will mir eine Lektion erteilen. Dabei hat alles so gut angefangen, heute, an einem wunderschönen Sommernachmittag, einen Tag vor meinem Geburtstag.

Ich habe beschlossen, ein Jahr lang nur Tiere zu essen, die ich selbst getötet habe. Als Umweltjournalistin weiß ich nur zu gut, welche Auswirkungen die Massentierhaltung auf unseren Planeten hat und dass ich weniger Fleisch essen sollte. Aber jedes Mal, wenn ich versucht habe, Vegetarierin zu werden, wurde mir Fleisch aus einem Wildgehege oder von einem Bauern aus der Region angeboten. Als Tochter eines Landwirts habe ich kein Problem mit Fleisch dieser Herkunft. Ich wollte auch nicht eine dieser nervigen Personen werden, die bei Partys auftauchen und nichts essen, bevor sie eine Reihe inquisitorischer Fragen gestellt haben. Die einzige logische Konsequenz schien mir zu sein, nur noch selbst getötete Tiere zu essen. Kaum hatte ich die Idee – noch halb im Scherz – ausgesprochen, merkte ich, dass ich damit einen Nerv getroffen hatte. Meine Freunde und Kollegen waren fasziniert. Sie hatten keine Ahnung, wie Tiere getötet oder verarbeitet werden. Wie mochte es sich anfühlen, ein Tier zu töten? Wie fand man es? Wie schlachtete man es? Sie waren hungrig – hungrig nach einer Beziehung zu dem Fleisch, das sie aßen, und zur Natur im Allgemeinen. Mir wurde klar, dass ich meine Idee in die Tat umsetzen musste.

Heute starte ich ein bisschen ängstlich in den Tag, schließlich soll ich heute eine Waffe abfeuern. Bei einem Wildheger der alten Schule bin ich da zum Glück in guten Händen. Es scheint, als hätte Essex sich extra für den Anlass herausgeputzt. Die reetgedeckten Häuser sind mit Wimpeln geschmückt, die Felder leuchten golden in der späten Nachmittagssonne. Erst als ich an einem Pub vorbeifahre, der allen Trägern eines gelben Trikots Rabatt verspricht, fällt mir wieder ein, dass früher am Tag schon die Tour de France durch den Ort gerollt ist. Ich lasse die Autofenster herunter, der Duft von geschnittenem Heu weht herein, im Radio läuft ein Sommerhit. Vom Wind zerzaust und mit einem Lächeln auf dem Gesicht komme ich am Hamel’s Park in Hertfordshire an.

Steve Reynolds steht draußen auf dem Hof, er hat die Hände in die Hüften gestemmt und blinzelt in die Sonne. Zu meiner Erleichterung sieht er wie ein typischer Jäger aus – rote Koteletten, das karierte Hemd fast zu bis zur Hüfte aufgeknöpft, darunter ein weißes Unterhemd. Er ist sogar von bellenden Hunden umringt, auch wenn sich bei genauerer Betrachtung um Pudel mit Diamanthalsbändern handelt, nicht um Spaniels oder Labradore, die man normalerweise auf einem solchen Landgut erwartet. Ich strecke Steve die Hand entgegen, aber er ist misstrauisch. Er will wissen, ob ich eine „Sab“ bin – „Saboteure“ nannte man in den 1990er-Jahren die Aktivisten, die gegen die Fuchsjagd protestierten. Ich muss lachen. „Nein, nein“, versichere ich ihm und erzähle von meinem Vorhaben. „Ich will einfach herausfinden, wie es ist, ein Tier zu töten. Ich glaube, mein Experiment wird dazu beitragen, dass die Menschen ihre Nahrung besser zu schätzen wissen und weniger Fleisch essen.“ „Hm.“ Er wirkt nicht ganz überzeugt. Seine Frau Christine steht mit verschränkten Armen in der Eingangstür. „Unrealistisch“, sagt sie. „Die Leute wollen heutzutage billiges, abgepacktes Zeug. Die meisten Fasane, die wir schießen, werden nach Belgien verschickt.“ Dann besinnt sie sich: „Komm erst mal herein.“

Ich betrete das Haus, stehe verlegen im Wohnzimmer herum und warte auf ein Glas Wasser. Um weiteren Diskussionen vorzubeugen – mein Vorhaben erscheint mir plötzlich eher albern, die abgeklärte Sicht von Steve und seiner Frau ist eine ganz andere als die meiner Mittelschichtsfreunde –, bewundere ich die Raumdekoration. „Wow, ist das eine Schleiereule?“ Präparierte Tiere, darunter ein Fuchs, ein Kaninchen und ein Wanderfalke, zieren die Wände und den Tisch, der von Papierkram überquillt. Steve betont, dass es sich ausschließlich um überfahrene Tiere handelt oder solche, die tot unter Stromleitungen gefunden wurden. Greifvögel abzuschießen sei ja auch illegal. Die wertvollsten Exemplare sind Tiere mit besonderen Merkmalen, darunter eine Waldschnepfe mit kurzem Schnabel, ein weißes Rebhuhn und ein Albino-Hermelin. Ich gehe ein Zimmer weiter, wo mich noch mehr gläserne Augen anstarren. Dazwischen hängen Fotos von Steve, die zeigen, wie er diverse Auszeichnungen in Sachen Naturschutz entgegennimmt – im Abendanzug scheint er sich nicht sonderlich wohlzufühlen. „So muss das Haus von einem Landmann aussehen!“, sagt Steve.

Als wir im Jeep sitzen, ein Gewehr auf dem Armaturenbrett, Munitionsschachteln im Fußraum, frage ich ihn, was er unter einem Landmann versteht. „Na, es gibt Jungs auf dem Land und echte Jungs vom Lande, wenn du weißt, was ich meine.“ – „Und was bist du für einer?“ – „Ich bin ein Landmann!“

Wir fahren über die viel befahrene A10 zu einem Feld, auf dem wir die Waffe einschießen können. Wir unterhalten uns weiter, während Steve die Zielscheiben aufstellt – und langsam aus der Deckung kommt. Er wurde in dieses Leben nicht hineingeboren, erzählt er. Sein Vater war Ladenbesitzer, damals, als noch jeder wusste, wie man schießt, und natürlich brachte er es seinem Sohn bei. Steve liebte es, durch den Morgentau zu pirschen, und als sich eine Stelle auf einem Landgut auftat, bewarb er sich sofort. Seitdem ist er hier. „Es ist ein Geben und Nehmen. Damit Singvögel, Fasane und andere Wildtiere gedeihen können, halte ich ihre Fressfeinde unter Kontrolle.“

Ich stelle viele Fragen zum Gewehr, einer Büchse, und weil ich am Abend zuvor im Internet recherchiert habe, kann ich den Antworten folgen. Wie die meisten Männer geht Steve davon aus, dass ich verstehe, wovon er redet. Ich weiß, dass eine Büchse Längsrillen im Lauf hat. Diese sogenannten gedrehten Züge geben der Kugel einen Drall und sorgen für einen präziseren Todesschuss. Büchsen werden benutzt, um Niederwild zu erlegen. Flinten, die eine Garbe an Schrotkugeln verschießen, werden zur Vogeljagd verwendet. Unsere Büchse ist ein „Kaliber .22“, was sich auf den Durchmesser der Bohrung oder den Innendurchmesser des Laufs bezieht. Steve geht entspannt mit der Waffe um, richtet den Lauf nie auf mich und reicht mir das Gewehr nur, wenn ich sitze und es vor mir ablegen kann. Es hat nichts Feierliches, das erste Mal eine tödliche Waffe in den Händen zu halten, aber seltsam fühlt es sich schon an. Ich presse meine Wange an das kühle Holz des Schaftes. Der Geruch nach Schießpulver und Öl erinnert mich an den Waffenraum meines Vaters, in dem er seine alten Waffen und das Schmuckkästchen meiner Mutter aufbewahrt.

Ich bin nervös. Das Gewehr ist schwer und wackelt zuerst, sodass beim Blick durch das Zielfernrohr schwarze Ringe an den Rändern zu sehen sind. Ich atme ein und entspanne beim Ausatmen, wie Steve es mir erklärt hat, bis ich das Gewehr ruhig halten und mein Auge in den richtigen Abstand zum Visier bringen kann. Die Sicht wird klar, das Fadenkreuz erscheint, und ich drücke sanft den Abzug. Steve ist beeindruckt von meiner Zielsicherheit. Nach ein paar Schüssen fahren wir in ein Tal, in dem Kühe auf einer Flussaue grasen. Steve hat einen Jagdschirm aus Stöckern improvisiert, mit Haselzweigen bedeckt und einen Stuhl und eine Stütze für das Gewehr aufgestellt. Kaum bin ich in Position gegangen, hoppelt ein Kaninchen – ein Schädling, wie der Wildheger sagt – in mein Blickfeld. Ich warte auf Steves Kommando, er kann jüngere Kaninchen, die noch nicht fortpflanzungsfähig sind, nämlich an ihrem glatten Fell und der Körpergröße erkennen. „Nur zu, es ist perfekt, du kannst schießen.“ Ich ziele, das Herz klopft mir bis zum Hals. Ich kann es mir nicht leisten, zu viel nachzudenken. Ich drücke den Abzug.

Das Kaninchen macht einen Salto in der Luft, landet und verschwindet in rasendem Tempo. „Noch mal!“ Ich kann nicht, meine Hände zittern. Steve nimmt das Gewehr, aber zu spät, das Kaninchen ist weg. Steve sieht vom Visier hoch und streckt mir seine Hand hin. „Gut gemacht. Dein erster Abschuss.“

„Aber … es lebt noch!“

„Nein, tut es nicht, es liegt dort in den Disteln.“ Ich schüttele seine riesige, warme Hand. Ich spüre keine Befriedigung – stattdessen fühlt es sich an, als hätte ich etwas furchtbar falsch gemacht. Wir laufen hinüber zu der Stelle, an der das Kaninchen sein sollte, aber dort ist kein Blut. „Es ist wahrscheinlich unterm Zaun durch“, sagt Steve. Wir klettern über den Stacheldraht und schlagen uns durchs Unterholz. Keine Spur vom Kaninchen. Ich gerate in Panik. Ich nehme einen Stock und dresche auf die Disteln ein, stochere zwischen ihnen herum. Ich zögere – wenn ich da reingehe, werde ich am Ende völlig zerkratzt und zerstochen sein – und dann verfluche ich mich selbst: Was ist schon ein bisschen Brennen und Stechen gegen das Leiden des Kaninchens? Meine Gedanken rasen. Was, wenn wir es nicht finden? Warum hat Steve keinen Hund mitgenommen, und wenn es nur ein blöder Pudel wäre?

„Es ist weg“, sagt er.

„Wirklich?“ Ich will weitersuchen.

„Sie bekommen einen Adrenalinschub, wenn sie verletzt sind, und können dann ziemlich weit rennen. Vielleicht ist es bis zu seinem Bau gekommen.“ Jetzt verfluche ich mich für meinen Egoismus. Warum habe ich dieses bescheuerte Projekt überhaupt angefangen? Was will ich mir damit beweisen? Ich bin ein schlechter Mensch. Ein schlechter Mensch, der schreckliches Leid verursacht hat, nur um bei einem Partygespräch gute Argumente parat zu haben. Ich peitsche auf die Disteln ein, bis mein Stock zerbricht. Ich kann nicht sprechen, sonst würde ich anfangen zu heulen. Ich versuche, ruhig zu bleiben. „Komm schon“, sagt Steve, „wir finden es jetzt nicht.“

Während ich mich noch abmühe, mit zitternden Beinen über den Zaun zurückzuklettern, lacht er plötzlich. „Siehst du, was ich meine? Das ist der Unterschied zwischen einem Mädchen vom Lande und einem Mädchen auf dem Land.“ Als wir wieder unter dem Jagdschirm sitzen, kann ich nicht aufhören, über das Erlebte zu sprechen. Ich sehne mich nach Trost.

„Könnte das Kaninchen noch am Leben sein? Könnte es überleben?“

„Nein, es ist tot, du hast es schon ordentlich erwischt.“

„Dann … verblutet es?“

Steve schweigt einen Moment. „Es ist tot“, sagt er noch einmal. „Es wird schnell gestorben sein. Es hat sich einfach irgendwo verkrochen, und wir können es nicht finden.“

„O Gott, verblutet es vielleicht in seinem eigenen Bau?“ Ich denke an die Kaninchenjungen. Steve antwortet nicht gleich. „Ich will dich nicht anlügen. Das ist die Realität. Ich habe auch schon mal danebengeschossen. Ich habe zweimal in meinem Leben ein Tier verletzt. Hirsche, große Tiere. So etwas passiert.“

Ich versuche, zuzuhören und Flashbacks aus meiner Kindheit zurückzudrängen. Warum habe ich nicht schon früher an Watership Down (dt.: Unten am Fluss) gedacht? Als Kind habe ich diesen Film gehasst. Meine Schwester musste Bright Eyes, den Soundtrack von Art Garfunkel, nur anstimmen und ich brach in Tränen aus. Ich erinnere mich, wie die Kaninchen sich ängstlich in ihren Bauen versteckten. Wie das Blut über den Bildschirm spritzte. Die traurigste Szene von allen fällt mir jetzt wieder ein, der Todesmoment, als das schwarze Geisterkaninchen um die Sonne tanzte: „Die ganze Welt wird dein Feind sein, Fürst mit tausendfachen Feinden, und immer wenn sie dich fangen, werden sie dich töten.“

Steve sieht mir meine Verzweiflung an und versucht, mich wieder aufzurichten. „Warum gibt es am Bleistift einen Radiergummi?“, fragt er.

„Damit man etwas ausradieren kann?“

„Weil wir alle Fehler machen.“ Aber unsere Taten können wir nicht ausradieren, denke ich. Nicht die, die bereits geschehen sind. Steve versucht es mit einem anderen Beispiel. „Denk doch mal an die Fischerei. An all die Fische. Weißt du, was mit denen gemacht wird? Sie bekommen nicht einfach einen Schlag auf den Kopf, damit sie schnell sterben. Nein, sie ersticken, das ist Quälerei, echte Quälerei.“ Ich kann immer noch nicht antworten. „Und bei der Fasanenjagd“, sagt er, „läuft auch nicht alles perfekt.“ Einen Moment tauche ich aus meinem Watership-Down-Strudel auf. So eine Aussage ist ungewöhnlich für einen Jäger. „Flinten sind nicht so präzise wie Büchsen. Ständig werden Vögel angeschossen und fliegen weiter, sie sterben nicht immer gleich. Deswegen haben wir Hunde – um verletzte Tiere schnell aufzuspüren.“

Ich bin ihm dankbar. Das stimmt. Ich bin doch kein so schlechter Mensch, oder? Ich habe versucht, etwas Gutes zu tun: andere zum Nachdenken über das Töten zu bringen. So gesehen lässt sich mein Handeln leicht rechtfertigen, denn indirekt lassen wir jeden Tag Tiere sterben. Gut, im Schlachthof läuft das Ganze vielleicht ein bisschen präziser ab als bei mir, aber Fehler sind auch da nicht ausgeschlossen. Alle Versuche, auf humane Weise zu töten, können schiefgehen. Zumindest bin ich losgezogen und habe versucht, etwas selbst zu machen.

„Bei deiner Ankunft hattest du ein Lächeln auf dem Gesicht“, sagt Steve. „Jetzt nicht mehr.“ Ich fühle mich tatsächlich anders. Ich fühle mich wie eine Mörderin.

„Komm schon. Nächster Versuch.“ Es hat angefangen zu regnen, der Abend ist kühler geworden, und unser Abstecher ins Unterholz hat alle Kaninchen vertrieben. Na gut, ein paar kommen jetzt wieder hervor. Steve reicht mir ein anderes Gewehr, ein Kaliber .17, eine Hochleistungswaffe, die eine größere Präzision und mehr Feuerkraft hat. Mit ihrem grünen Schaft und riesigen Zielfernrohr sieht sie aus wie eine amerikanische Pistole. Ich bevorzuge das traditionelle Modell, finde dieses aber auch nicht schlecht. „Komm, damit holst du dir jetzt eins der Kaninchen da drüben.“ Steve bringt mich wieder in Stellung, und obwohl mein Herz rast und mein Atem flach geht, nehme ich die Waffe.

Zuerst wackelt alles, ich muss mich beruhigen, aber ich bekomme das Gewehr unter Kontrolle. Steve schaut auch durch den Lauf, sein Auge am Visier, sein Atem an meiner Wange. Ich weiß, dass er den katastrophalen Anfang des Abends wiedergutmachen will. „Ich hätte gerne, dass du ein Kaninchen bekommst, Louise. Sehr gerne.“ Ich möchte dagegen am liebsten nach Hause gehen, mich ins Bett legen und heulen, ich will, dass es vorbei ist, aber ich will auch, dass Steve zufrieden mit mir ist. „Schau mal, unter den gelben Blumen, da sind zwei.“ Ich visiere die Kaninchen an. Mein Herz klopft bis zum Hals, ich muss mich auf meine Atmung konzentrieren. Ich schwenke den Lauf hin und her. Beide Tiere haben etwa dieselbe Größe, sie sind klein – sie müssen noch jung sein. Kann Steve wirklich mit Bestimmtheit sagen, dass sie alt genug sind? Sind das Weibchen? Will ich wirklich noch einmal töten? Wozu wäre das gut? Es würde alles nur noch schlimmer machen. Was, wenn ich wieder danebenschieße?

Die Kaninchen hoppeln davon. „Alles okay“, sagt Steve. „Atme einmal tief durch und probier es noch mal.“ Ich weiß, dass er eigentlich um sieben Uhr Feierabend hat und dass es jetzt schon sehr viel später ist, aber er will unbedingt, dass ich nicht mit leeren Taschen heimkehre. Weitere Kaninchen kommen in Sicht. Ich kann sie durch das Zielfernrohr sehen, sie mümmeln Gras, drehen sich zu mir um, stellen sich auf die Hinterbeine, um nach Feinden Ausschau zu halten („aber zuerst müssen sie dich fangen, Gräber, Lauscher, Läufer, Fürst der schnellen Warnung“) … ich ziele wieder auf eins der Tiere, ich muss das hinbekommen. Ich weiß nicht, warum ich das tue.

„Komm schon.“ Steve will, dass ich den Abzug drücke, das spüre ich. Ich starre auf das Fadenkreuz, meine Gedanken rasen, ich versuche einen Grund zu finden, weswegen ich das tue, bis ein weiteres Kaninchen davonhoppelt. Steve sieht, dass ich nicht mehr mit Überzeugung bei der Sache bin. Er glaubt, ich hätte kein Vertrauen in die Waffe. Wir tauschen die Plätze, und er schießt. Ich zucke zusammen, als der Schuss erklingt, ich zittere, meine Nerven liegen blank. Ich frage mich, wie andere Menschen, Männer vor allem, dabei so gelassen bleiben können.

„Tja, die Kugel ist über den Kaninchenkopf geflogen.“ Er lacht. „Komm, wir probieren es an einer anderen Stelle, aber wir müssen uns beeilen.“

„Schon okay, Steve“, sage ich. „Kann ich vielleicht ein andermal wiederkommen?“ Ich versuche zu lächeln, wie bei meiner Ankunft, aber in Wahrheit will ich nur allein sein.

„Okay.“ Er sieht enttäuscht aus. „Du weißt, dass du jederzeit wiederkommen kannst.“

„Ja, natürlich.“

Wir fahren über die Wiesen zurück, immer mehr Kaninchen kommen hervor, die Kühe wirken unbeeindruckt, als sei nichts passiert, aber ich habe mich vollkommen verändert. An Steves Haus verabschiede ich mich schnell und steige wieder in mein Auto. Ich weiß genau, wo ich hin will. Die Landschaft wirkt jetzt dunkler, obwohl es immer noch hell ist. Ein Muntjakhirsch läuft vor mir über die Straße. Die Hecken, die vorher noch so schön ausgesehen haben, liegen jetzt im Schatten. Ich fahre geradewegs zurück auf die A10, schaue nach links und rechts, ich darf die richtige Ausfahrt nicht verpassen. Ich finde die Stelle, wo wir geschossen haben, nicht sofort, deswegen parke ich den Wagen mitten auf der Straße und hoffe, dass niemand vorbeifahren muss; in dieser Gegend scheinen nicht viele Leute zu wohnen. Ich nehme meinen Wanderstock aus Birkenholz, den ich bei einem Preisausschreiben gewonnen habe, und laufe los. Ich habe den verzweifelten Wunsch, das, was ich getan habe, wiedergutzumachen. Ich keuche, Panik überkommt mich und mir ist schwindelig, gleichzeitig bin ich erleichtert.

Zurück am Zaun reiße ich mir mein Sweatshirt am Stacheldraht kaputt, aber das ist mir egal. Ich fange da an zu suchen, wo Steve und ich vorhin waren. Vielleicht war es die falsche Stelle? Ich merke, dass meine Beine immer noch zittern. Warum ist hier kein Blut? Ich gehe in die Hocke, um weiter unter die Bäume zu kommen. Ich denke darüber nach, wo Kaninchen ihren Bau haben. Unten am Fluss? Ich krieche durch das Gestrüpp bis zu einer Stelle, an der ich einen Blick auf das Wasser erhaschen kann, und springe hinunter ans Ufer. Keine Spur von einem Kaninchenbau, aber sind das da nicht Kaninchenköttel? Das kann nicht sein. Ich entdecke ein Loch, aber es ist zu groß für ein Kaninchen. Vielleicht wohnt hier ein Fuchs. Ich gehe auf alle Viere und schnuppere. Es riecht muffig – ein Fuchs oder Dachs vielleicht. Warum weiß ich das nicht? Ich fühle mich selbst wild, als wäre ich selbst ein Tier. Ich klettere wieder hoch und suche weiter, lege mich flach auf den Boden, um unter Pflanzen zu lugen. Es riecht nach Feuchtigkeit, nach Herbst.

Es wird dunkel unter den Bäumen, und ich kann den Regen auf die Blätter prasseln hören. Eine Urangst überkommt mich – ich sollte nicht hier sein, abends allein im Wald. Mein Atem beruhigt sich, mein Herz klopft langsamer, und mir wird langsam klar, dass dies ein aussichtsloses Unterfangen ist. Das Kaninchen ist nirgends zu sehen. Ich werde die Suche beenden müssen und werde mich von meiner Idee, Tiere zu töten, verabschieden – auch wenn eine gute Absicht dahintersteckte. Was habe ich mir eigentlich dabei gedacht, mir diese bescheuerte Aufgabe zu stellen?

Auf dem Weg zurück zum Zaun stochere ich weiter halbherzig mit meinem Stock herum. Ich steche in ein dickes Distelgebüsch gleich beim Zaun und stoße auf etwas Weiches. Das gibt es nicht! Noch mit dem Stock in der Hand kann ich spüren, dass da ein Körper ist, ein weicher, toter Körper. Ich schaue genauer hin, und da liegt das Kaninchen mit seinem glatten braunen Fell. Ich hebe es hoch und betrachte sein Gesicht, seine Augen sind geöffnet, es hat eine schöne weiße Blesse. Ich spüre seine Schulterblätter unter meinen Fingern, sein Gewicht. Ich muss etwas sagen. „Danke“, flüstere ich. „Ich meine, es tut mir leid.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich hätte irgendein schamanisches Gebet für diesen Moment heraussuchen sollen, aber ich habe nichts Angemessenes oder Nützliches zu sagen, nichts, was das Leben zurückbringen wird. Das Kaninchen hat weißes Brustfell. Ungewöhnlich: Die Blesse hat dieselbe Form wie die Narbe von Harry Potter – ein Zauberlehrling in Tiergestalt. Ich denke an die Kaninchen aus der Zeichentrickserie Als die Tiere den Wald verließen. Wie soll man in der Lage sein, sein Abendessen zu töten, wenn man mit sprechenden Waldtieren im Fernsehen aufgewachsen ist? Aber ich bin froh, dass ich das Kaninchen gefunden habe, zumindest weiß ich jetzt, dass sein Leiden beendet ist. Ich sehe die Stelle, an der die Kugel eingetreten ist, nahe der Wirbelsäule. Sie hat ihm das Genick durchtrennt. Es ist nicht weit gekommen, wir haben nur nicht nah genug am Zaun gesucht. Der Körper ist tatsächlich noch warm, und mir kommt ein verzweifelter Gedanke: Vielleicht lebt es noch? Vielleicht kann ich es zum Tierarzt bringen?

Ich zwänge mich durch den Zaun und fange an zu rennen. Ich will alles wiedergutmachen. Ich komme an einem Mann vorbei, der mit seinem Hund unterwegs ist. Er schert sich kein bisschen darum, dass da eine Frau mit einem Kaninchen auf dem Arm über die Wiese rennt. „Komm, Coco“, sagt er zu seinem dicken schokoladenbraunen Labrador.

Ich lege das Kaninchen auf die Fußmatte des Beifahrersitzes und fahre zurück zu Steves Haus. Christine öffnet mir die Tür. „Hi“, sage ich. Ich will sie fragen, ob sie feststellen kann, dass das Kaninchen tot ist, ob sie mir vielleicht einen Tierarzt empfehlen kann oder ob sie irgendeine Kaninchen-Wiederbelebungsmaßnahme kennt. Aber sie schaut mich so überrascht an, dass ich nur herausbekomme: „Entschuldige, ist Steve da?“ – „Er ist im Pub, The Crown, in Buntingford.“ Sie erklärt mir den Weg, und ich steige schnell wieder ins Auto. Ich denke kaum darüber nach, wie ich wohl aussehe: zerrissenes Sweatshirt, voller Kletten, gerötete Augen.

The Crown ist ein roter Ziegelbau, der die Wärme des Tages gespeichert hat. Ich entdecke Steve an der Bar. Er sitzt zwar mit dem Rücken zu mir, aber ich erkenne ihn gleich an seinen Locken und den gelben Hosenträgern. Ich tippe ihm auf die Schulter, und er dreht sich zu mir um. „Ich muss dir was zeigen.“ Seine Kumpel brechen in überraschtes Gelächter aus – wer ist diese Person?

„Du hast doch nicht etwa –?“

Ich weiß jetzt, dass das Kaninchen tot ist. „Ja, ich habe es gefunden, komm mit, du musst es dir anschauen.“

Wir eilen hinaus auf die Straße, wo ich meinen zerbeulten Ford Fiesta im Parkverbot abgestellt habe. Ich gehe zur Beifahrerseite und hole das Tier hervor. Steve nimmt es mit mehr als nur ein bisschen Ehrfurcht entgegen. „Also, so was habe ich noch nie, wirklich noch nie erlebt.“ Er schaut mir in die Augen. „Du bist zurückgegangen und hast gesucht, bis du es gefunden hast.“ – „Natürlich hab ich das getan, das musste doch sein.“ Wie soll ich erklären, was es für mich bedeutet hat, mir Gewissheit zu verschaffen? Ich bemerke, wie Steves blaue Augen sich aufhellen, sie sind fast türkis.

Wir umarmen uns, zwei Menschen, die sich bis vor ein paar Stunden noch völlig fremd waren. Noch einmal mustert Steve das Kaninchen. „Du hast gezuckt, oder?“

„Ja, verflucht.“ Ich hatte gelernt: einatmen, ausatmen, ruhig bleiben, den Abzug drücken, aber mir müssen die Nerven durchgegangen sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich so viel Angst haben würde. Und welche Gefühle das Ganze auslösen würde. Ein kurzes Zucken, und die Kugel hat ins Genick getroffen statt ins Herz.

Wir gehen wieder rein, und ich bestelle einen Brandy. Steves Kumpels starren mich an, diese merkwürdige Frau in schlammverdreckten Klamotten mit Blättern im Haar. „Trink noch einen mit uns, Kleine“, sagt Mick, ein Fensterreiniger, „und zeig uns mal das Kaninchen.“ – „Nein!“, protestiert Steve. „Hier essen doch Leute.“ – „Aber eigentlich geht es doch genau darum“, sage ich. Zum ersten Mal an diesem Abend kommt mir die Idee hinter dem Ganzen wieder in den Sinn. In diesem Pub wird wahrscheinlich auch Kaninchen serviert, aber das tote Tier will niemand sehen.

„Du musst es ausstopfen“, sagt Steve. „Es ist wirklich ein außerordentlich hübsches Exemplar.“

Ich weiß nicht. Es soll nicht zu Dekorationszwecken gestorben sein. „Kann ich es trotzdem essen?“

„Natürlich!“, sagt Steve.

„In Ordnung, aber jetzt nehme ich es erst mal mit und zeige es meinem Vater.“

„Gut, steck es in eine Papiertüte und dann in die Gefriertruhe. Also bis bald, wenn du magst – es gibt hier noch Signalkrebse und Grauhörnchen.“ Ich habe einen echten Landmenschen getroffen, dafür bin ich dankbar.

Auf der Rückfahrt regnet es, die Wimpel sind inzwischen abgehängt. Ich lasse das Radio ausgeschaltet, ich möchte über meine Erlebnisse nachdenken und über das Kaninchen, das immer noch auf der Fußmatte liegt und eine alte Kfz-Plakette vollblutet.

Immer noch mit Adrenalin vollgepumpt komme ich im Haus meines Bruders an. Gleich im Flur erzähle ich meiner Familie die ganze Geschichte. „Ich habe einen Wildheger zum Weinen gebracht!“ Alle lachen, und obwohl ich ihnen sage, dass ich mich furchtbar fühle und dass ich danebengeschossen habe, geht niemand groß darauf ein. Sie scheinen in der Lage zu sein, darüber hinwegzusehen, so wie wir alle es jeden Tag tun. Sie wollen das Kaninchen sehen. Meine Schwägerin kreischt: „Du hast ein Schmusetier getötet!“ Hübsch ist das Kaninchen – aber ganz sicher ein Wildtier.

Mein Vater ist begeistert. „Ich habe Hunderte Kaninchen erlegt, aber so eins habe ich noch nie gesehen!“ Dann fügt er leicht pikiert hinzu: „Habe ich dir eigentlich nie beigebracht, Kaninchen zu jagen?“ Nein, Papa, hast du nicht, denke ich. Und nicht zum ersten Mal frage ich mich, warum nicht. Ich vermute, ich habe nie Interesse daran gezeigt. Ich habe hinten im Wagen gesessen, mir die Ohren zugehalten und weggeschaut. Und meine Brüder? Wollten die es wirklich beigebracht bekommen? Hatte es etwas damit zu tun, dass ich ein Mädchen war? Oder war ich feige?

Zu viele Fragen für diesen Abend. Ich bleibe noch lange wach, schaue hinauf zum Mond, der fast voll ist, und denke darüber nach, was heute alles passiert ist. Ich will das Kaninchen mit der weißen Blesse nicht vergessen. Es hat mir beigebracht, wie es sich anfühlt, einen Fehler zu machen. Ist das der Preis dafür, Fleischesser zu sein? Ich frage mich auch, wie es mir jetzt geht, wo ich das Kaninchen gefunden habe. Besser, aber mit welcher Berechtigung? Eigentlich macht es keinen Unterschied, es sei denn, ich würde daran glauben, dass das Tier sofort und ohne zu leiden gestorben ist, oder dass es sich um eine Art Zeichen handelt – und das wäre lächerlich.

Ich betrachte den Mond. „Okay, Fürst mit tausendfachen Feinden, was auch immer du bist oder sein wirst, hier ist dein Gebet: Ich werde dafür sorgen, dass dein Tod einen Sinn bekommt. Ich werde mein bescheuertes Experiment nicht beenden. Ich werde herausfinden, was es bedeutet, Tiere zu töten und Fleisch zu essen. Und dann werde ich ein Buch darüber schreiben.“

Richtig Tiere essen?!

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