Читать книгу Genug - Louise Juhl Dalsgaard - Страница 21

Оглавление

Im ersten Schuljahr kommt ein neuer Junge in die Klasse, er heißt Kaspar mit betontem A. KaspAr. Kaspar ist sehr klein und kreideweiß, er geht im November in Shorts, sein Haar glänzt so sehr, dass man es fast nicht aushalten kann, darauf zu schauen; Kaspars Hände sind zart und eher durchsichtig als weiß, man kann die blauen Adern unter der Haut sehen. Das sieht aus wie Finger von einem Schlumpf oder wie etwas von einem fremden Planeten.

Kaspar darf essen, was immer er will. Ansonsten gilt die Regel, dass wir drei Stücke Schwarzbrot mit gesundem Belag essen sollen, erst dann irgendwas Schokoladiges. Aber Kaspar hat vier Scheiben Weißbrot mit Nutella, nichts anderes, und das darf er auch. Er isst nie mehr als eine halbe Scheibe, vielleicht ein kleines bisschen von der anderen Hälfte. Man kann den Abdruck seiner Zähne auf der halben Scheibe sehen, die er nicht aufgegessen hat. Sogar seine Zähne sind klein und unauffällig wie bei einer zu früh geborenen Maus oder einer großen Maus mit sehr, sehr kleinen Zähnen. Ich denke oft daran, ihn zu fragen, ob ich das, was er nicht gegessen hat, haben kann, aber ich tue es nicht, denn Kaspar hat seine eigenen Regeln und über die reden wir nicht.

Kaspar wohnt nicht bei seiner Mutter und seinem Vater. Seine Mutter ist vor einem Jahr gestorben, und sein Vater ist deswegen immer noch so traurig, dass er sich nicht um Kaspar kümmern kann. Ich weiß nicht, wie traurig man sein muss, dass man sich nicht um sein Kind kümmern kann, aber es muss merkwürdig sein, wenn der eigene Vater die Mutter mehr vermisst als einen selbst, und das, obwohl sie schon tot ist. Stattdessen wohnt Kaspar bei seinen Großeltern. Sie kümmern sich sehr um ihn, sie fahren ihn jeden Tag zur Schule, begleiten ihn hinein, helfen ihm beim Ausziehen und stellen einen Behälter mit rotem Saft auf seinen Tisch. Bevor sie wieder fahren, gehen sie vor ihm in die Hocke und sagen: »Du kannst sie einfach bitten, uns anzurufen, wenn wir dich holen sollen.« Dann gehen sie, und Kaspar bleibt zurück an seinem Tisch mit seiner unglaublich großen Hose, mit seinen unglaublich kleinen Beinen, die in der Luft baumeln und hin und her schlackern.

Danach denke ich nicht mehr an Kaspar, bis wir dann Pause haben und er seine Nutellabrote hervorholt.

Kaspar bleibt nicht lange in unserer Klasse. Es ist, als würde er immer weißer und immer dünner. Am Ende isst er nicht mal die Hälfte einer halben Scheibe, aber ich wage es immer noch nicht, ihn zu fragen, ob ich seine Brote haben darf. Eines Tages kommt er nicht mehr. Die Lehrerin sagt, dass Kaspar eine Auszeit nimmt. Das bedeutet, er braucht die Zeit, sich daran zu gewöhnen, keine Mutter mehr zu haben, statt zur Schule zu gehen. Sie sagt auch, dass es sehr schwer ist, jemanden zu verlieren, den man mag, und dass man dann nicht so recht weiß, was man mit dem Raum in einem anfangen soll, in dem die Mutter gewohnt hat. »Es gibt viele Dinge, die man klären muss«, sagt sie, »wie man den Raum einrichten soll, ob jemand anders dort einziehen soll, ob man Möbel auswechseln soll, all so was.«

Sie sagt auch, dass Kaspar für all das Zeit braucht, aber dass es schon irgendwie gehen wird, denn er hat ja seine Großeltern, die sich gut um ihn kümmern.

Ich habe auch einen Raum, der leer steht. Ich weiß nicht, wem ich das sagen soll, oder ob ich es überhaupt jemandem sagen soll, denn meine Mutter ist ja nicht tot. Eigentlich ist niemand tot. Doch, mein Opa ist tot, aber er war alt, und ich habe ihn nicht richtig gekannt, und er hatte kein eigenes Zimmer in mir. Und doch habe ich einen Raum, der leer steht. Vielleicht hat nie jemand darin gewohnt, vielleicht wartet er darauf, dass jemand einzieht.

Er sitzt direkt unter dem Hals, der Raum, und ich wache oft mit Sodbrennen auf, das tut weh. Eines Tages versuche ich, meiner Lehrerin zu sagen, dass ich einen Raum habe, der leer steht, genau wie Kaspar, und dass ich da so ein Brennen fühle. Doch sie klingt wütend, als sie sagt, dass wir alle irgendwas haben, was wehtut, aber dass es nicht dasselbe ist wie seine Mutter zu verlieren. Das macht mich verlegen, denn das weiß ich ja. Ich weiß ja, dass man nicht traurig sein kann, wenn man nichts hat, das einen traurig macht. Also spreche ich nicht mehr über den leeren Raum, sondern fange an, kleine Nutellastullen in meiner Tasche zu verstecken. Ich esse sie auf dem Weg von der Schule nach Hause, wenn es niemand sieht. Den Raum füllen sie nicht, aber gegen mein Sodbrennen helfen sie ein wenig. Ich erfinde auch einen Zwilling, der tot ist. Sie heißt Nayaa. Ich spiele, dass das ihr Raum ist, der leer steht. Ich rede jeden Tag mit ihr, und sie verspricht, auf mich aufzupassen, sie sagt auch, dass ich sie einfach rufen kann, wenn ich eine Auszeit brauche.

Später, als ich zu groß bin für heimliche Freunde und Nutellastullen, höre ich völlig auf zu essen, genau wie es Kaspar getan hat, kurz bevor er verschwand.

Genug

Подняться наверх