Читать книгу Khaled tanzt - László Benedek - Страница 5

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Schon immer fühlte ich mich von den Schönheiten der Natur angezogen, von exotischen Landschaften, der Begegnung mit anderen Kulturen, besonderen oder einfachen Menschen. Als junger Mensch begab ich mich auf Abenteuerreisen in die südamerikanischen Urwälder bis hin nach Alaska, in die afrikanische Savanne bis hin zu den norwegischen Fjorden. Nun aber habe ich die Sechzig überschritten und schrecke vor den mit großen Reisen einhergehenden Komplikationen und Beschwernissen, dem Treiben auf überfüllten Flughäfen, den speziellen und ungewohnten Umständen eher zurück, als dass sie meine Neugier wecken würden.

Deshalb bevorzuge ich heute virtuelles Reisen, habe zahlreiche Webseiten entdeckt, auf denen an verschiedensten Punkten der Welt installierte Webkameras in Echtzeit über dortige Ereignisse berichten. Diese Fenster ordne ich auf dem Bildschirm so nebeneinander an, dass ich gleichzeitig sehen kann, was sich gerade auf dem Times Square in New York oder auf dem Markt im belgischen Brügge abspielt. Doch ebenso bin ich in Alaska Augenzeuge beim Fischfang von Eisbären wie beim spielerischen Aufeinanderprallen von Tieren in einem kenianischen Nationalpark.

Ich bin offensichtlich ein Kind der bequemen westlichen Wohlstandsgesellschaften geworden. Als eine Art Literat sitze ich lieber im geheizten Zimmer und lebe mein Verlangen nach dem Exotischen im Internet aus. An die Dramen ferner Länder aber und daran, dass menschliches Ausgeliefertsein, traumatische Erlebnisse an unser Fenster klopfen, vor unseren Toren Einlass begehren, sind wir nicht gewöhnt. Nicht an die Flüchtlingswellen der letzten Jahre, nicht an Hunderttausende, ja, Millionen von Flüchtlingen aus Schwarzafrika, dem Irak, aus Syrien und Afghanistan, den dortigen Kriegsregionen. Was früher weit weg und unvorstellbar zu sein schien, das drängt plötzlich in unsere unmittelbare Nähe. Ein nicht abreißender Flüchtlingsstrom verlangt von den Wohlstandsgesellschaften sofortige Hilfe, Empathie bei der Lösung seiner Probleme. Dem kann sich niemand entziehen. Kein Wunder, dass dies in der Öffentlichkeit zu kontroversen Meinungen führt.

Mit einigen meiner im Rentenalter befindlichen Freunde treffen wir uns jeden Donnerstagabend zum Kartenspiel. Bei diesen Gelegenheiten diskutieren wir über die aktuellen Ereignisse in der österreichischen Politik. Die Flüchtlingsfrage führt oft zu erbitterten Wortgefechten. Zwei meiner Kartenspielpartner, ein berenteter Versicherungsagent und ein pensionierter Tierarzt, sind entschieden gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Diese beiden Männer meinen, Versorgung und sonstige Betreuung von Flüchtlingen würden den Sozialsystemen eine unverhältnismäßig große Last aufbürden. Deshalb müssten sie möglichst schnell wieder in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Vor allem diejenigen Asylsuchenden, die in den Herkunftsländern keiner tatsächlichen Lebensgefahr ausgesetzt seien.

Ich selbst bin toleranter, habe das Gefühl, das vor unseren Augen sich abspielende Leid nicht leugnen zu können. Wer in Schwierigkeiten ist und an unsere Tür klopft, dem müssen wir helfen. Auch denke ich, eine positive Einstellung den Fremden gegenüber an sich ist zu wenig. Die Flüchtlingsproblematik wirft die Frage auf, ob sozialer Wohlstand ein grundlegendes Menschenrecht ist oder aber nur den Bürgern einiger privilegierter und glücklicher Länder zusteht.

Einen besonderen Platz unter den Kartenspielern nimmt ein pensionierter Chefarzt für Psychiatrie ein – mein Freund Dr. Johannes Arany. Der Doktor betreibt heute nur noch eine Privatpraxis. In seiner Sprechstunde behandelt er ständig die seelischen Symptome von Flüchtlingen, unterstützt sie bei ihrer Eingliederung. Doch in der Öffentlichkeit bezieht er zur Flüchtlingsfrage so gut wie nie Stellung. Wenn wir ihn danach fragen, sagt er nur, jeder habe sein Kreuz zu tragen.

Der Doktor weiß, dass mich die Flüchtlingsfrage stark beschäftigt. Deshalb nahm er mich einmal nach einer Kartenpartie beiseite und überreichte mir ein Heft, ein Tagebuch, meinte, das könnte mich interessieren: „Die Namen habe ich überall unkenntlich gemacht oder durch Fantasie-Namen ersetzt. Schließlich handelt es sich um sensible Daten, die der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen. Aber das Thema als solches interessiert dich vielleicht.“

Zu Hause nahm ich das Heft in Augenschein. Klare Schriftzüge hielten nicht nur die Aufzeichnungen zu den Patienten fest, sondern mitunter auch die mit der Behandlung einhergehenden eigenen Gedanken und persönlichen Erinnerungen des Arztes. Ich blätterte darin herum. Die folgenden Zeilen weckten meine Aufmerksamkeit: „Khaled“, dies soll hier nun sein Name sein, „ist ein fescher und netter Bursche aus Afghanistan. Er ist so mitteilsam und freundlich, als hätte er nie anderswo gelebt als unter Österreichern. Was für unterdrückte Verletzungen, was für verborgene Traumata mochten in der Tiefe seiner Seele schlummern? Zu mir hat man ihn wegen chronischer Kopfschmerzen unklarer Genese geschickt, nachdem der Internist sich darauf keinen Reim zu machen wusste und auch Medikamente keine Linderung gebracht hatten. Auch der konsultierte Neurologe, ein Migräne-Spezialist, kam zu keinem befriedigenden Ergebnis. EEG und CT zeigten keine Auffälligkeiten. Wie zu erwarten, schien Khaled gewissermaßen kerngesund zu sein. Seine Beschwerden wurden als funktional eingestuft. Mich interessierte der fröhliche Afghane, dem scheinbar nichts fehlte. War er lediglich ein kleiner Wichtigtuer und Simulant? Oder aber würde ich auf unverarbeitete Traumata stoßen, auf erlittene Höllenqualen? Bei näherem Hinsehen schien jeder Zweifel ausgeschlossen zu sein. Die unklaren Kopfschmerzen des jungen Mannes mussten auf späte Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zurückzuführen sein.“

Ich wusste gleich, dass ich einen Fund in Händen hielt, den es galt, der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Der sich hieraus mit schriftstellerischer Fantasie entwickelnde Roman fußt auf den Notizen von Doktor Arany, er ist durchaus der Wirklichkeit im heutigen Österreich geschuldet.

Khaled tanzt

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