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4) Stinkender Müll mit Zukunft
ОглавлениеVielleicht habe ich es im Orientierungs-Kapitel ein wenig abgewiegelt, aber ist das nicht irgendwie verständlich, wenn Staten Island jahrelang vor allem durch seine Müllhalde berühmt war?
Eben jene Müllhalde ist es jedoch - neben ein paar anderen wichtigen Aspekten wie der tollen Staten Island Ferry - die mich motivierte, noch einmal auf Staten Island zu sprechen zu kommen. New York-Reiseführer bieten genug Klugscheißerei zu den anderen Boroughs an, daher kann ich jene fauler- und glücklicherweise entspannt unter den Tisch fallen lassen und mich dem stiefmütterlich behandelten Staten Island zuwenden.
Was das Borough (auf new-yorkerisch Stat Niland ausgesprochen) in meinen Augen einzigartig macht: Es beherbergt nicht nur das Umkehrterminal der kostenlosen und für Freiheitsstatuen-Liebhaber unersetzbaren Staten Island Ferry, sondern auch das World Trade Center! Zu Ersterem später mehr, vorerst jedoch zu Letzterem und meiner forschen Behauptung. Zweifelsohne stand bis zu diesem einen verhängnisvollen Tag im September 2001 das World Trade Center in Manhattan. Es dominierte die Skyline von New York und machte die Stadt schon von weitem einzigartig. Doch dann war es von einem auf den anderen Tag verschwunden. Die New Yorker sind nun ein wenig klüger und schneller in ihren Überlegungen, als es zum Beispiel jahrelang die DDR-geführten Dresdner waren, die die Ruine ihrer Frauenkirche vorerst links liegen und mit Gras überwuchern ließen. Ein solches Stillleben sollte in New York nicht entstehen - aber wohin nur mit dem ganzen Schutt? New York hatte auch ohne dieses zusätzliche Problem bereits mit seinen Tonnen an Plastikmüll zu kämpfen, da war für zwei riesige Türme nun wirklich kein Platz mehr.
Doch Hilfe kam - und zwar in Form von Staten Island und seiner berühmten Fresh Kills Landfill, der bis dato weltweit größten Mülldeponie. 1948 bereits hatte der Müllplatz seine Dienste aufgenommen und eigentlich sollte er seinerzeit nur fünf Jahre in Diensten der Landgewinnung und Stadtentwicklung stehen. Kurz gesagt, der ganze Müll sollte dazu dienen, die versumpfte Region wohntauglich zu machen. Da sich mit der Zeit immer mehr Stadtteile emanzipierten und dachten "Was wollen wir denn mit einer stinkenden, ekligen Mülldeponie?", wurden immer mehr Deponien geschlossen, bis 1991 die Fresh Kills Landfill allein die Müllfahne hochzuhalten hatte. Für 100 Prozent des New Yorker Mülls verantwortlich zu sein, das war schon eine beachtliche Leistung. Vor allem aber machte es Staten Island nicht gerade attraktiv. "Es lag immer ein gewisser Geruch von Verwahrlosung und Verwesung in der Luft", meinte dazu eine Bekannte. Ob das stimmt, oder ob sich ihr Partner einfach eine Zeitlang nicht geduscht hatte - das sei dahingestellt. Zu meinen Besuchszeiten roch Staten Island zumindest ganz normal. Allerdings habe ich mich auch nie im brütend heißen Hochsommer dorthin getraut.
Jedenfalls: Irgendwann wurde auch in den anderen Boroughs der Platz knapp - der Wohnplatz, nicht der Müllplatz, und Staten Islands Bevölkerung wuchs an. Sie wuchs nicht nur an, sondern auch immer näher an die Müllhalde heran, sodass sich deren Chefs irgendwann dem Druck der Neu-Staten Islander beugten und die Deponie Schritt für Schritt schlossen. Im März 2001 schleppte sich die letzte Fuhre Hausmüll via Schiff in Richtung Staten Island - und die Bewohner jubilierten lauthals. Die Stinkezeiten und Mobbingattacken der anderen Borough-Bewohner schienen endlich der Vergangenheit anzugehören. Mittlerweile wird der Müll mit Sicherheit via Kanonenrohr nach New Jersey geschossen und dabei werden sich alle kräftig ins Fäustchen lachen. Früher machte man das noch raffinierter und subtiler, indem öfters Müll „verloren ging“ oder Deponie-Müll „aus Versehen“ in Richtung New Jersey weggespült wurde. Da die dortigen Bewohner aber leider gar keinen Spaß verstanden, landeten die beiden Staaten immer wieder vor Gericht. Mit Kanonenrohr wird der Gang zum Gericht zwar kaum vermieden und die Müllpreise sind mit dem Export nach New Jersey auch deutlich angestiegen, aber immerhin tut New York damit etwas für die offizielle Belustigung seiner Bewohner.
Die Leute in Staten Island lachten ebenfalls kräftig mit, bis eben jener September 2001 kam. Irgendwo mussten die Berge an Schutt hin. Irgendwo mussten sie aufbereitet und untersucht werden. Was bot sich hier besser an als die erst sechs Monate geschlossene Fresh Kills Landfill? Über 1,6 Millionen Tonnen World Trade Center wurden so in den folgenden Monaten nach Staten Island transportiert. Noch heute sind die Reste der zwei berühmten Türme dort begraben, während in Manhattan kräftig an der Neueröffnung des einst völlig zerstörten Gebietes gearbeitet wird.
Irgendwann - in 30 bis 50 Jahren - wird an Stelle der Fresh Kill Landfill und des World Trade Centers ein großer Park mit Namen Freshkills Park entstanden sein, der den Central Park in den Schatten stellen wird. Dann wird Staten Island das neue Manhattan und die Reiseführer-Autoren werden schleunigst ihre Bücher überarbeiten müssen. Aber bis dahin muss der Müll erst einmal ausdünsten und sich setzen. Danach darf auf dem ehemaligen Müll der Großtstadt gespielt, entspannt und gegolft werden.
Interessant dürfte dann auch die angesprochene Nutzung der kostenlosen Staten Island Ferry werden. Wenn die Staten Island Ferry dieser Tage benutzt wird, dann nur, um sich die Skyline Manhattans sowie die Freiheitsstatue mal vom Wasser anzusehen. Sobald die Fähre allerdings auf der anderen Seite angekommen ist, rennen die Touristen vom Schiff herunter, durch die Ankunfts- zurück in die Abfahrtshalle und schneller, als man "Staten Island Ferry" sagen kann, sind sie wieder auf dem Schiff und auf dem Rückweg nach Manhattan. Wäre doch schön, wenn das in Zukunft genau andersherum wäre.
"Was wollen wir denn in Manhattan mit seinem kleinen Park? Staten Island ist das neue Manhattan!"