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Nein, nein, nein, dachte Clara Morrow, als sie auf die geschlossenen Türen zuging.

Sie sah schemenhafte Schatten, die hinter den Milchglasscheiben wie Gespenster hin und her huschten, hin und her. Auftauchten und verschwanden. Verzerrt und dennoch menschlich.

Den Toten hörte niemand. Doch lag er noch still klagend.

Schon den ganzen Tag waren ihr diese Worte durch den Kopf gegangen, tauchten sie auf und verschwanden. Ein halb erinnertes Gedicht. Worte trieben an die Oberfläche, gingen wieder unter. Der Rest des Gedichts wollte ihr partout nicht einfallen.

Wie lautete das ganze Gedicht?

Es schien wichtig zu sein.

Nein, nein, nein.

Die verschwommenen Gestalten am anderen Ende des langen Flurs schienen aus etwas Flüssigem zu bestehen oder aus Rauch. Sie waren da und auch wieder nicht. Flüchtig. Fliehend.

Sie wäre auch gerne geflohen.

Das war’s. Das Ende der Reise. Nicht nur der Reise, die sie und ihr Mann Peter an diesem Tag unternommen hatten, als sie von ihrem kleinen Dorf in Québec nach Montréal zum Musée d’art contemporain aufgebrochen waren, das ihnen so vertraut war. Wie oft waren sie ins MAC gegangen und hatten sich mit großen Augen eine Ausstellung angesehen. Weil sie sich einem Freund, einem Künstlerkollegen, verpflichtet fühlten. Oder um sich still in das elegante Museum zu setzen, an einem Wochentag, wenn der Rest der Stadt zur Arbeit gehen musste.

Ihre Arbeit war die Kunst. Aber es war mehr als das. Sie konnten nicht anders. Warum sonst sollten sie die langen Jahre der Einsamkeit auf sich nehmen? Die Misserfolge? Das Schweigen einer irritierten oder sogar ablehnenden Kunstwelt?

Tag für Tag hatten sie und Peter in ihren kleinen Ateliers gearbeitet, in dem kleinen Dörfchen, in dem sie ihr kleines Leben führten. Zufrieden und dennoch mit dem Wunsch nach mehr.

Clara ging ein paar Schritte weiter den langen weißen Marmorflur hinunter.

Dort war das »Mehr«. Hinter diesen Türen. Endlich. Das Ziel von allem, auf das sie hingearbeitet hatte, auf das sie ihr ganzes Leben lang zugegangen war.

Am anderen Ende dieses nüchternen weißen Flurs lag ihr erster Kindheitstraum, ihr letzter Traum an diesem Morgen, beinahe fünfzig Jahre später.

Beide hatten sie erwartet, dass Peter als Erster durch diese Türen treten würde. Mit seinen exquisiten naturalistischen Studien war er der sehr viel erfolgreichere Künstler. Er ging so nah an einen Ausschnitt heran und arbeitete ihn so detailliert aus, dass die natürliche Welt verfälscht und abstrakt wirkte. Nicht wiedererkennbar. Peter nahm etwas Natürliches und ließ es unnatürlich erscheinen.

Die Leute stürzten sich darauf. Gott sei Dank. Dadurch hatten sie beide etwas zu essen auf dem Tisch, und die Wölfe, die ständig um ihr kleines Haus in Three Pines kreisten, ließen sich von der Tür fernhalten. Dank Peter und seiner Kunst.

Claras Blick fiel auf ihn. Er ging mit einem Lächeln auf dem attraktiven Gesicht einen Schritt vor ihr. Wer die beiden nicht kannte, würde kaum glauben, dass sie verheiratet waren. Vielmehr würde man eine superschlanke leitende Angestellte mit einem Weißweinglas in der eleganten Hand an seiner Seite vermuten. Ein Beispiel für natürliche Auslese. Dafür, dass sich Gleiches zu Gleichem gesellte.

Der angesehene Künstler mit dem vollen grauen Haar und den edlen Zügen konnte unmöglich diese Frau mit dem Bier in den Wurstfingern auserwählt haben. Mit pâté in dem krausen Haarschopf. Und mit dem Atelier voller Gemälde von geflügelten Kohlköpfen und Skulpturen aus alten Traktorteilen.

Nein. Peter Morrow konnte sie nicht auserwählt haben. Das wäre wider die Natur.

Und doch hatte er es getan.

Und sie hatte ihn auserwählt.

Clara hätte gelächelt, hätte sie nicht das Gefühl gehabt, sich gleich übergeben zu müssen.

Nein, nein, nein, dachte sie wieder, während sie zusah, wie Peter entschieden auf die geschlossenen Türen und die Kunstgespenster zusteuerte, die nur darauf warteten, endlich ihr Urteil zu verkünden. Über sie.

Claras Hände wurden kalt und taub, während sie langsam weiterging, angetrieben von einer unleugbaren Kraft, einer kruden Mischung aus Aufgeregtheit und Angst. Beinahe wäre sie zu den Türen gerannt, hätte sie aufgerissen und gebrüllt: »Da bin ich!«

Noch stärker aber war der Drang, sich umzudrehen und zu fliehen, sich zu verstecken.

Den langen Flur voller Licht und Kunst und Marmor zurückzustolpern. Einzugestehen, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Die falsche Antwort gegeben hatte, als man sie fragte, ob sie eine Einzelausstellung haben wolle. Im Musée. Als man sie fragte, ob sie all ihre Träume Wirklichkeit werden lassen wolle.

Sie hatte die falsche Antwort gegeben. Sie hatte Ja gesagt. Und damit hatte sie sich das hier eingebrockt.

Jemand hatte gelogen. Oder ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt. In ihrem Traum, den sie seit ihrer Kindheit immer wieder im Geist durchgespielt hatte, hatte sie eine Einzelausstellung im Musée d’art contemporain. Sie ging den Flur hinunter. Aufrecht und gelassen. Schön und schlank. Geistreich, umworben.

In die ausgestreckten Arme einer bezauberten Welt.

In dem Traum gab es keine Angst. Keine Übelkeit. Keine Gestalten, die durch Milchglasscheiben starrten und darauf warteten, ihr an die Kehle zu gehen. Sie zu zerfetzen. Sie und ihr Werk zu vernichten.

Jemand hatte gelogen. Hatte nicht gesagt, dass etwas anderes auf sie warten könnte.

Misserfolg.

Nein, nein, nein, dachte Clara. Den Toten hörte niemand. Doch lag er noch still klagend.

Wie lautete der Rest des Gedichts? Warum fiel er ihr nicht ein?

Sie war nur noch ein paar Schritte vom Ziel ihrer Reise entfernt, und alles, was sie wollte, war, nach Three Pines zu fliehen. Das Gartentürchen zu öffnen. Den Weg zwischen den blühenden Apfelbäumen entlangzulaufen. Die Haustür hinter sich zuzuwerfen. Sich dagegenzulehnen. Sie zu verriegeln. Sich mit dem Körper dagegenzustemmen und die Welt draußen zu halten.

Jetzt, wo es zu spät war, wurde ihr klar, wer sie belogen hatte.

Sie selbst.

Claras Herz klopfte heftig gegen ihre Rippen, als wäre es dahinter eingesperrt und als versuchte es verschreckt und verzweifelt zu entkommen. Sie merkte, dass sie den Atem anhielt, und fragte sich, wie lange schon. Hektisch holte sie Luft.

Peter sagte etwas, aber seine Stimme klang gedämpft, wie aus weiter Ferne. Sie wurde übertönt von dem Kreischen in ihrem Kopf und dem Hämmern in ihrer Brust.

Und den Geräuschen, die hinter den Türen immer lauter wurden. Während sie sich ihnen näherten.

»Du wirst es genießen«, sagte Peter mit einem beruhigenden Lächeln.

Claras Hand öffnete sich, und sie ließ ihre Handtasche fallen. Leise traf sie auf dem Boden auf. Außer einem Pfefferminzbonbon und dem winzigen Pinsel aus dem Malen-nach-Zahlen-Set, das ihre Großmutter ihr geschenkt hatte, war nichts darin.

Clara kniete sich hin und tat so, als würde sie unsichtbare Sachen aufsammeln und in die Handtasche stopfen. Mit gesenktem Kopf versuchte sie, ihren Atem zu beruhigen, und fragte sich, ob sie ohnmächtig werden würde.

»Tief einatmen«, hörte sie eine Stimme. »Tief ausatmen.«

Clara sah von der auf dem glänzenden Marmorboden liegenden Tasche hoch zu dem Mann, der sich über sie beugte.

Es war nicht Peter.

Es war Olivier Brulé, ihr Freund und Nachbar aus Three Pines. Er kniete sich neben sie und sah sie mit freundlichen Augen an, ein Blick wie ein Rettungsring, der einer Ertrinkenden zugeworfen wurde. Sie hielt sich daran fest.

»Tief einatmen«, flüsterte er. Seine Stimme war ruhig. Das hier war ihre gemeinsame Krise. Aus der sie sich gemeinsam retten würden.

Sie atmete tief ein.

»Ich schaff das nicht.« Clara beugte sich vor, sie fühlte sich schwach. Die Wände kamen näher, und sie starrte auf Peters blank polierte schwarze Lederschuhe vor ihr auf dem Boden. Als er endlich bemerkt hatte, dass seine Frau zurückgeblieben war und auf dem Boden kniete, war er stehen geblieben.

»Ich weiß«, flüsterte Olivier. »Aber ich kenne dich. Du wirst es durch diese Tür schaffen, ob auf Knien oder aufrecht.« Er deutete mit dem Kopf zum Ende des Flurs, ohne die Augen von ihr abzuwenden. »Warum also nicht aufrecht?«

»Aber es ist noch nicht zu spät.« Clara sah ihn erwartungsvoll an. Sah seine seidigen blonden Haare und die Falten, die man nur aus der Nähe erkannte. Mehr Falten, als ein achtunddreißigjähriger Mann haben sollte. »Noch könnte ich umdrehen und nach Hause gehen.«

Oliviers freundliches Gesicht verschwand, und wieder sah sie ihren Garten vor sich, so wie sie ihn an diesem Morgen gesehen hatte, als die Sonne den Nebel noch nicht ganz aufgelöst hatte. Unter ihren Gummistiefeln der Tau. Die frühen Rosen und späten Pfingstrosen feucht und duftend. Sie hatte sich auf die Holzbank hinter dem Haus gesetzt, in der Hand einen Becher Kaffee, und an den vor ihr liegenden Tag gedacht.

Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass sie vor Angst zusammenbrechen könnte. Am liebsten weglaufen würde. Zurück in ihren Garten.

Aber Olivier hatte recht. Sie würde nicht weglaufen. Noch nicht.

Nein, nein, nein. Sie musste durch diese Tür gehen. Nur durch sie kam sie jetzt noch nach Hause.

»Tief ausatmen«, flüsterte Olivier und lächelte sie an.

Clara lachte und atmete aus. »Du würdest eine gute Hebamme abgeben.«

»Was treibt ihr denn da unten?«, fragte Gabri und betrachtete Clara und seinen Lebensgefährten. »Was Olivier in dieser Position normalerweise macht, weiß ich, und ich hoffe, das ist es nicht.« Er drehte sich zu Peter um. »Wobei es das Lachen erklären würde.«

»Bereit?« Olivier reichte Clara ihre Handtasche, und sie standen auf.

Gabri, der sich nie weit von Oliviers Seite entfernte, umarmte Clara. »Alles in Ordnung mit dir?« Er musterte sie. Er hatte einen dicken Bauch, auch wenn er sich selbst lieber als »kräftig« bezeichnete, und sein Gesicht zeigte keine Sorgenfalten wie das von Olivier.

»Mir geht’s gut«, sagte Clara.

»Gallig, unsicher und todtraurig?«, fragte Gabri.

»So in etwa.«

»Toll. So geht’s mir auch. Und allen da drinnen.« Gabri zeigte auf die Tür. »Nur sind die nicht die großartige Künstlerin mit der Einzelausstellung. Dann geht’s dir also gut und darüber hinaus bist du berühmt.«

»Kommst du?«, fragte Peter und streckte lächelnd die Hand aus.

Sie zögerte, dann nahm sie Peters Hand. Gemeinsam gingen sie den Flur hinunter, wobei das Klappern ihrer Absätze auf dem Boden das fröhliche Geschnatter von der anderen Seite der Tür nicht ganz übertönte.

Sie lachen, dachte Clara. Sie lachen über meine Bilder.

Und in diesem Moment drang der Rest des Gedichts an die Oberfläche ihres Bewusstseins.

Nein, nein, nein, dachte Clara. Den Toten hörte niemand. Doch lag er noch still klagend:

Ich war viel weiter draußen, als ihr dachtet,

und winkte nicht, sondern ertrank.

In der Ferne konnte Armand Gamache Kinder spielen hören. Er wusste, woher die Geräusche kamen. Vom Park gegenüber, nur konnte er die Kinder durch das frische Laub der Ahornbäume nicht sehen. Manchmal saß er hier und stellte sich vor, die Rufe und das Lachen kämen von Florence und Zora, seinen kleinen Enkelinnen. Er stellte sich vor, sein Sohn Daniel und Roslyn wären im Park und würden auf ihre beiden Töchter aufpassen. Danach würden sie händchenhaltend über die ruhige Straße im Zentrum der großen Stadt zum Abendessen kommen. Oder er und Reine-Marie würden sich zu ihnen gesellen und Fangen oder Conkers spielen.

Er stellte sich gerne vor, dass sie nicht Tausende Kilometer entfernt in Paris lebten.

Meistens aber genoss er es, das Rufen, Kreischen und Lachen der Nachbarskinder zu hören. Dann lächelte er. Und entspannte sich.

Gamache griff nach seinem Bier und legte den Observateur auf seinen Knien ab. Seine Frau Reine-Marie saß ihm gegenüber auf dem Balkon. Auch sie hatte an diesem unerwartet warmen Tag Mitte Juni ein kaltes Bier vor sich stehen. Ihre Ausgabe von La Presse lag zusammengefaltet auf dem Tisch, und sie starrte in die Ferne.

»Woran denkst du?«, fragte er.

»Ach, an dies und das.«

Einen Moment lang schwieg er und betrachtete sie. Ihre Haare waren mittlerweile ergraut, so wie seine. Jahrelang hatte sie sie kastanienbraun gefärbt, aber vor einigen Monaten hatte sie damit aufgehört. Das Grau gefiel ihm. Sie waren beide Mitte fünfzig. Und ein Paar in diesem Alter sah eben so aus. Wenn es Glück hatte.

Nicht gerade wie Models. Da konnten sie keinem was vormachen. Armand Gamache war nicht dick, aber kräftig. Würde ein fremder Besucher ihn so sehen, dann würde er Monsieur Gamache vielleicht für einen zugeknöpften Akademiker halten, vielleicht Geschichts- oder Literaturprofessor an der Université de Montréal.

Aber auch das würde nicht stimmen.

Die große Wohnung stand voll mit Büchern. Historische Werke, Biographien, Romane, Kataloge zu Quebecer Antiquitäten, Lyriksammlungen. Ordentlich aufgereiht in Regalen. Auf so gut wie jedem Tisch lag mindestens ein Buch, dazu noch mehrere Zeitschriften. Auf dem Sofatisch vor dem Kamin im Wohnzimmer waren die Wochenendzeitungen ausgebreitet. Wäre der Besucher ein aufmerksamer Beobachter und dränge er bis in Gamaches Arbeitszimmer vor, würde sich ihm vermutlich die Geschichte erschließen, die all die Bücher dort erzählten.

Bald würde ihm klar werden, dass er sich nicht im Heim eines älteren Professors für französische Literatur befand. Die Regale standen voll mit Fallstudien, mit Büchern über Medizin und Forensik, mit Wälzern zum Code Civil und Richterrecht, zu Spurensicherung, DNA-Analyse, Wunden und Waffen.

Mord. Das Arbeitszimmer von Armand Gamache war randvoll davon.

Aber selbst inmitten des Todes war Platz für Philosophie- und Lyrikbände.

Als Gamache Reine-Marie ansah, überkam ihn wieder einmal das Gefühl, nach oben geheiratet zu haben. Nicht gesellschaftlich. Nicht akademisch. Aber er wurde einfach den Verdacht nicht los, dass er unverschämt viel Glück gehabt hatte.

Armand Gamache war sich bewusst, dass er in seinem Leben in vielerlei Hinsicht großes Glück hatte, aber das größte war sicher, dass er seit fünfunddreißig Jahren dieselbe Frau liebte. Übertroffen nur von dem geradezu unfassbaren Glück, dass auch sie ihn zu lieben schien.

Jetzt richtete sie ihre blauen Augen auf ihn. »Ehrlich gesagt habe ich gerade an Claras Vernissage gedacht.«

»Ach ja?«

»Wir sollten bald aufbrechen.«

»Stimmt.« Er sah auf die Uhr. Es war fünf nach fünf. Die feierliche Eröffnung von Clara Morrows Einzelausstellung im Musée hatte um fünf begonnen und würde um sieben enden. »Sobald David da ist.«

Ihr Schwiegersohn hatte sich bereits um eine halbe Stunde verspätet, und Gamache warf einen Blick ins Wohnzimmer. Er konnte seine Tochter Annie, die dort saß und las, nur schemenhaft erkennen. Ihr gegenüber saß Jean-Guy Beauvoir, sein Stellvertreter, und kraulte Henris enorme Ohren. So konnte der Schäferhund der Gamaches ganze Tage verbringen, ein dümmliches Grinsen im Gesicht.

Jean-Guy und Annie ignorierten einander. Gamaches Mund umspielte ein Lächeln. Wenigstens warfen sie nicht mit Beleidigungen oder Schlimmerem um sich.

»Oder willst du schon gehen?«, fragte Armand. »Wir könnten David auf dem Handy anrufen und ihm sagen, dass er direkt ins Musée kommen soll.«

»Lass uns noch ein paar Minuten warten.«

Gamache nickte und nahm wieder seine Zeitschrift zur Hand, gleich darauf senkte er sie erneut.

»Ist noch was?«

Reine-Marie zögerte, dann lächelte sie. »Ich habe mich nur gefragt, ob du womöglich nicht besonders erpicht darauf bist, zu der Vernissage zu gehen. Ob du dich lieber drücken willst.«

Erstaunt hob Armand eine Augenbraue.

Jean-Guy Beauvoir streichelte Henris Ohren und starrte auf die junge Frau ihm gegenüber. Er kannte sie seit fünfzehn Jahren, als er ganz neu in der Mordkommission gewesen war und sie ein Teenager. Linkisch, unbeholfen, vorlaut.

Er mochte keine Kinder. Noch weniger schlaumeiernde Teenager. Aber er hatte sich bemüht, Annie Gamache zu mögen, und sei es auch nur, weil sie die Tochter seines Chefs war.

Er hatte sich wirklich sehr bemüht und nicht aufgegeben. Und schließlich …

War es ihm gelungen.

Mittlerweile war er fast vierzig und sie fast dreißig. Anwältin. Verheiratet. Immer noch linkisch und vorlaut. Aber er hatte sich so lange bemüht, sie zu mögen, dass er endlich hinter ihre präpotente Fassade sehen konnte. Er hatte sie fröhlich lachen sehen, miterlebt, wie sie den schlimmsten Langweilern gelauscht hatte, als wären sie die interessantesten Zeitgenossen, als wäre sie hocherfreut, sie zu sehen. Als wären sie wichtig. Er hatte sie tanzen sehen, mit wild rudernden Armen, in den Nacken gelegtem Kopf, glänzenden Augen.

Und er hatte ihre Hand in seiner gespürt. Ein einziges Mal.

Im Krankenhaus. Er war von weit her zurückgekommen, hatte sich durch den Schmerz und die Dunkelheit zu dieser fremden, sanften Berührung durchgekämpft. Dass sie nicht von seiner Frau Enid stammte, wusste er. Wegen ihres krallenartigen Griffs wäre er nicht zurückgekommen.

Aber diese Hand war groß und ruhig und warm. Und sie hatte ihn aus der Tiefe geholt.

Er hatte die Lider ein wenig gehoben, und da war Annie Gamache und sah ihn besorgt an. Er fragte sich, was sie bei ihm wollte. Und dann wusste er es.

Weil sie nirgendwo sonst sein konnte. Sie konnte an keinem anderen Krankenhausbett sitzen.

Ihr Vater war tot. In einer verlassenen Fabrik erschossen. Beauvoir hatte es mit angesehen. Hatte gesehen, wie Gamache getroffen wurde. Gesehen, wie er von den Füßen gehoben wurde und auf den Betonboden stürzte.

Still dalag.

Und jetzt hielt Annie Gamache im Krankenhaus seine Hand, weil die Hand, die sie eigentlich halten wollte, nicht mehr da war.

Jean-Guy hatte Annie Gamaches traurigen Blick gesehen. Es hatte ihm das Herz zerrissen. Dann sah er etwas anderes.

Freude.

So hatte ihn noch nie jemand angesehen. Mit solch unverhohlener, ungezügelter Freude.

Genau so hatte Annie ihn angesehen.

Vergeblich hatte er versucht, ein Wort hervorzubringen. Aber sie hatte erraten, was er zu sagen versuchte.

Sie hatte sich vorgebeugt und ihm ins Ohr geflüstert, und er konnte ihr Parfüm riechen. Leicht zitronig. Sauber und frisch. Nicht Enids durchdringender schwerer Duft. Annie roch wie ein Zitronenhain im Sommer.

»Dad lebt.«

Da hatte er etwas getan, wofür er sich schämte. Es gab genug Peinlichkeiten, die im Krankenhaus noch auf ihn warteten. Doch von all den Bettpfannen, Windeln und Krankenschwestern, die ihn mit einem Schwamm wuschen, war nichts so persönlich, so intim, ein solcher Verrat wie das, was sein geschundener Körper in diesem Augenblick tat.

Er weinte.

Und obwohl Annie es sah, brachte sie es nie zur Sprache. Bis heute nicht.

Zu Henris grenzenlosem Erstaunen hörte Jean-Guy auf, seine Ohren zu kraulen, und legte die Hände übereinander, wie er es sich angewöhnt hatte.

So hatte es sich angefühlt, als Annies Hand auf seiner lag.

Mehr würde er nie von ihr bekommen. Von der verheirateten Tochter seines Chefs.

»Dein Mann verspätet sich«, sagte Jean-Guy und hörte den Vorwurf in seiner Stimme. Die Empörung.

Langsam, sehr langsam ließ Annie ihre Zeitung sinken. Und sah ihn an.

»Ja, und?«

Ja, und was eigentlich?

»Wir werden seinetwegen zu spät kommen.«

»Dann geh doch. Das ist mir gleich.«

Er hatte die Pistole geladen, an seinen Kopf gehalten und darum gebettelt, dass Annie abdrückte. Jetzt spürte er, wie die Worte einschlugen. Peng. Tief eindrangen und eine Wunde rissen.

Das ist mir gleich.

Der Schmerz war beinahe beruhigend, merkte er. Wenn er sie dazu brachte, ihn genug zu verletzen, dann würde er vielleicht nichts anderes mehr fühlen.

»Hör mal«, sagte sie mit etwas sanfterer Stimme und beugte sich vor. »Das mit Enid und dir tut mir leid. Eure Trennung.«

»Ja, na ja, so was kommt vor. Als Anwältin solltest du das wissen.«

Sie sah ihn mit demselben forschenden Blick an wie ihr Vater. Dann nickte sie.

»Ja, das kommt vor.« Kurz hielt sie inne. »Besonders wenn man so etwas durchgemacht hat wie du. Da fängt man an, über sein Leben nachzudenken. Willst du darüber reden?«

Mit Annie über Enid reden? Über all die kleinen Gemeinheiten und Zänkereien, die Kränkungen und Reibereien, die Wunden und Verletzungen? Der Gedanke widerstrebte ihm, und das war ihm vermutlich anzusehen. Annie lehnte sich zurück und wurde rot, als hätte er ihr eine Ohrfeige gegeben.

»Vergiss es«, fuhr sie ihn an und hob die Zeitung in die Höhe.

Er wollte etwas sagen, eine Brücke schlagen, einen Weg zurück zu ihr. Die Minuten vergingen, zogen sich in die Länge.

»Die Vernissage«, platzte Beauvoir schließlich heraus. Es war das Erste, was in seinem leeren Kopf aufploppte, so wie der Magic 8 Ball ein Wort ausspuckte, wenn man aufhörte, ihn zu schütteln. In diesem Fall spuckte er das Wort Vernissage aus.

Die Zeitung senkte sich, und Annies versteinertes Gesicht erschien.

»Ganz Three Pines wird da sein.«

Ihr Gesicht blieb ausdruckslos.

»Die Leute aus diesem Dorf in den Eastern Townships«, er machte eine unbestimmte Geste in Richtung Fenster. »Südlich von Montréal.«

»Ich weiß, wo die Townships sind«, sagte sie.

»Es ist Clara Morrows Ausstellung, sie werden bestimmt alle da sein.«

Sie hob die Zeitung wieder. Der kanadische Dollar war stark, las er. Die Schlaglöcher vom Winter waren noch nicht ausgebessert, las er. Die Korruption unter Regierungsbeamten sollte untersucht werden, las er.

Nichts Neues.

»Einer von ihnen hasst deinen Vater.«

Langsam sank die Zeitung. »Wie bitte?«

»Na ja«, ihr Gesichtsausdruck verriet, dass er womöglich übertrieben hatte, »nicht so sehr, dass er ihm etwas antun würde oder so.«

»Dad hat von Three Pines und den Leuten dort erzählt, aber das hat er nie erwähnt.«

Sie wirkte erschrocken, und er wünschte, er hätte nichts gesagt, aber wenigstens hatte es funktioniert. Sie sprach wieder mit ihm. Ihr Vater war die Brücke.

Annie warf die Zeitung auf den Tisch und blickte an Beauvoir vorbei zu ihren Eltern, die sich auf dem Balkon leise unterhielten.

Jetzt sah sie wieder aus wie der Teenager, als den er sie kennengelernt hatte. Sie würde niemals die schönste Frau weit und breit sein. Das war selbst damals schon klar gewesen. Annie hatte nicht die feinsten Gesichtszüge, nicht die zierlichste Figur. Sie war eher athletisch als anmutig. Sie legte zwar Wert auf ihre Kleidung, aber bequem musste sie auch sein.

Sie war starrköpfig, willensstark und körperlich stark. Zwar konnte er sie beim Armdrücken besiegen, was er wusste, weil sie es ein paarmal gemacht hatten, aber er hatte sich anstrengen müssen.

Bei Enid hätte er das nie probiert. Und sie hätte ihn nie dazu aufgefordert.

Annie Gamache hatte ihn nicht nur dazu aufgefordert, sie war auch überzeugt gewesen, dass sie gewinnen würde.

Und als sie verloren hatte, hatte sie gelacht.

Andere Frauen, auch Enid, waren charmant, Annie war voller Leben.

Spät, zu spät, hatte Jean-Guy Beauvoir begriffen, wie ungeheuer wichtig es war, wie anziehend und wie selten es vorkam, dass jemand voller Leben war.

Sie wandte ihren Blick wieder Beauvoir zu. »Warum sollte einer der Bewohner von Three Pines Dad hassen?«

Beauvoir senkte die Stimme. »Okay, ich sag’s dir.«

Annie beugte sich vor. Sie saßen so nah beieinander, dass Beauvoir ihren Geruch wahrnehmen konnte. Mit Mühe hielt er sich davon ab, ihre Hände zu nehmen.

»In Three Pines gab es einen Mord …«

»Ja, Dad hat davon erzählt. Scheint da an der Tagesordnung zu sein.«

Unwillkürlich musste Beauvoir lachen. »Wo viel Licht ist, ist starker Schatten

Annies erstaunter Blick brachte ihn erneut zum Lachen.

»Lass mich raten«, sagte sie. »Das ist nicht auf deinem Mist gewachsen.«

Beauvoir nickte lächelnd. »Das hat irgend so ein Deutscher gesagt. Und dann hat es dein Vater gesagt.«

»Mehr als einmal?«

»So oft, dass ich mitten in der Nacht schreiend aufwache.«

Annie lächelte. »Kenn ich. Ich war in der Schule die Einzige, die Leigh Hunt zitieren konnte.« Ihre Stimme veränderte sich leicht, als sie sich erinnerte. »Am liebreizendsten aber ist ein glückliches Gesicht

Als Gamache das Gelächter aus dem Wohnzimmer hörte, lächelte er.

Er deutete mit dem Kopf in die Richtung. »Meinst du, sie schließen endlich Frieden?«

»Entweder das oder es ist ein Hinweis auf die Apokalypse«, sagte Reine-Marie. »Wenn gleich vier Reiter aus dem Park angaloppiert kommen, musst du schauen, wo du bleibst, mein Lieber.«

»Es ist schön, ihn wieder lachen zu hören«, sagte Gamache.

Seit seiner Trennung von Enid wirkte Jean-Guy unnahbar. Reserviert. Besonders überschwänglich war er zwar nie gewesen, aber in letzter Zeit war er noch stiller geworden, so als wären die Mauern um ihn herum höher und dicker geworden. Und die schmale Zugbrücke immerzu hochgezogen.

Armand Gamaches Erfahrung nach war es nie gut, Mauern hochzuziehen. Was die Menschen für Schutz hielten, war in Wahrheit Gefangenschaft. Und in Gefangenschaft gedieh das wenigste.

»Es dauert einfach seine Zeit«, sagte Reine-Marie.

»Avec le temps«, stimmte Armand ihr zu. Aber insgeheim zweifelte er daran. Er wusste, dass die Zeit heilen konnte. Aber sie konnte auch weiteren Schaden anrichten. Ein Waldbrand, der sich allmählich ausbreitete, konnte alles verschlingen.

Gamache warf einen letzten Blick ins Wohnzimmer, dann wandte er sich wieder Reine-Marie zu.

»Glaubst du wirklich, dass ich nicht zu der Vernissage gehen will?«, fragte er.

Sie überlegte kurz. »Womöglich. Lass es mich so sagen: Du scheinst es nicht eilig zu haben, dort aufzutauchen.«

Gamache nickte und dachte einen Moment nach. »Ich weiß, dass alle dort sein werden. Es könnte vielleicht ein bisschen peinlich werden.«

»Du hast einen ihrer Nachbarn wegen eines Mordes verhaftet, den er nicht begangen hat«, sagte Reine-Marie. Es war kein Vorwurf. Vielmehr sagte sie es ruhig und sanft. Um Gefühle ihres Mannes hervorzulocken, deren er sich womöglich nicht einmal selbst bewusst war.

»Hältst du das für einen Fauxpas?«, fragte er mit einem Lächeln.

»Mehr als das, würde ich sagen.« Sie lachte, als sie den schalkhaften Ausdruck auf seinem inzwischen wieder glatt rasierten Gesicht sah. Er trug keinen Schnauzer mehr. Kein grauer Bart verbarg ihn. Jetzt war er nur noch Armand. Er sah sie mit seinen dunkelbraunen Augen an und ließ sie die Narbe an seiner linken Schläfe beinahe vergessen.

Dann verblasste sein Lächeln, und er nickte erneut und holte tief Luft.

»Es ist schrecklich, jemandem so etwas anzutun«, sagte er.

»Du hast es nicht absichtlich gemacht, Armand.«

»Das stimmt, aber das hat ihm seine Zeit im Gefängnis wahrscheinlich nicht versüßt.« Gamaches Blick wanderte von dem sanften Gesicht seiner Frau zu den Bäumen im Park. Natur. Er sehnte sich so sehr nach Natur, während er ständig damit beschäftigt war, Widernatürlichem hinterherzujagen. Mördern. Menschen, die anderen das Leben nahmen. Oft auf grausame und fürchterliche Art. Armand Gamache war Leiter der Mordkommission der berühmten Sûreté du Québec. Ein sehr guter.

Aber er war nicht vollkommen.

Er hatte Olivier Brulé für einen Mord verhaftet, den er nicht begangen hatte.

»Also, was ist passiert?«, fragte Annie.

»Den größten Teil kennst du, oder? Es stand ja in allen Zeitungen.«

»Natürlich habe ich die Zeitungsberichte gelesen, und ich habe mit Dad darüber gesprochen. Aber er hat nie erwähnt, dass einer der Beteiligten noch sauer auf ihn sein könnte.«

»Wie du weißt, war das vor fast einem Jahr«, sagte Jean-Guy. »Im Bistro wurde eine Leiche gefunden. Wir haben in dem Fall ermittelt, und die Beweise waren erdrückend. Wir fanden Fingerabdrücke, die Tatwaffe, Sachen, die aus der Blockhütte des Toten gestohlen worden waren. Und alles war im Bistro versteckt. Wir haben Olivier verhaftet. Er wurde vor Gericht gestellt und verurteilt.«

»Hast du geglaubt, dass er es getan hat?«

Beauvoir nickte. »Ich war mir sicher. Nicht nur dein Vater.«

»Warum hast du dann deine Meinung geändert? Hat ein anderer den Mord gestanden?«

»Nein. Aber weißt du, nach der Razzia in der Fabrik, als dein Vater sich eine Auszeit genommen hat und eine Weile in Quebec City war …«

Annie nickte.

»Na ja, in dieser Zeit sind ihm Zweifel gekommen, und deshalb hat er mich gebeten, noch mal nach Three Pines zu fahren und die Ermittlung wieder aufzunehmen.«

»Was du auch getan hast.«

Jean-Guy nickte. Natürlich. Er würde alles tun, worum der Chief Inspector ihn bat. Auch wenn er selbst keine Zweifel gehabt hatte und davon überzeugt gewesen war, dass der Richtige im Gefängnis saß. Aber er hatte weitere Nachforschungen angestellt und war dabei auf etwas gestoßen, was ihn zutiefst schockiert hatte.

Auf den wahren Mörder. Und den wahren Grund für den Mord.

»Aber seit du Olivier verhaftet hast, warst du doch schon wieder in Three Pines«, sagte Reine-Marie. »Du siehst die Leute also nicht zum ersten Mal wieder.«

Auch sie war schon öfter in Three Pines gewesen und hatte sich mit Clara und Peter und den anderen angefreundet. Allerdings hatte sie sie eine Weile nicht gesehen. Nicht seit das alles passiert war.

»Das stimmt«, sagte Armand. »Jean-Guy und ich haben Olivier nach seiner Freilassung hingebracht.«

»Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie er sich gefühlt haben muss.«

Gamache war still. Er sah wieder das von den Schneewehen reflektierte gleißende Sonnenlicht vor sich. Durch die vereisten Fenster des Bistros konnte man die Dorfbewohner erkennen, die sich dort versammelt hatten. Warm und sicher. In den Kaminen brannte ein munteres Feuer. Die Biergläser und Schalen mit Café au Lait. Das Lachen.

Olivier hatte plötzlich gezögert. Zwei Schritte vor der geschlossenen Tür war er stehen geblieben und hatte sie angestarrt.

Jean-Guy wollte vorausgehen, um sie zu öffnen, aber Gamache hatte die Hand auf seinen Arm gelegt. Zusammen hatten sie in der Eiseskälte gestanden und gewartet. Hatten darauf gewartet, dass Olivier die zwei Schritte machte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit, die wahrscheinlich nur ein paar Herzschläge gedauert hatte, hatte Olivier den Arm ausgestreckt, erneut einen Moment innegehalten und dann die Tür aufgestoßen.

»Zu gerne hätte ich Gabris Gesicht gesehen«, sagte Reine-Marie und stellte sich vor, wie der überschwängliche große Mann seinen Lebensgefährten zurückkehren sah.

Wieder zu Hause, hatte Gamache Reine-Marie alles beschrieben. Aber er wusste, dass sie sich das Ausmaß der Freude nicht vorstellen konnte. Zumindest auf Gabris Seite. Auch die anderen Dorfbewohner hatten sich gefreut, Olivier wiederzusehen. Aber …

»Was ist?«, fragte Reine-Marie.

»Na ja, Olivier hat den Mann nicht umgebracht, aber im Laufe des Prozesses kamen eine Menge unschöne Dinge ans Tageslicht, wie du vielleicht noch weißt. Olivier hatte den Eremiten bestohlen, ihre Freundschaft und die psychische Labilität des Mannes ausgenutzt. Darüber hinaus hat Olivier das Geld, das er mit den gestohlenen Sachen verdiente, heimlich dafür verwendet, eine ganze Reihe von Immobilien in Three Pines zu erwerben. Davon wusste nicht einmal Gabri.«

Reine-Marie war still und dachte darüber nach.

»Ich frage mich, was seine Freunde darüber denken«, sagte sie schließlich.

Das fragte Gamache sich auch.

»Olivier soll meinen Vater hassen?«, fragte Annie. »Aber wie kann das sein? Dad hat ihn aus dem Gefängnis geholt. Er hat ihn zurück nach Three Pines gebracht.«

»Ja, nur denkt Olivier, dass ich es war, der ihn aus dem Gefängnis geholt hat. Und dein Vater ist derjenige, der ihn hineingebracht hat.«

Annie starrte Beauvoir an, dann schüttelte sie den Kopf.

Beauvoir fuhr fort. »Dein Vater hat sich bei ihm entschuldigt. Vor versammelter Mannschaft im Bistro. Er hat Olivier gesagt, dass es ihm leidtut, was er getan hat.«

»Und was hat Olivier gesagt?«

»Dass er ihm nicht verzeihen kann. Noch nicht.«

Annie dachte darüber nach. »Wie hat Dad reagiert?«

»Er schien weder überrascht zu sein noch sich aufzuregen. Ich glaube, er wäre eher überrascht gewesen, wenn Olivier so getan hätte, als wäre alles vergeben und vergessen. Weil das nämlich gelogen gewesen wäre.«

Beauvoir wusste, schlimmer, als jemandem nicht zu verzeihen, war, nicht aufrichtig zu verzeihen.

Das musste man Olivier lassen. Statt so zu tun, als würde er die Entschuldigung akzeptieren, hatte er gesagt, wie es wirklich war. Die Verletzung ging zu tief. Er war nicht bereit zu verzeihen.

»Und jetzt?«, fragte Annie.

»Jetzt werden wir wohl abwarten müssen.«

Bei Sonnenaufgang

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