Читать книгу Genug - Louise Juhl Dalsgaard - Страница 9

Оглавление

Am 24. August 1992 schreibe ich auf einen Zettel: »Ab heute will ich gesund leben, Sport treiben und abnehmen.«

Ich bin gerade mit dem Gymnasium fertig, ich habe einen lieben, Saxofon spielenden Freund, meine Eltern sind weder gewalttätig noch auf andere Weise rabiat. Ich möchte Literaturwissenschaft studieren und klug sein, nicht nur im Kopf, sondern auch mit dem Herzen, und werde die Liebe so sehr einfordern, dass sie wirklich wird. Ich möchte die Welt spüren, nicht auf Abstand und mit Vernunft; nein, ich möchte mit dem Feuer spielen, bis ich nach Pisse rieche. Das sind natürlich hardcoremäßige Vorhaben, schwer anzupacken. Also schreibe ich stattdessen diesen kleinen Zettel und hefte ihn an meine Pinnwand: »Ab heute will ich gesund leben, Sport treiben und abnehmen.« Im Laufe von neun Monaten nehme ich vierzig Kilo ab, werde von einer Hochschule nach Hause geschickt, weil man es nicht wagt, die Verantwortung für mein Leben zu übernehmen, ziehe in eine Dachgeschosswohnung in Kopenhagen, lese Herbjørg Wassmos »Dina« und weine, weil sie so hässlich und liebenswert zugleich ist. Eine Ärztin weist mich ins Krankenhaus ein, weil sie eine Latenzzeit von mehr als fünfzehn Sekunden zwischen ihrer Frage und meiner Antwort feststellt. Nicht weil ich meine Antwort abwägen müsste, sie fragt mich nur nach meinem Namen, sondern weil mein Gehirn auf Stand-by geschaltet ist. Ich komme im Frederiksberger Krankenhaus auf eine somatische Station mit Aidskranken, Krebskranken – und dann ist da noch Hanne, so heißt sie, glaube ich. Hanne war plötzlich gelähmt. Von heute auf morgen konnte sie nicht mehr gehen. Es war Stress, wie sich zeigte. Sie hatte über einen längeren Zeitraum ein Verhältnis mit einem Prominenten, er liebte sie sehr, wollte aber seine Frau nicht verlassen. Dieser Druck – heimlich und portionsweise zu lieben – lähmte sie. Nach sechs Wochen im Krankenhaus kann sie wieder gehen. Ich weiß nicht, was aus Hanne und ihrem heimlichen Verhältnis geworden ist, aber ich habe in Ud & Se gelesen, dass dieser Prominente immer noch mit seiner Frau verheiratet ist.

Während die Menschen um mich herum sterben, lahm oder gesund werden, werde ich rund um die Uhr von Medizinstudenten überwacht, die derart eifrig bestrebt sind, Verständnis für mich zu zeigen und Rücksicht auf mich zu nehmen, dass ich sie um meinen kranken kleinen Finger wickeln kann. Ich schaffe es, Essen in Jacken- und Hosentaschen und im Schlüpfer zu verstecken, Saft aus dem Fenster zu kippen und mich in die Krankenhausküche zu schleichen und meine kalorienreiche Kost gegen Diabetikerkost auszutauschen. Schließlich werde ich entlassen – auf einen Reiterhof in Hundested. Das hat mir gerade noch gefehlt. Es ist kalt und langweilig und wahnsinnig einsam, ich habe wenige Erinnerungen daran, ich bin dünn und müde und mein Gehirn ist auf Sparflamme. Aber ich kaufe mir eine Katze, Aishaa, für dreitausend Kronen, und die bekommt all die Liebe, die ich mir selbst nicht gönne. Ich esse schimmeliges Brot in der Hoffnung, dass ich krank werde und daran sterbe. Irgendwann komme ich weg von dort, fange an, Literaturwissenschaft zu studieren, hier erinnere ich mich unter anderem an Tue, Silberhose und Locken, wahnsinnig schlau. Ich hingegen bin nicht besonders schlau, denn ich konzentriere alle meine Kräfte darauf, auf leeren Magen jeden Morgen zwei Kilometer zu schwimmen und nach der Vorlesung zehn Kilometer zu laufen. Ich esse Tomaten aus der Dose, lutsche Brühwürfel, trinke Southern Comfort, ziehe um nach Aalborg, studiere Bibliothekswissenschaft, habe einen Heimtrainer und einen Stairmaster in meiner Einzimmerwohnung. Ich muss ja in Bewegung bleiben. Esse mich nachts satt, wenn die Vernunft aussetzt und der Körper sprechen darf, überlebt, spindeldürr, sich sehnt, fertig ausgebildet wird.

Was war das denn nun mit Feuer und Pisse, was anfangs so wichtig war?

Ich ziehe nach Aarhus und studiere weiter (weiter, immer weiter), ende im Zentrum für Essstörungen, zehn Monate, mit einer Sonde gefüttert und so nah dran an einer Persönlichkeitsspaltung, wie man es nur sein kann, ohne es eigentlich zu sein. Mein Gehirn möchte gesund sein, mein Körper beharrt darauf, dass ich es nicht wert bin. Jede Nacht, in der ich dort bin, nehme ich einen Bürostuhl als Hantel und stemme ihn, hoch, runter, hoch, runter, und mache dabei jede Nacht drei Stunden lang Kniebeugen. Und trinke Wasser vor jeder Gewichtskontrolle. Erreiche schließlich die famosen fünfzig Kilo, werde zur Dauerbehandlung in eine Einrichtung auf einem Acker in Mitteljütland überwiesen. Hier haben wir Gruppensitzungen: Ob ich mir nicht neue Socken kaufen kann, denn einer der Bewohner kann die, die ich anhabe, nicht leiden, und »übrigens knirschen deine Schuhe«.

Dann denke ich, nun musst du dich aber verdammt noch mal zusammenreißen, sonst musst du noch den Rest deines Lebens damit verbringen, auf einem Acker in Mitteljütland über Strümpfe und Schuhe zu diskutieren. Und ich reiße mich zusammen, langsam, aber sicher. Albere mit Männern herum, lese Bücher und denke verwirrte Gedanken, bekomme eine Arbeit, mache Dinge, die man auch macht, wenn man nicht krank ist, ich funktioniere.

Genug

Подняться наверх