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»Bemerkenswert, finden Sie nicht?«

Armand Gamache drehte sich zu dem eleganten älteren Herrn neben ihm.

»Ja«, sagte der Chief Inspector und nickte. Einen Moment lang schwiegen die beiden Männer und betrachteten das vor ihnen hängende Gemälde. Die Veranstaltung war in vollem Gang, alle redeten, lachten – Freunde, die sich wiedertrafen, Fremde, die einander vorgestellt wurden.

Aber um die beiden Männer war es friedlich, als stünden sie in einer Oase der Stille.

Zufällig oder nicht, waren beide vor dem Herzstück von Clara Morrows Ausstellung stehen geblieben. Im Hauptsaal des Musée d’art contemporain hingen über die weißen Wände verteilt ihre Arbeiten, in erster Linie Porträts. Einige dicht beieinander, wie kleine Grüppchen. Andere hingen allein, isoliert. So wie dieses.

Das bescheidenste Porträt an der größten Wand.

Ohne Konkurrenz, ohne Gesellschaft. Ein Inselstaat. Ein Herrscherporträt.

Allein für sich.

»Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie es betrachten?«, fragte der Mann und richtete seinen scharfen Blick auf Gamache.

Der Chief Inspector lächelte. »Na ja, ich sehe es nicht zum ersten Mal. Wir sind mit den Morrows befreundet, und ich war dabei, als sie es das erste Mal aus ihrem Atelier geholt hat.«

»Sie Glücklicher.«

Gamache nippte an dem sehr guten Rotwein und stimmte ihm zu. Es war ein Glücksmoment gewesen.

»François Marois.« Der Herr streckte die Hand aus.

»Armand Gamache.«

Jetzt sah der Mann den Chief Inspector genauer an und nickte.

»Désolé. Ich hätte Sie erkennen müssen, Chief Inspector.«

»Nein, keineswegs. Ich freue mich immer, wenn die Leute mich nicht erkennen.« Gamache lächelte. »Sind Sie auch Künstler?«

Er sah eher aus wie ein Banker. Vielleicht war er ein Sammler, also am anderen Ende der Nahrungskette der Kunst. Er war Anfang siebzig, schätzte Gamache. Wohlhabend. Maßanzug, Seidenkrawatte. Ein Hauch eines teuren Parfüms umwehte ihn. Die wenigen übrig gebliebenen Haare waren tadellos frisiert und frisch geschnitten, er war glatt rasiert und hatte intelligente blaue Augen. All das erfasste Chief Inspector Gamache mit einem Blick. François Marois wirkte zugleich lebhaft und zurückgenommen. Heimisch in dieser exklusiven, ziemlich abgehobenen Umgebung.

Gamache warf einen Blick in den Saal, in dem sich Männer und Frauen drängten, herumspazierten, plauderten, Tabletts mit Horsd’œuvres und Weingläsern balanciert wurden. In der Mitte der Saals standen zwei unbequeme Designerbänke. Mehr Form als Funktion. Am gegenüberliegenden Ende sah er Reine-Marie im Gespräch mit einer anderen Frau. Er entdeckte Annie. David war gerade eingetroffen und zog seinen Mantel aus, dann ging er zu ihr. Gamaches Blick wanderte weiter, bis er auf Gabri und Olivier stieß, die eng beieinanderstanden. Er fragte sich, ob er zu ihnen gehen und mit Olivier reden sollte.

Und dann? Sich noch einmal entschuldigen?

Hatte Reine-Marie recht gehabt? Suchte er nach Vergebung? Sühne? Wollte er, dass sein Fehler von der Liste seiner Verfehlungen gelöscht wurde? Die Liste, die er tief in sich bewahrte und tagtäglich ergänzte.

Sein Schuldkonto.

Wollte er, dass dieser Fehler getilgt wurde?

Er konnte auch gut ohne Oliviers Vergebung leben. Aber als er ihn jetzt sah, überlief ihn ein leichter Schauer, und er fragte sich, ob er doch Vergebung wollte. Und er fragte sich, ob Olivier bereit war, sie ihm zu gewähren.

Sein Blick kehrte zu dem Mann neben ihm zurück.

Gamache fand es interessant, dass die besten Kunstwerke den Menschen und die Natur behandelten, sei es die menschliche oder eine andere, Museen und Galerien dagegen oft kalt und streng wirkten. Weder einladend noch natürlich.

Und doch schien Monsieur Marois sich wohlzufühlen. Marmor und scharfe Kanten schienen zu seinem natürlichen Lebensraum gehören.

»Nein«, antwortete Marois auf Gamaches Frage. »Ich bin kein Künstler.« Er lachte leise. »Ich fürchte, ich bin nicht einmal kreativ. Wie die meisten meiner Kollegen habe ich in meiner frühen Jugend in den Künsten dilettiert und sofort einen unerklärlichen, profunden Mangel an Talent in mir festgestellt. Es war ein Schock, offen gestanden.«

Gamache lachte. »Was führt Sie dann hierher?«

Heute war die Preview, morgen würde die offizielle Ausstellungseröffnung sein. Nur Auserwählte wurden zu solchen Previews eingeladen, wie Gamache wusste, besonders im berühmten Musée in Montréal. Die Vermögenden, die Einflussreichen, die Freunde und die Familie des Künstlers. Und der Künstler selbst. In genau dieser Reihenfolge.

Von einem Künstler wurde auf einer Vernissage wenig erwartet. Die meisten Kuratoren schätzten sich schon glücklich, wenn sie angezogen und nüchtern waren. Gamache warf einen Blick zu Clara, die in ihrem eng geschnittenen, leicht verunfallt aussehenden Kostüm verschreckt und derangiert wirkte. Der Rock war verdreht und der Blazerkragen hatte sich hochgeschoppt, so als hätte sie versucht, sich zwischen den Schulterblättern zu kratzen.

»Ich bin Kunsthändler.« Der Mann zog eine Visitenkarte hervor, und Gamache nahm sie und betrachtete den ecrufarbenen Karton. Nur Name und Telefonnummer des Mannes standen in schwarzer Prägung darauf. Sonst nichts. Der Karton hatte eine Leinenstruktur. Exklusiv. Für eine exklusive Adresse zweifellos.

»Kennen Sie Claras Arbeiten?«, fragte Gamache und schob die Karte in seine Brusttasche.

»Nein, überhaupt nicht. Ich bin mit der Chefkuratorin des Musée befreundet, und sie hat mir einen Katalog zukommen lassen. Ich war bass erstaunt. Es heißt darin, dass Madame Morrow beinahe fünfzig ist und schon ihr Leben lang in Québec lebt. Trotzdem scheint niemand sie zu kennen. Sie kommt geradewegs aus dem Nichts.«

»Nein, nein, sie kommt geradewegs aus Three Pines«, sagte Gamache, und auf den fragenden Blick seines Gesprächspartners hin erklärte er: »Das ist ein winziges Dorf südlich von Montréal. An der Grenze zu Vermont. Nicht viele Leute kennen es.«

»Wie Madame Morrow. Eine unbekannte Künstlerin aus einem unbekannten Dorf. Und doch …«

Monsieur Marois breitete die Arme aus, in einer eleganten und vielsagenden Geste, die die Umgebung und die Feier umfasste.

Beide wandten sich wieder dem Porträt zu. Es zeigte den Kopf und die knochigen Schultern einer sehr alten Frau. Eine geäderte, arthritische Hand umklammerte einen zerschlissenen blauen Schal um ihren Hals. Er war verrutscht und legte die über Schüsselbein und Sehnen gespannte Haut frei.

Was die beiden Männer fesselte, war jedoch das Gesicht der Frau.

Sie starrte sie an. Die vielen Gäste, die mit ihren Gläsern anstießen, sich angeregt unterhielten. Das fröhliche Treiben.

Sie war wütend. Voller Ressentiment. Zornig über das, was sie hörte und sah. Die Fröhlichkeit um sie herum. Das Lachen. Zornig auf die Welt, von der sie zurückgelassen worden war. Die sie allein an diese Wand verbannt hatte. Wo sie zusehen und zuhören musste und nie dazugehören würde.

Das hier war ein unendlich gequälter großer Geist, ähnlich dem gefesselten Prometheus, der bitter und engherzig geworden war.

Gamache hörte ein leises Seufzen neben sich und wusste, was es bedeutete. Der Kunsthändler François Marois hatte begriffen, worum es in dem Gemälde ging. Nicht die offenkundige Wut, die sich allen offenbarte, sondern etwas Komplexeres und Subtileres. Marois hatte es erkannt. Was Clara tatsächlich erschaffen hatte.

»Mon Dieu«, hauchte Monsieur Marois. »Mein Gott.«

Er sah von dem Gemälde zu Gamache.

Am anderen Ende des Saals stand Clara, nickte und lächelte und bekam so gut wie nichts mit.

In ihren Ohren rauschte es, vor ihren Augen verschwamm alles, und ihre Hände waren taub. Gleich würde sie ohnmächtig werden.

Tief einatmen, wiederholte sie. Tief ausatmen.

Peter hatte ihr ein Glas Wein gebracht, und ihre Freundin Myrna hatte ihr einen Teller mit Horsd’œuvres hingehalten, aber Clara zitterte so sehr, dass sie beides zurückgeben musste.

Sie konzentrierte sich darauf, nicht allzu dement zu wirken. Ihr neues Kostüm kratzte, und sie fand, dass sie wie eine Buchhalterin aussah. Aus dem früheren Ostblock. Oder eine Maoistin. Eine maoistische Buchhalterin.

Nicht, dass sie diesen Look angestrebt hatte, als sie das Kostüm in einer dieser Chichi-Boutiquen in der Rue Saint-Denis in Montréal gekauft hatte. Sie hatte einfach mal etwas anderes gewollt als ihre üblichen Schlabberröcke und -kleider. Etwas Schickes und Elegantes. Minimalistisch. Etwas, das zusammenpasste.

Im Laden hatte sie einfach toll ausgesehen, sie hatte im Spiegel die lächelnde Verkäuferin angelächelt und ihr alles von der drohenden Einzelausstellung erzählt. Jedem erzählte sie davon. Taxifahrern, Kellnern, dem Jungen, der im Bus neben ihr saß und nichts davon mitbekam, weil er über die Ohrstöpsel seines iPods Musik hörte. Das war Clara egal gewesen. Sie hatte es ihm trotzdem erzählt.

Und jetzt war der Tag endlich gekommen.

Als sie an diesem Morgen in ihrem Garten in Three Pines gesessen hatte, hatte sie sich den Gedanken gestattet, dass es ein besonderer Tag werden könnte. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie durch die riesigen Milchglastüren trat und von frenetischem Applaus empfangen wurde. Dass sie in ihrem neuen Kostüm phantastisch aussah. Die Kunstszene war hingerissen. Kritiker und Kuratoren eilten beflissen auf sie zu, um sich wenigstens einen Moment in ihrer Gegenwart zu sonnen. Sie schubsten sich gegenseitig weg, um ihr gratulieren zu können. Bemüht, die richtigen Worte zu finden, les mots justes, um ihre Gemälde zu beschreiben.

Formidable. Brillant. Überragend. Genial.

Meisterwerke, allesamt Meisterwerke.

Clara hatte in ihrem stillen Garten die Augen geschlossen, das Gesicht der gerade aufgegangenen Sonne zugewandt und gelächelt.

Der Traum wurde wahr.

Wildfremde würden an ihren Lippen hängen. Einige würden sich sogar Notizen machen. Um Rat fragen. Entzückt würden sie zuhören, während sie von ihren Visionen, ihrer Philosophie sprach, ihren Einsichten in die Kunstwelt, wohin sie sich entwickelte, woher sie kam.

Man würde sie, die kluge und schöne Frau, bewundern und achten. Elegante Frauen würden sie fragen, wo sie das Kostüm gekauft hatte. Sie würde eine Bewegung auslösen. Einen Trend.

Stattdessen fühlte sie sich jetzt wie eine derangierte Braut auf einer gefloppten Hochzeit. Auf der die Gäste sie ignorierten und sich ausschließlich dem Essen und Trinken widmeten. Auf der keiner ihren Strauß fangen oder sie zum Altar führen wollte. Oder mit ihr tanzen. Und auf der sie aussah wie eine maoistische Buchhalterin.

Sie kratzte sich am Oberschenkel und schmierte sich pâté in die Haare. Dann sah sie auf ihre Uhr.

Himmel, noch eine Stunde.

Nein, nein, nein, dachte Clara. Es ging nur noch ums Überleben. Darum, den Kopf über Wasser zu halten. Nicht in Ohnmacht zu fallen, zu kotzen oder zu pinkeln. Ihr neues Ziel war, bei Bewusstsein und kontinent zu bleiben.

»Wenigstens stehst du nicht in Flammen.«

»Was?« Clara drehte sich zu der sehr dicken schwarzen Frau in dem knallgrünen Kaftan um. Es war ihre Freundin und Nachbarin Myrna Landers. Die pensionierte Psychologin aus Montréal führte den Buchladen mit Antiquariat in Three Pines.

»Im Moment«, sagte Myrna. »Du stehst nicht in Flammen.«

»Sehr wahr. Und genau beobachtet. Ich fliege auch nicht. Ich tue ganz vieles nicht.«

»Und ganz vieles schon«, sagte Myrna lachend.

»Werd jetzt bloß nicht beleidigend«, sagte Clara.

Myrna schwieg und betrachtete Clara einen Moment. Fast jeden Tag kam Clara in Myrnas Buchladen, um eine Tasse Tee zu trinken und zu plaudern. Oder Myrna kam zu Peter und Clara zum Abendessen.

Aber heute war es anders. Dieser Tag unterschied sich von jedem anderen in Claras bisherigem Leben, und möglicherweise würde niemals wieder einer so sein wie bisher. Myrna kannte Claras Ängste, ihre Unzulänglichkeiten, ihre Enttäuschungen. So wie Clara die von Myrna kannte.

Und sie kannten auch die Träume der jeweils anderen.

»Ich weiß, dass das schwierig für dich ist«, sagte Myrna. Sie stand direkt vor Clara und versperrte ihr mit ihrem mächtigen Leib den Blick in den Saal. Sie war eine große grüne Kugel, die das laute Partyvolk ausblendete. Auf einmal waren sie in ihrer eigenen kleinen Welt.

»Ich wollte, dass es perfekt ist«, sagte Clara leise und hoffte, dass sie nicht anfangen würde zu heulen. Wenn andere kleine Mädchen von ihrer Hochzeit träumten, hatte Clara von einer Einzelausstellung geträumt. Im Musée. Hier. Sie hatte sich das Ganze nur anders vorgestellt.

»Und wer sagt, dass es nicht perfekt ist? Was stimmt denn nicht?«

Clara dachte einen Moment nach. »Dass ich solche Angst habe.«

»Und was ist das Schlimmste, was passieren kann?«, fragte Myrna ruhig.

»Dass den Leuten meine Arbeiten nicht gefallen, dass sie denken, dass ich kein Talent habe und doof bin. Eine Witzfigur. Dass die Ausstellung ein furchtbarer Fehler ist. Dass die Ausstellung ein Misserfolg wird und ich mich lächerlich mache.«

»Und?«, sagte Myrna mit einem Lächeln. »Das kann man alles überleben. Was würdest du dann tun?«

Clara dachte einen Moment nach. »Ich würde mich mit Peter zusammen ins Auto setzen und zurück nach Three Pines fahren.«

»Und dann?«

»Dann würde ich mit meinen Freunden weiterfeiern.«

»Und dann?«

»Morgen früh würde ich aufstehen …« Claras Stimme verlor sich, als sie ihr postapokalyptisches Leben vor sich sah. Sie würde morgen in ihrem ruhigen Leben in dem winzigen Dorf aufwachen. Zurückkehren in ein Leben, in dem sie mit dem Hund spazieren ging, im Bistro mit einem Drink auf der Terrasse saß oder mit Café au Lait und Croissants vor dem Kamin. In dem sie mit Freunden zu Abend aß. In ihrem Garten saß. Las, nachdachte.

Bilder malte.

An alldem würde sich durch das, was hier geschah, nichts ändern.

»Wenigstens stehe ich nicht in Flammen«, sagte sie und grinste.

Myrna nahm Claras Hände und hielt sie einen Moment fest. »Die meisten Leute würden für einen solchen Tag einen Mord begehen. Lass ihn nicht vorübergehen, ohne dich zu amüsieren. Deine Arbeiten sind Meisterwerke, Clara.«

Clara drückte die Hand ihrer Freundin. In all den Jahren und Monaten, an all den stillen Tagen, als niemand sich für das interessiert hatte, was Clara in ihrem Atelier machte, es nicht mal wahrgenommen wurde, war Myrna da gewesen. Und in diese Stille hinein hatte sie geflüstert:

»Deine Arbeiten sind Meisterwerke.«

Und Clara hatte all ihren Mut zusammengenommen und ihr geglaubt. Und es gewagt weiterzumachen. Angetrieben von ihren Träumen und dieser sanften, beruhigenden Stimme.

Jetzt trat Myrna zur Seite und gab den Blick auf einen völlig neuen Raum frei. Einen, der mit Menschen und nicht mit Bedrohungen gefüllt war. Menschen, die sich amüsierten, sich freuten. Die da waren, um Clara Morrows erste Einzelausstellung im Musée zu feiern.

»Merde«, brüllte ein Mann der neben ihm stehenden Frau ins Ohr, in dem Versuch, sich über den allgemeinen Geräuschpegel hinweg verständlich zu machen. »Die Dinger sind doch scheiße. Nicht zu fassen, dass die Morrow eine Einzelausstellung gekriegt hat.«

Die Frau neben ihm schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. Sie trug einen fließenden Rock und ein enges T-Shirt, um Hals und Schultern hatte sie Tücher drapiert. In ihren Ohren steckten Kreolen und an jedem Finger ein Ring.

An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit hätte man sie für eine Zigeunerin gehalten. Hier hielt man sie für das, was sie war. Eine mittelmäßig erfolgreiche Künstlerin.

Ihr Mann neben ihr, ebenfalls Künstler, bekleidet mit Cordhose und abgetragenem Jackett, um den Hals lässig einen Schal geschlungen, wandte sich wieder dem Bild zu.

»Fürchterlich.«

»Die arme Clara«, sagte seine Frau. »Die Kritiker werden sie in der Luft zerreißen.«

Jean-Guy Beauvoir, der mit dem Rücken zum Bild neben den beiden stand, drehte sich um und betrachtete es.

Es war das größte in einer Gruppe von Porträts. Drei Frauen, alle sehr alt, standen zusammen und lachten.

Sie blickten sich an, berührten einander, hielten sich bei den Händen oder am Arm, die Köpfe zueinander gebeugt. Worüber sie auch lachten, sie taten es gemeinsam. Gemeinsam würden sie auch etwas Schreckliches durchstehen. Egal was, sie hatten einander.

Mehr noch als Freundschaft, mehr als Freude und sogar Liebe brachte dieses Bild Intimität zum Ausdruck.

Jean-Guy drehte ihm schnell wieder den Rücken zu. Das konnte er nicht ertragen. Sein Blick wanderte durch den Saal, bis er sie erneut fand.

»Sieh sie dir an«, sagte der Mann mit höhnischem Blick. »Schön ist was anderes.«

Annie Gamache stand neben ihrem Mann am anderen Ende des überfüllten Saals. Sie lauschten einem älteren Herrn. David wirkte abwesend, gelangweilt. Annies Augen strahlten. Aufmerksam. Fasziniert.

Beauvoir spürte einen eifersüchtigen Stich. So sollte sie ihn ansehen.

Hier, befahl Beauvoirs innere Stimme. Schau hierher.

»Und wie sie lachen«, sagte der Mann hinter Beauvoir und musterte Claras Porträt der drei alten Frauen missbilligend. »Nicht besonders einfühlsam. Genauso gut hätte sie Clowns malen können.«

Die Frau neben ihm kicherte.

Auf der anderen Seite des Saals legte Annie Gamache eine Hand auf den Arm ihres Mannes, aber er schien es nicht zu bemerken.

Sanft legte Beauvoir seine Hand auf seinen Arm. So musste es sich anfühlen.

»Da sind Sie ja, Clara«, sagte die Chefkuratorin des Musée, fasste sie am Arm und führte sie von Myrna weg. »Herzlichen Glückwunsch. Die Ausstellung ist ein rauschender Erfolg!«

Clara kannte die Kunstszene gut genug, um zu wissen, dass das, was die einen »rauschender Erfolg« nannten, andere einfach als »so lala« bezeichnen würden. Aber immerhin war es besser als ein Tritt gegen das Schienbein.

»Meinen Sie?«

»Absolument. Die Leute sind begeistert.« Die Frau umarmte Clara heftig. Ihre Brille war aus zwei schmalen Rechtecken zusammengesetzt, und Clara fragte sich, ob sie die Welt mit einem Balken vor den Augen sah. Kleidung und strenge Kurzhaarfrisur passten perfekt zusammen. Das Gesicht war kalkweiß. Sie sah aus wie eine Installation auf zwei Beinen.

Aber sie war nett, und Clara mochte sie.

»Sehr schön«, sagte die Kuratorin und trat einen Schritt zurück, um Claras neuen Look zu betrachten. »Gefällt mir. Schick, so retro. Sie sehen aus wie …« Sie zeichnete mit einer Hand einen engen Kreis, suchte nach dem richtigen Namen.

»Audrey Hepburn?«

»C’est ça«, die Kuratorin schlug die Hände zusammen und lachte. »Sie sind eine wahre Trendsetterin.«

Auch Clara lachte und war spontan ein bisschen verliebt. Am anderen Ende des Saals sah sie Olivier, wie üblich stand Gabri neben ihm. Während der mit einem Unbekannten plauderte, starrte Olivier auf einen Punkt in der Menge.

Clara folgte seinem scharfen Blick. Er führte zu Armand Gamache.

»Also«, sagte die Kuratorin und legte ihren Arm um Claras Taille. »Wen darf ich Ihnen vorstellen?«

Bevor Clara antworten konnte, deutete die Frau auf verschiedene Leute.

»Die beiden kennen Sie wahrscheinlich.« Sie nickte in Richtung eines Paars mittleren Alters neben Beauvoir. Sie schienen wie gebannt von Claras Bild mit den drei Grazien. »Normand und Paulette. Sie arbeiten im Team. Er macht die Entwurfszeichnung, sie arbeitet sie aus.«

»Wie die alten Renaissancemeister.«

»Ein bisschen«, sagte die Kuratorin. »Oder eher wie Christo und Jeanne-Claude. Ein Künstlerpaar, das so reibungslos zusammenarbeitet, findet man selten. Sie sind ziemlich gut. Und sie scheinen Ihr Gemälde zu bewundern.«

Clara kannte die beiden und vermutete, dass »bewundern« nicht das Wort war, das sie benutzen würden.

»Wer ist das?«, fragte Clara und deutete auf den eleganten Herrn neben Gamache.

»François Marois.«

Clara riss die Augen auf und sah sich um. Warum drängten sich nicht alle um den berühmten Kunsthändler, um ein Wort mit ihm zu wechseln? Warum sprach nur Armand Gamache, der nicht einmal Künstler war, mit ihm? Vernissagen waren doch nicht dazu da, den ausstellenden Künstler zu feiern. Es gab sie, um Kontakte zu knüpfen. Und einen größeren Fang als François Marois konnte man nicht machen. Dann wurde ihr klar, dass ihn wahrscheinlich nur die wenigsten der Anwesenden überhaupt erkannten.

»Wahrscheinlich wissen Sie, dass er eigentlich nie auf Ausstellungen geht. Aber ich habe ihm einen Katalog geschickt, und er fand Ihre Arbeiten phantastisch.«

»Echt?«

Selbst wenn man das Kunst-Phantastisch ins Normale-Menschen-Phantastisch übersetzte, war es ein großes Kompliment.

»François kennt jeden mit Geld und Geschmack«, sagte die Kuratorin. »Das ist ein richtiger Coup. Wenn ihm Ihre Arbeit gefällt, sind Sie eine gemachte Frau.« Die Kuratorin sah genauer hin. »Aber den, mit dem er spricht, kenne ich nicht. Wahrscheinlich irgendein Kunstprof.«

Bevor Clara sagen konnte, dass der Mann kein Professor war, sah sie, wie Marois von dem Porträt zu Armand Gamache blickte. Er wirkte wie vom Donner gerührt.

Clara fragte sich, was er gesehen hatte. Und was das hieß.

»Und dort drüben«, sagte die Kuratorin und deutete in die entgegengesetzte Richtung, »steht André Castonguay, noch ein guter Fang.« Clara sah eine bekannte Figur der Quebecer Kunstszene. Während François Marois, die éminence grise der Szene, sich langsam aus dem Geschäft zurückzog, war André Castonguay, der ein wenig jünger, größer und kräftiger als Marois war, ein Hansdampf in allen Gassen. Jetzt stand Monsieur Castonguay inmitten einer Traube von Leuten. Den inneren Kreis bildeten die Kritiker einiger bedeutender Zeitungen. Dann kam die zweite Garde der Galeristen und Kritiker. Und den äußersten Kreis bildeten die Künstler.

Sie waren die Planeten und André Castonguay ihre Sonne.

»Ich werde Sie ihm vorstellen.«

»Phantastisch«, sagte Clara. Im Geist übersetzte sie dieses »phantastisch« in das, was sie eigentlich meinte. Merde.

»Kann das sein?« François Marois sah Chief Inspector Gamache fragend an.

Gamache lächelte und nickte.

Marois drehte sich wieder zu dem Porträt.

Der Geräuschpegel stieg immer höher, als mehr und mehr Leute sich in den Saal quetschten.

Aber François Marois hatte nur für ein Gesicht Augen. Das der enttäuschten alten Frau an der Wand. Voller Ablehnung und Verzweiflung.

»Das ist Maria, oder?«, fragte er beinahe flüsternd.

Chief Inspector Gamache war sich nicht ganz sicher, ob der Kunsthändler mit ihm sprach, daher erwiderte er nichts. Marois hatte gesehen, was den meisten entging.

Clara hatte nicht einfach das Porträt einer wütenden alten Frau gemalt. Sie hatte die Jungfrau Maria gemalt. Als alte Frau. Allein gelassen von einer Welt, die müde war und Angst vor Wundern hatte. Eine Welt, die zu beschäftigt war, um einen von einem Grab gewälzten Stein zu bemerken. Sie hatte sich anderen Wundern zugewandt.

Das war Maria in ihren letzten Jahren. Vergessen. Allein.

Die in einen Saal blickte, der mit fröhlichen, weintrinkenden Menschen gefüllt war. Menschen, die an ihr vorbeigingen.

Außer François Marois, der jetzt seine Augen von dem Gemälde losriss, um wieder zu Gamache zu blicken.

»Was hat Clara Morrow da getan?«, fragte er leise.

Gamache war einen Moment lang still und sammelte seine Gedanken, bevor er antwortete.

»Na, Schwachkopf.« Ruth Zardo hakte sich mit ihrem mageren Arm bei Jean-Guy Beauvoir unter. »Rücken Sie raus mit der Sprache, wie geht’s?«

Es war ein Befehl. Wenige hatten die Kraft, Ruth zu ignorieren. Allerdings wurden noch weniger jemals von Ruth gefragt, wie es ihnen ging.

»Danke, gut.«

»Blödsinn«, sagte die alte Dichterin. »Sie sehen scheiße aus. Dünn. Blass. Faltig.«

»Damit beschreiben Sie sich selbst, Sie alte Säuferin.«

Ruth Zardo gackerte. »Stimmt. Sie sehen aus wie eine böse alte Frau. Und das ist nicht als Kompliment gemeint, falls Sie das denken.«

Beauvoir lächelte. Er freute sich, Ruth wiederzusehen. Jetzt betrachtete er die große, magere alte Frau, die sich auf ihren Stock stützte. Sie hatte dünne weiße Haare, die so kurz geschnitten waren, dass darunter ihr Schädel zum Vorschein kam. Das passte, fand Beauvoir. Ruth verbarg nichts von dem, was ihr durch den Kopf ging. Sie verbarg nur das, was in ihrem Herzen vorging.

Doch es offenbarte sich in ihren Gedichten. Aus einem Beauvoir völlig rätselhaften Grund hatte Ruth für ihre Lyrik den Literaturpreis des Generalgouverneurs erhalten. Beides, der Preis und ihre Lyrik, war Beauvoir unbegreiflich. Glücklicherweise war Ruth selbst sehr viel leichter zu entschlüsseln.

»Was wollen Sie hier?«, fragte sie und fixierte ihn.

»Und Sie? Erzählen Sie mir nicht, dass Sie aus Solidarität mit Clara den weiten Weg von Three Pines gekommen sind.«

Ruth sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Natürlich nicht. Ich bin aus demselben Grund da wie der Rest der Belegschaft. Getränke und Essen umsonst. Aber ich hab fürs Erste genug. Gehen Sie nachher auch auf die Party in Three Pines?«

»Wir sind eingeladen, aber ich bleibe wahrscheinlich in Montréal.«

Ruth nickte. »Gut. Dann bleibt mehr für mich. Ich hab von Ihrer Scheidung gehört. Ich schätze mal, sie hat Sie betrogen. Wär ja kein Wunder.«

»Alte Vettel«, murmelte Beauvoir.

»Trottel«, sagte Ruth. Beauvoirs Blick war abgeschweift, und Ruth folgte ihm. Zu der jungen Frau am anderen Ende des Saals.

»Da kriegen Sie was Besseres«, sagte Ruth und spürte, wie sich der Arm, an dem sie sich festhielt, anspannte. Beauvoir sagte nichts. Sie schaute ihn mit scharfem Blick an, dann sah sie wieder zu der Frau, auf die Beauvoir starrte.

Mitte, Ende zwanzig, nicht dick, aber auch nicht dünn. Nicht hübsch, aber auch nicht hässlich. Nicht groß, aber auch nicht klein.

Eine ganz und gar durchschnittliche Erscheinung, kein bisschen bemerkenswert. Bis auf eines.

Die junge Frau strahlte Zufriedenheit aus.

In diesem Moment trat eine ältere Frau zu dem Grüppchen, legte einen Arm um die junge Frau und küsste sie auf die Wange.

Reine-Marie Gamache. Ruth hatte sie ein paarmal getroffen.

Jetzt sah die runzelige alte Dichterin Beauvoir mit gesteigertem Interesse an.

Peter Morrow plauderte mit einigen Galeristen. Eher kleine Lichter in der Kunstwelt, aber auch die sollte man nicht vernachlässigen.

André Castonguay von der Galerie Castonguay war da, und es brannte Peter unter den Nägeln, ihn endlich kennenzulernen. Auch die Kunstkritiker von der New York Times und vom Figaro hatte er gesichtet. Am anderen Ende des Saals machte ein Fotograf Fotos von Clara.

Als sie kurz den Kopf drehte, trafen sich ihre Blicke. Sie zuckte mit den Achseln, er hob sein Glas und lächelte.

Sollte er rübergehen und sich Castonguay vorstellen? Aber der stand in einer Traube von Leuten. Peter wollte sich nicht lächerlich machen, indem er angehechelt kam. Besser war es, sich fernzuhalten und so zu tun, als wäre ihm André Castonguay egal.

Peter wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Besitzer einer kleinen Galerie zu, der gerade erklärte, dass sie furchtbar gerne eine Ausstellung mit Peter machen würden, aber bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag durchgeplant seien.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass die Menge um Castonguay sich teilte und Clara den Weg frei machte.

»Sie wollen wissen, was ich beim Anblick dieses Gemäldes empfinde«, sagte Armand Gamache. Die beiden Männer sahen das Porträt an. »Ich fühle mich ruhig. Getröstet.«

François Marois wirkte verwundert.

»Getröstet? Das kann doch nicht sein. Vielleicht ist man froh, dass man selbst nicht so wütend ist. Dass der eigene Zorn gemessen an dem dieser Frau erträglich ist. Welchen Titel hat Madame Morrow dem Bild gegeben?« Marois nahm seine Brille ab und beugte sich zu der Beschriftung an der Wand vor.

Dann trat er einen Schritt zurück, sein Gesicht war noch verwunderter.

»Es heißt Stillleben. Seltsam.«

Während der Kunsthändler weiterhin das Porträt betrachtete, bemerkte Gamache in einiger Entfernung Olivier. Er starrte zu ihm herüber. Der Chief Inspector lächelte ihm zum Gruß zu und war nicht überrascht, als Olivier sich wegdrehte.

Wenigstens wusste er jetzt Bescheid.

Neben ihm atmete Marois laut aus. »Ich verstehe.«

Gamache wandte sich wieder dem Kunsthändler zu. Marois wirkte nicht mehr verwundert. Sein von Herzen kommendes Lächeln durchbrach die kultivierte Fassade aus zurückhaltender Höflichkeit.

»Es ist in ihren Augen, oder?«

Gamache nickte.

Marois legte den Kopf auf die Seite, sah aber nicht das Porträt an, sondern die Vernissagenbesucher. Erstaunt. Dann wanderte sein Blick zwischen Gemälde und Besuchern hin und her.

Gamache folgte seinem Blick und war nicht überrascht, als er feststellte, dass er an der alten Frau hängen geblieben war, die mit Jean-Guy Beauvoir sprach.

Ruth Zardo.

Beauvoir wirkte verärgert und genervt, aber das war nichts Ungewöhnliches, wenn man sich mit Ruth Zardo unterhielt. Sie selbst dagegen machte einen recht zufriedenen Eindruck.

»Das ist sie, oder?«, fragte Marois und klang aufgeregt. Er sprach mit gesenkter Stimme, als wollte er seine Entdeckung geheim halten.

Gamache nickte. »Sie ist eine Nachbarin von Clara aus Three Pines.«

Fasziniert betrachtete Marois Ruth. So als wäre das Gemälde lebendig geworden. Dann wandten er und Gamache sich wieder dem Porträt zu.

Clara hatte Ruth als vergessene, streitsüchtige Jungfrau Maria gemalt. Gebeugt von Alter und Wut, von tatsächlichen und eingebildeten Bitternissen. Von zerbrochenen Freundschaften. Von verwehrten Ansprüchen und entzogener Liebe. Aber da war noch etwas anderes. Eine vage Andeutung in den müden Augen. Nichts, das sie tatsächlich sahen. Eher ein Versprechen. Eine ferne Ahnung.

Unter all den Pinselstrichen, all den Details, den Farben und den Zwischentönen des Porträts blitzte ein winziges Detail auf. Ein einzelner weißer Punkt.

In ihren Augen.

Clara Morrow hatte den Moment gemalt, in dem Verzweiflung in Hoffnung umschlug.

François Marois trat einen halben Schritt zurück und nickte ernst.

»Es ist bemerkenswert. Wunderschön.« Er drehte sich Gamache zu. »Es sei denn natürlich, es ist ein Trick.«

»Was meinen Sie damit?«, fragte Gamache.

»Vielleicht ist es überhaupt keine Hoffnung«, sagte Marois, »sondern nur eine optische Täuschung.«

Bei Sonnenaufgang

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