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Gabri und Olivier kamen gerade rechtzeitig zum Ansturm der Mittagsgäste ins Bistro. Es war bis auf den letzten Platz besetzt, doch als die beiden Männer eintraten, verstummten Gespräche und Besteckgeklapper.

»Also«, durchschnitt Ruth’ Stimme die Stille. »Wen hat’s erwischt?«

Damit war der Damm gebrochen, und es folgte eine Flut von Fragen.

»Ist es jemand, den wir kennen?«

»Ich habe gehört, es ist jemand aus dem Wellnesshotel.«

»Eine Frau.«

»Sie muss auf der Party gewesen sein. Hat Clara sie gekannt?«

»Jemand aus dem Dorf?«

»War es Mord?«, fragte Ruth.

Wenn die Stille eben von Ruth durchbrochen worden war, breitete sie sich jetzt wieder aus. Die Leute verstummten, und alle Blicke richteten sich von der alten Dichterin auf die beiden Bistrobesitzer.

Gabri drehte sich zu Olivier.

»Was sollen wir sagen?«

Oliver zuckte die Achseln. »Gamache hat nicht gesagt, dass wir den Mund halten sollen.«

»Verdammt noch mal«, blaffte Ruth, »jetzt rückt schon raus damit. Und bringt mir was zu trinken. Oder noch besser, bringt mir erst was zu trinken und rückt dann damit raus.«

Es wurde eine Weile hin und her debattiert, dann hob Olivier die Hände. »Okay, okay. Wir erzählen euch, was wir wissen.«

Und das tat er.

Bei der Toten handelte es sich um eine Frau namens Lillian Dyson. Auf diese Information folgte zunächst wieder Schweigen, dann setzte leises, aufgeregtes Gemurmel ein. Aber es gab keine Aufschreie, keine plötzlichen Ohnmachtsanfälle, kein Gewand wurde zerrissen.

Kein Wiedererkennen.

Man hat sie im Garten der Morrows gefunden, bestätigte Olivier.

Ermordet.

Danach blieb es lange still.

»Muss am Wasser liegen«, murmelte Ruth, die weder Leben noch Tod zum Schweigen brachten. »Wie wurde sie ermordet?«

»Jemand hat ihr das Genick gebrochen«, sagte Olivier.

»Wer war diese Lillian?«, fragte jemand im hinteren Teil des überfüllten Bistros.

»Clara scheint sie zu kennen«, sagte Olivier. »Aber mir gegenüber hat sie sie nie erwähnt.«

Er sah zu Gabri, der den Kopf schüttelte.

Dabei bemerkte er, dass hinter ihnen noch jemand das Bistro betreten hatte und still neben der Tür stand.

Agent Isabelle Lacoste hatte das Geschehen verfolgt, hergeschickt von Chief Inspector Gamache, dem klar gewesen war, dass die beiden Männer alles verraten würden, was sie wussten. Und er wollte wissen, ob sich daraufhin jemand im Bistro verraten würde.

»Erzählen Sie«, sagte Gamache.

Er hatte sich auf seinem Stuhl vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Eine Hand umfasste locker die andere. Eine neue, aber notwendige Haltung.

Inspector Beauvoir neben ihm holte Notizbuch und Stift hervor.

Clara saß tief in dem hölzernen Gartenstuhl und umklammerte die breiten, warmen Armlehnen, als wollte sie sich hochstemmen. Doch statt nach vorne zu stürmen, ließ sie sich nach hinten sinken, in die Vergangenheit.

Zurück durch die Jahrzehnte, durch das Gartentürchen und aus Three Pines hinaus. Zurück nach Montréal. An die Kunstakademie, in die Kurse, die Studentenausstellungen. Clara Morrow wurde aus dem College zurück in die Highschool gewirbelt, dann in die Grundschule. Und in den Kindergarten.

Bis sie schließlich schlitternd vor dem kleinen Nachbarsmädchen mit den schimmernden roten Haaren zum Stehen kam.

Lillian Dyson.

»Lillian war meine beste Freundin, als wir Kinder waren«, sagte Clara. »Sie wohnte im Nachbarhaus und war zwei Monate älter als ich. Wir waren unzertrennlich. Dabei waren wir völlig verschieden. Sie war schon früh ziemlich groß, im Gegensatz zu mir. Sie war klug, gut in der Schule. Ich wurstelte mich irgendwie durch. Manches konnte ich gut, aber im Klassenzimmer war ich wie gelähmt. Ich wurde nervös. Die anderen Kinder fingen bald an, auf mir herumzuhacken, aber Lillian hat mich immer beschützt. Mit Lillian hat sich niemand angelegt. Sie war schon als Kind tough.«

Clara lächelte bei der Erinnerung daran, wie Lillian mit ihren hellroten Haaren vor einer Gruppe von Mädchen stand, die sie, Clara, schikanierten, und sie mit ihrem Blick in Schach hielt. Sie warnte. Clara hatte hinter ihr gestanden. Sich danach gesehnt, neben ihrer Freundin zu stehen, sich aber nicht getraut. Noch nicht.

Lillian, das geliebte Einzelkind.

Die geliebte Freundin.

Die hübsche Lillian, die eigenartige Clara.

Sie standen sich näher als Schwestern. Sie waren Seelenverwandte, wie sie sich mit blumigen Worten in hin und her gehenden Briefchen gegenseitig versicherten. Für immer und ewig Freundinnen. Sie dachten sich Codes und Geheimsprachen aus. Sie piksten sich mit einer Nadel in den Finger und vermischten feierlich ihr Blut. So, erklärten sie, jetzt waren sie Schwestern.

Sie schwärmten für dieselben Schauspieler aus Fernsehserien, küssten Poster und weinten, als sich die Bay City Rollers trennten und The Hardy Boys eingestellt wurde.

All das erzählte sie Gamache und Beauvoir.

»Was ist passiert?«, fragte der Chief Inspector leise.

»Woher wissen Sie, dass etwas passiert ist?«

»Weil Sie sie nicht erkannt haben.«

Clara schüttelte den Kopf. Was war passiert? Wie sollte sie das erklären?

»Lillian war meine beste Freundin«, wiederholte Clara, als müsste sie es selbst noch einmal hören. »Sie hat meine Kindheit gerettet. Ohne sie wäre es furchtbar gewesen. Ich weiß bis heute nicht, warum sie sich mich als Freundin ausgesucht hat. Sie hätte mit jedem Mädchen befreundet sein können. Jede wollte Lillians Freundin sein. Zumindest am Anfang.«

Die Männer warteten. Die Mittagssonne brannte auf sie herunter, und sie fühlten sich immer unbehaglicher. Trotzdem warteten sie.

»Aber es hatte seinen Preis, Lillians Freundin zu sein«, sagte Clara schließlich. »Sie erschuf eine wunderbare Welt. Mit ihr war es lustig, und ich fühlte mich sicher. Aber sie musste immer recht haben, und sie musste immer die Erste sein. Das war der Preis. Anfangs kam mir das nur fair vor. Sie bestimmte die Regeln, und ich befolgte sie. Ich traute mich sowieso nichts, das war also nie ein Thema. Es schien keine Rolle zu spielen.«

Clara holte tief Luft. Und stieß sie wieder aus.

»Und dann spielte es auf einmal offenbar doch eine Rolle. Auf der Highschool wurde es plötzlich anders, auch wenn ich es zuerst nicht begriff. Zum Beispiel habe ich Lillian Samstagabend angerufen, um zu fragen, ob sie Lust hätte, etwas zu unternehmen, ins Kino zu gehen oder so. Sie sagte, sie würde sich melden, tat es aber nicht. Als ich dann noch mal anrief, war sie ohne mich ausgegangen.«

Clara sah die drei Männer an. Es war zu erkennen, dass sie zwar den Worten folgten, aber nicht unbedingt die Empfindungen nachvollziehen konnten. Wie es sich anfühlte. Insbesondere beim ersten Mal. Ausgeschlossen zu werden.

Es klang so unerheblich, so banal. Aber es war der erste haarfeine Riss gewesen.

Damals hatte Clara es nicht begriffen. Sie dachte, Lillian hätte es vielleicht vergessen. Außerdem hatte sie ja das Recht, mit anderen Freunden auszugehen.

Dann hatte sich Clara an einem Wochenende selbst mit einer neuen Freundin verabredet.

Und Lillian war ausgerastet.

»Es hat Monate gedauert, bis sie mir verziehen hat.«

Jetzt sah sie es in Jean-Guys Gesicht. Ein Ausdruck von Verachtung. Galt sie der Art, wie Lillian sie behandelt hatte, oder der Tatsache, dass sie es sich hatte gefallen lassen? Wie sollte sie es ihm erklären? Wie erklärte sie es sich selbst?

Damals war es ihr normal vorgekommen. Sie mochte Lillian. Lillian mochte sie. Sie hatte sie vor ihren Peinigern gerettet. Sie hatte Clara niemals verletzt. Nicht mit Absicht.

Wenn es böses Blut gab, war es bestimmt Claras Schuld.

Dann war alles wieder im Lot. Alles war vergeben und vergessen, und Lillian und Clara waren wieder die besten Freundinnen. Clara konnte wieder bei Lillian Zuflucht suchen.

»Wann kam Ihnen zum ersten Mal der Verdacht?«, fragte Gamache.

»Was für ein Verdacht?«

»Dass Lillian nicht Ihre Freundin war.«

Es war das erste Mal, dass sie die Worte laut ausgesprochen hörte. So klar, so schlicht. Ihre Beziehung schien immer kompliziert zu sein, belastet. Clara, die Bedürftige, Unbeholfene. Die Fehler machte, sich nicht wie eine Freundin verhielt. Lillian, die Starke, Selbstbewusste. Die ihr vergab. Die Scherben wieder zusammensetzte.

Bis zu diesem einen Tag.

»Es war gegen Ende der Highschool. Wenn sich die Mädchen zerstritten, dann meistens wegen eines Jungen oder gemeinsamer Freunde, oder es gab irgendein Missverständnis. Kränkungen. Lehrer und Eltern denken immer, die Klassenzimmer und Flure sind voller Schüler, aber das stimmt nicht. Sie sind voller Gefühle, die miteinander kollidieren. Verletzt werden. Es ist furchtbar.«

Clara nahm die Arme von den Lehnen des Gartenstuhls. Sie brieten in der Sonne. Jetzt verschränkte sie sie über dem Bauch.

»Lillian und ich verstanden uns wieder gut. Dieses heftige Auf und Ab schien vorbei zu sein. Dann lobte mich eines Tages im Kunstunterricht unser Lieblingslehrer für eines meiner Bilder. Es war das einzige Fach, in dem ich gut war und an dem mir wirklich etwas lag, obwohl ich mich in Englisch und Geschichte auch ganz wacker schlug. Aber Kunst habe ich geliebt. Und Lillian auch. Wir spielten Ideen miteinander durch. Heute ist mir klar, dass jede von uns die Muse der anderen war, nur kannte ich den Begriff damals noch nicht. Ich erinnere mich sogar an das Bild, das dem Lehrer gefallen hatte. Es war ein Stuhl, auf dem ein Vogel saß.«

Freudestrahlend hatte Clara sich damals zu Lillian umgedreht. Den Blick ihrer Freundin gesucht. Es waren nur ein paar anerkennende Worte gewesen. Ein winziger Triumph. Den sie mit dem einzigen Menschen teilen wollte, der das verstand.

Und sie hatten ihn geteilt. Aber. Aber. In dem kurzen Moment bevor Lillian das Gesicht zu einem Lächeln verzog, hatte Clara etwas anderes wahrgenommen. Abwehr.

Und gleich darauf das bestätigende, fröhliche Lächeln. So rasch, dass es Clara beinahe davon überzeugte, in ihrer Unsicherheit etwas gesehen zu haben, das gar nicht da war.

Dass es wieder einmal ihre Schuld war.

Im Rückblick wusste Clara jedoch, dass der Riss größer geworden war. Manche Risse ließen das Licht herein. Manche öffneten sich in die Dunkelheit.

Sie hatte einen kurzen Blick auf das erhascht, was sich in Lillians Innerem verbarg. Und das war nicht schön.

»Wir gingen zusammen an die Kunstakademie und teilten uns eine Wohnung. Aber inzwischen hatte ich gelernt, jedes Kompliment, das ich für meine Arbeiten bekam, herunterzuspielen. Und ich verbrachte viel Zeit damit, Lillian zu sagen, wie toll ihre Sachen waren. Und das waren sie auch. Natürlich änderten sie sich, wie die von uns allen. Wir experimentierten. Ich jedenfalls. Ich dachte, das wäre Sinn und Zweck der Kunstakademie. Nicht, alles richtig zu machen, sondern herauszufinden, was möglich war. Etwas zu wagen.«

Clara hielt inne und blickte auf ihre Hände mit den ineinander verschränkten Fingern.

»Das gefiel Lillian nicht. Meine Sachen waren ihr zu schräg. Sie sagte, es würde auf sie abstrahlen, und erklärte mir, wenn die Leute sie für meine Muse hielten, würden sie denken, dass es bei meinen Bildern um sie ging. Und weil meine Bilder und meine anderen Arbeiten so seltsam seien, müsste auch sie seltsam sein.« Clara zögerte. »Sie bat mich, damit aufzuhören.«

Zum ersten Mal nahm sie bei Gamache eine Reaktion wahr. Seine Augen verengten sich leicht. Gleich darauf waren sein Gesichtsausdruck und seine Haltung wieder wie vorher. Neutral. Wertfrei.

Scheinbar.

Er sagte nichts. Hörte nur zu.

»Und ich habe es getan«, sagte Clara mit leiser Stimme und gesenktem Kopf. An ihren Schoß gerichtet.

Zittrig holte sie Luft und stieß sie wieder aus, spürte, wie ihr Körper in sich zusammenfiel.

Damals hatte es sich genauso angefühlt. Als wäre irgendwo ein kleiner Riss und alle Luft würde aus ihr weichen.

»Ich habe ihr immer wieder erklärt, dass sie mich zu einigen meiner Arbeiten inspiriert hatte, dass manche sogar eine Verneigung vor unserer Freundschaft waren, aber dass sie nicht sie waren. Sie sagte, das spiele keine Rolle. Alles, was zähle, sei, dass andere das dächten. Wenn mir etwas an ihr liege, wenn ich ihre Freundin sei, dann würde ich damit aufhören, so merkwürdige Bilder zu malen. Und etwas Hübscheres machen.

Also habe ich das getan. Ich habe alles zerstört und angefangen, Sachen zu machen, die den Leuten gefielen.«

Hastig sprach Clara weiter, wagte es nicht, ihre Zuhörer anzusehen.

»Ich bekam sogar bessere Noten. Und ich redete mir ein, dass es die richtige Entscheidung war. Das es falsch wäre, eine Freundin gegen eine Karriere als Künstlerin einzutauschen.«

Jetzt hob sie den Kopf und sah Chief Inspector Gamache direkt in die Augen. Und erneut fiel ihr die tiefe Narbe an seiner Schläfe auf. Und der ruhige, nachdenkliche Blick.

»Es schien nur ein kleines Opfer zu sein. Dann fand die Studentenausstellung statt. Ich stellte ein paar Arbeiten aus, Lillian nicht. Stattdessen beschloss sie, als Hausarbeit für das Theorieseminar, das sie belegt hatte, eine Kritik für die Studentenzeitung zu schreiben. In dieser Kritik äußerte sie sich lobend über einige Arbeiten der anderen Studenten, meine dagegen zerriss sie in der Luft. Sie schrieb, sie seien nichtssagend, ohne jedes Gefühl. Dass ich nur auf Nummer sicher ginge.«

Noch immer konnte Clara die Wut spüren, die ihn ihr aufgelodert war.

Ihre Freundschaft war zerbrochen. In unkenntlich kleine Stücke. Nicht mehr zu kitten.

Doch was sich aus diesem Scherbenhaufen erhob, war eine sehr, sehr tief gehende Feindschaft. Hass. Der offenbar auf Gegenseitigkeit beruhte.

Clara verstummte, selbst jetzt zitterte sie noch. Peter streckte die Hand aus und löste ihre verkrampften Finger, nahm ihre Hand und strich darüber.

Die Sonne brannte weiter vom Himmel herunter, und Gamache stand auf und bedeutete ihnen mit einer Geste, dass sie ihre Stühle in den Schatten schieben sollten. Clara erhob sich, warf Peter ein kurzes Lächeln zu und entzog ihm ihre Hand. Jeder nahm seinen Stuhl und trug ihn zum Ufer des Flusses, wo es kühler und schattiger war.

»Ich denke, wir sollten eine kleine Pause machen«, sagte Gamache. »Wollen Sie etwas trinken?«

Clara nickte stumm, noch hatte sie ihre Stimme nicht wiedergefunden.

»Bon«, sagte Gamache und blickte zum Team der Spurensicherung. »Die können sicher auch eine Erfrischung vertragen. Holen Sie doch ein paar Sandwiches aus dem Bistro«, fuhr er an Beauvoir gerichtet fort, »Peter und ich kümmern uns inzwischen um die Getränke.«

Peter ging mit dem Chief Inspector zum Haus, während Beauvoir sich zum Bistro aufmachte und Clara langsam am Flussufer entlangging, allein mit ihren Gedanken.

»Kannten Sie Lillian?«, fragte Gamache, sobald Peter und er in der Küche waren.

»Ja.« Peter holte zwei große Krüge und einige Gläser, während Gamache das hellrosa Limonadenkonzentrat aus dem Gefrierfach nahm und auf die Krüge verteilte. »Wir haben uns alle an der Kunstakademie kennengelernt.«

»Was haben Sie von ihr gehalten?«

Peter schob konzentriert die Unterlippe vor. »Sie war sehr attraktiv, temperamentvoll trifft es wohl am besten. Eine starke Persönlichkeit.«

»Fühlten Sie sich von ihr angezogen?«

Die beiden Männer standen Seite an Seite am Küchentresen und sahen aus dem Fenster. Rechts von ihnen konnten sie die Kriminaltechniker sehen, die den Tatort untersuchten, und geradeaus war Clara, die Steine in den Bella Bella warf.

»Es gibt etwas, was Clara nicht weiß«, sagte Peter, wandte den Blick von seiner Frau ab und sah Gamache an.

Der Chief Inspector wartete. Er spürte, wie Peter mit sich rang, und ließ das Schweigen andauern. Es war besser, ein paar Minuten auf die volle Wahrheit zu warten, als den anderen zu drängen und damit zu riskieren, nur die halbe zu hören.

Schließlich blickte Peter wieder auf die Spüle und begann die Limonadenkrüge mit Wasser zu füllen. Er murmelte etwas in den Wasserstrahl.

»Verzeihung?«, sagte Gamache mit ruhiger, sachlicher Stimme.

»Ich war es, der Lillian gesagt hat, dass Claras Arbeiten albern sind«, sagte Peter und hob Kopf und Stimme. Ärgerlich jetzt, auf sich selbst, weil er es getan hatte, und auf Gamache, weil der ihn dazu gebracht hatte, es zu gestehen. »Ich meinte, Claras Arbeiten seien banal und oberflächlich. An dem, was Lillian in ihrer Kritik schrieb, war ich schuld.«

Gamache war überrascht. Genauer gesagt bestürzt. Als Peter gesagt hatte, es gebe etwas, was Clara nicht wisse, hatte der Chief Inspector an eine Affäre gedacht. Ein kurzes Techtelmechtel zwischen Peter und Lillian während des Studiums.

Mit so etwas hatte er nicht gerechnet.

»Ich war in dieser Studentenausstellung gewesen und hatte Claras Arbeiten gesehen«, fuhr Peter fort. »Ich stand neben Lillian und ein paar anderen, und sie kicherten. Dann sahen sie mich an und wollten wissen, was ich davon hielt. Clara und ich waren seit Kurzem zusammen, und ich denke, mir war damals schon klar, dass Clara authentisch war. Sie gab nicht vor, eine Künstlerin zu sein, sondern sie war wirklich eine. Sie war aus ihrer Seele heraus kreativ. Ist sie immer noch.«

Peter hielt inne. Er sprach nicht oft von so etwas wie Seele. Doch das war es, was ihm in den Sinn kam, wenn er an Clara dachte. Eine Seele.

»Ich weiß nicht, was über mich kam. Manchmal, wenn es ganz still ist, würde ich am liebsten schreien. Und manchmal, wenn ich etwas sehr Zerbrechliches in Händen halte, würde ich es am liebsten fallen lassen. Ich weiß nicht, warum.«

Er sah den großen, ruhigen Mann neben sich an. Doch noch immer schwieg Gamache. Hörte nur zu.

Peter atmete ein paarmal rasch ein und aus. »Wahrscheinlich wollte ich die anderen beeindrucken, und es ist leichter, schlau dazustehen, wenn man jemanden kritisiert. Deshalb sagte ich ein paar nicht besonders nette Dinge über Claras Arbeiten, und sie landeten ohne Umweg in Lillians Kritik.«

»Clara weiß nichts davon?«

Peter schüttelte den Kopf. »Danach haben sie und Lillian kaum noch miteinander gesprochen, während unsere Beziehung immer enger wurde. Ich schaffte es sogar zu vergessen, dass es passiert war oder dass es eine Rolle spielte. Genau genommen habe ich mir eingeredet, dass ich Clara einen Gefallen getan hatte. Der Bruch mit Lillian machte sie frei für ihre eigene Kunst. Alles auszuprobieren, was sie wollte. Richtig zu experimentieren. Und Sie sehen ja, wohin es sie gebracht hat. Eine Einzelausstellung im Musée.«

»Rechnen Sie sich das als Verdienst an?«

»Ich habe sie all die Jahre unterstützt«, sagte Peter, und in seine Stimme schlich sich ein defensiver Unterton. »Wo wäre sie ohne diese Unterstützung?«

»Ohne Sie?«, fragte Gamache. Jetzt drehte er sich um und sah dem aufgebrachten Mann ins Gesicht. »Ich habe keine Ahnung. Sie?«

Peter ballte die Hände zu Fäusten.

»Was wurde nach der Kunstakademie aus Lillian?«, fragte der Chief Inspector.

»Sie war keine besonders gute Künstlerin, aber eine sehr gute Kritikerin, wie sich herausstellte. Sie bekam eine Stelle bei einer der Wochenzeitungen in Montréal und arbeitete sich hoch, bis sie schließlich bei La Presse landete.«

Gamache hob die Augenbrauen. »La Presse? Die Kritiken lese ich regelmäßig, aber ich kann mich an keine von einer Lillian Dyson erinnern. Benutzte sie einen nom de plume

»Nein«, sagte Peter. »Es ist Jahre, nein, Jahrzehnte her, dass sie für die Zeitung gearbeitet hat. Damals standen wir alle noch am Anfang. Vor zwanzig Jahren oder noch länger.«

»Und was war dann?«

»Der Kontakt ist abgerissen«, sagte Peter. »Wir haben sie nur noch auf irgendwelchen Vernissagen gesehen, und selbst da sind Clara und ich ihr ausgewichen. Wir waren freundlich, wenn es sich nicht vermeiden ließ, aber wir gingen ihr lieber aus dem Weg.«

»Wissen Sie, wie es ihr ergangen ist? Sie sagten gerade, dass sie schon lange nicht mehr für La Presse gearbeitet hat. Was hat sie danach gemacht?«

»Soweit ich weiß, ist sie nach New York gezogen. Ihr war wohl klar geworden, dass das hier nicht das richtige Klima für sie war.«

»Zu kalt?«

Peter lächelte. »Nein. Eher zu muffig. Mit Klima meine ich das künstlerische Klima. Als Kritikerin hatte sie sich nicht viele Freunde gemacht.«

»Ich vermute, das ist der Preis, den man als Kunstkritiker zahlt.«

»Vermutlich.«

Aber Peter klang nicht überzeugt.

»Was ist?«, hakte der Chief Inspector nach.

»Es gibt viele Kritiker, und die meisten werden von der Künstlergemeinde respektiert. Sie sind fair, konstruktiv. Nur sehr wenige sind gemein.«

»Und Lillian Dyson?«

»Sie war gemein. Sie konnte Kritiken schreiben, die luzide und durchdacht waren, konstruktiv, sogar enthusiastisch. Aber hin und wieder hat sie einen gnadenlosen Verriss vom Stapel gelassen. Anfangs war das amüsant, aber nach und nach machte es immer weniger Spaß, als klar wurde, dass sie ihre Ziele willkürlich aussuchte. Und dass ihre Attacken bösartig waren. Wie die gegen Clara. Unfair.«

Gamache fiel auf, dass er seine Rolle in dieser Angelegenheit bereits verdrängt zu haben schien.

»Hat sie jemals über eine Ihrer Ausstellungen geschrieben?«

Peter nickte. »Sie hat ihr gefallen.« Er wurde rot. »Wobei ich immer den Verdacht hatte, dass sie nur deshalb eine Lobeshymne verfasst hat, um Clara zu ärgern. Dass sie hoffte, sie könnte einen Keil zwischen uns treiben. Weil sie selbst so engherzig und eifersüchtig war, nahm sie an, Clara wäre es auch.«

»Sie war es nicht?«

»Clara? Verstehen Sie mich nicht falsch, sie kann einen wahnsinnig machen. Sie ist eine Nervensäge, ungeduldig, unsicher. Aber für andere freut sie sich immer. Sie freut sich für mich.«

»Und freuen Sie sich für sie?«

»Natürlich. Sie verdient den Erfolg.«

Das war eine Lüge. Nicht dass sie ihren Erfolg verdiente. Gamache wusste, dass das stimmte. Genauso wie Peter. Aber die beiden Männer wussten auch, dass er sich keineswegs darüber freute.

Gamache hatte nicht gefragt, weil er die Antwort nicht kannte, sondern weil er wissen wollte, ob Peter ihn anlügen würde.

Er hatte es getan. Und wenn er an dieser Stelle log, wo noch?

Gamache, Beauvoir und die Morrows setzten sich zum Mittagessen in den Garten. Die Kriminaltechniker auf der anderen Seite der Blumenbeete waren mit Limonade und Sandwiches aus dem Bistro versorgt, aber für die vier hatte Olivier sich etwas Besonderes einfallen lassen und es Beauvoir mitgegeben. Und so war der Inspector mit einer eisgekühlten Gurken-Melonen-Suppe mit Minze, Tomaten-Basilikum-Salat mit Balsamico und kaltem pochiertem Lachs zurückgekommen.

Es war eine idyllische Szenerie, die nur hin und wieder durch einen vorbeigehenden oder zwischen den Blumen auftauchenden Mordermittler gestört wurde.

Gamache hatte dafür gesorgt, dass Peter und Clara mit dem Rücken zum Tatort saßen und nur Beauvoir und er den Kollegen bei der Arbeit zusehen konnten, aber dann wurde ihm klar, dass das Augenwischerei war. Die Morrows wussten ganz genau, dass der hübsche Ausblick, der Fluss, die späten Frühlingsblumen, der stille Wald, nicht das ganze Bild erfasste.

Und falls sie es doch vergessen hatten, würde sie das Gespräch wieder daran erinnern.

»Wann haben Sie das letzte Mal etwas von Lillian gehört?«, fragte Gamache, während er mit der Gabel ein Stück rosa Lachs aufspießte und einen Klecks Mayonnaise daraufgab. Seine Stimme klang sanft, sein Blick war nachdenklich. Sein Gesicht freundlich.

Clara ließ sich jedoch nicht täuschen. Gamache mochte höflich sein, er mochte freundlich sein, aber er verdiente seinen Lebensunterhalt damit, Mörder aufzuspüren. Und das tat man nicht, indem man einfach nur nett war.

»Das ist Jahre her«, sagte Clara.

Sie probierte einen Löffel von der kalten, erfrischenden Suppe. Sie fragte sich, ob es richtig war, so hungrig zu sein. Solange es sich bei der Leiche um eine unbekannte Frau gehandelt hatte, hatte sie seltsamerweise keinen Appetit gehabt. Jetzt, wo es Lillian war, überkam sie ein Bärenhunger.

Sie griff nach einem Baguette, riss ein Stück ab und bestrich es mit Butter.

»Meinen Sie, es war Absicht?«, fragte sie.

»Was war Absicht?«, fragte Beauvoir zurück. Er stocherte lustlos auf seinem Teller herum. Vor dem Essen war er ins Bad gegangen und hatte eine Schmerztablette geschluckt. Er wollte nicht, dass der Chef es mitbekam. Er sollte nicht wissen, dass er immer noch Schmerzen hatte, so viele Monate nach der Schießerei.

Als er jetzt im kühlen Schatten saß, spürte er, dass der Schmerz nachließ und die Anspannung von ihm abzufallen begann.

»Was meinen Sie denn?«, fragte Gamache.

»Ich glaube irgendwie nicht, dass Lillian zufällig hier umgebracht wurde«, sagte Clara.

Sie drehte sich auf ihrem Stuhl herum und sah, dass sich zwischen den dunkelgrünen Blättern etwas bewegte. Polizisten, die versuchten, die einzelnen Teile des Puzzles zusammenzusetzen.

Lillian war hierhergekommen. Am Abend der Party. Und war ermordet worden.

So viel stand außer Zweifel.

Beauvoir beobachtete, wie Clara sich auf ihrem Stuhl umdrehte. Er war einer Meinung mit ihr. Es war in der Tat seltsam.

Die einzige passende Erklärung wäre, dass Clara selbst die Frau umgebracht hatte. Es war ihr Haus, ihre Party und ihre ehemalige Freundin. Sie hatte Motiv und Gelegenheit. Aber Beauvoir wusste nicht, wie viele kleine Pillen er schlucken müsste, bevor er glaubte, dass Clara eine Mörderin war. Er wusste, dass die meisten Menschen zu einem Mord fähig waren. Und im Gegensatz zu Gamache, der an die Existenz des Guten glaubte, wusste Beauvoir, dass es sich dabei um einen vorübergehenden Zustand handelte. Solange die Sonne schien und pochierter Lachs auf dem Teller lag, konnten die Leute leicht gut sein.

Aber wenn man all das wegnahm, sah die Sache anders aus. Wenn man das Essen wegnahm, die Stühle, die Blumen, das Zuhause. Die Freunde, den fürsorglichen Ehepartner, das Einkommen. Dann sah die Sache ganz anders aus.

Der Chef glaubte, wenn man sich durch das Böse wühlte, fand man ganz unten am Boden das Gute. Er glaubte, dass das Böse seine Grenzen hatte. Beauvoir glaubte etwas anderes. Wenn man sich durch das Gute wühlte, stieß man auf das Böse. Ohne Grenzen, ohne Hemmschwelle, ohne Einschränkung.

Und jeden Tag machte es ihm aufs Neue Angst, dass Gamache das nicht erkannte. Dass er blind dafür war. Weil aus blinden Flecken furchtbare Dinge hervortraten.

Kaum sieben Meter entfernt von der Stelle, an der sie ein nettes Picknick machten, hatte jemand eine Frau umgebracht. Es war mit Absicht geschehen, mit bloßen Händen. Und es war mit ziemlicher Sicherheit kein Zufall, dass Lillian Dyson hier gestorben war. In Clara Morrows idyllischem Garten.

»Könnten Sie uns eine Liste der Gäste geben, die auf Ihrer Vernissage waren und danach auf der Grillparty?«, fragte Gamache.

»Na ja, wir können Ihnen sagen, wen wir eingeladen haben, aber die vollständige Liste müssen Sie sich vom Musée geben lassen«, sagte Peter. »Was die Party hier in Three Pines betrifft …«

Er sah Clara an, die grinste.

»Wir haben keine Ahnung, wer alles da war«, gestand sie. »Das ganze Dorf war eingeladen und die halbe Township. Die Leute sind nach Lust und Laune gekommen und gegangen.«

»Aber Sie haben gesagt, dass ein paar Leute von der Ausstellungseröffnung in Montréal herkamen«, sagte Gamache.

»Stimmt«, erwiderte Clara. »Wen wir eingeladen haben, kann ich Ihnen sagen. Ich mache eine Liste.«

»Nicht jeder von der Vernissage war zu der Party eingeladen?«, fragte Gamache. Reine-Marie und er waren eingeladen gewesen, ebenso Beauvoir. Sie hatten es nicht geschafft, aber er war davon ausgegangen, dass es eine allgemeine Einladung war. Offensichtlich war das nicht der Fall.

»Nein. Eine Vernissage ist dazu da, um zu arbeiten, Kontakte zu knüpfen, Small Talk zu machen«, sagte Clara. »Auf der Party sollte es ungezwungener zugehen. Wir wollten feiern.«

»Ja, aber …«, setzte Peter an.

»Was?«, fragte Clara.

»André Castonguay?«

»Ach ja, der.«

»Von der Galerie Castonguay?«, fragte Gamache. »Er war dort?«

»Und hier«, sagte Peter.

Clara nicke. Sie hatte Peter nicht gestanden, dass sie Castonguay und einige andere Galeristen nur seinetwegen zu der Grillparty eingeladen hatte. In der Hoffnung, sie würden ihm eine Chance geben.

»Ich habe ein paar von den wichtigen Leuten eingeladen«, sagte Clara. »Und ein paar Künstler. Es war sehr lustig.«

Sogar sie hatte sich amüsiert. Es war erstaunlich zu beobachten, wie Myrna mit François Marois plauderte und Ruth mit einigen betrunkenen Künstlerfreunden Beleidigungen austauschte. Zuzusehen, wie Billy Williams und die Farmer aus der Gegend sich mit eleganten Galeristinnen unterhielten und lachten.

Und als es Mitternacht schlug, hatten alle getanzt.

Außer Lillian, die in Claras Garten lag.

Ding, dong, dachte Clara.

Die Hexe ist tot.

Bei Sonnenaufgang

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