Читать книгу Existo - Ludwig Demar - Страница 7

Endlich wieder zu Hause

Оглавление

Die Fahrt dauerte nicht lange. Das Krankenhaus war nur zwei Orte von Roberts Apartment entfernt. Zu Hause angekommen wartete ein Stapel Post auf ihn. Er war zwar nur knapp drei Wochen weg gewesen, doch in dieser Zeit hatte er mehr Briefe bekommen als sonst in einem ganzen Monat. Die Luft in seinem Zweizimmerapartment war stickig und roch wie ein totes Tier in der Sommerhitze. Schnell fand er die Ursache für den Gestank: ein paar Bananen, Äpfel und Orangen, die er kurz vor seinem Unfall gekauft hatte. Nun lag ein pelziger Teppich aus Fäulnis, der von ihnen übrig geblieben war, auf dem Küchentisch. Robert öffnete alle Fenster und entsorgte das verrottete Obst.

„Oh Mann! Den Gestank hab ich noch Wochen in der Bude!“, schimpfte er und kratzte die letzten Reste Schimmel vom Tisch.

Nachdem er mit dem Obst fertig war, setzte er sich eine Kanne Kaffee auf und durchstöberte seine Post. Überwiegend Rechnungen und Werbung befanden sich in dem Stapel.

Kaufen Sie ihrer Liebsten einen Blumenstrauß, jeder Strauß für sagenhafte 4,99. Nur beim Blumenkönig.

Robert hatte zwar keine Freundin, aber einen Strauß für die Küche würde er sich holen.

Für 4,99 kann man nichts falsch machen, dachte er sich. Um dem beißenden Geruch zu entgehen, den das Obst über Wochen verbreitet hatte, machte er sich auf den Weg, um sich den Blumenstrauß zu kaufen.

Den Rest der Post kann ich auch noch aufmachen, wenn ich wieder zurück bin. Mit diesem Gedanken öffnete er die Tür und trat hinaus auf die Straße.

Es stand ihm ein langer Fußmarsch bevor. Der Blumenkönig befand sich am anderen Ende der Stadt, und da er für gewöhnlich seine Tage im Büro vor dem PC verbrachte, war er solche Fußmärsche nicht gewohnt. Zu allem Überfluss kam er auf seinem Weg an dem Friseursalon vorbei, in dem Maik sich immer die Haare hatte schneiden lassen. Und unvermittelt schwirrten ihm wieder Bilder von dem Abend auf der Brücke im Kopf herum, und er fragte sich, ob das jemals aufhören würde. Den Rest der Strecke war Robert wie in Trance. Seine Beine schienen von alleine zu gehen. In Gedanken fand er sich auf der Brücke wieder und bei seinem besten Freund, der zerquetscht zwischen zwei Autos lag. Erst vor dem Blumenladen kam er wieder zu sich. Betrübt ging er hinein, um sich einen schönen Strauß auszusuchen, der ihn aufheitern sollte.

Hinter der Theke stand ein älterer Herr, der aussah, als würde er jeden Moment das Zeitliche segnen. Nach einem kurzen Rundgang durch den Laden entschied sich Robert für einen gemischten Strauß aus Tulpen, Azaleen und Lilien. Das Bezahlen stellte sich als etwas schwierig heraus, da der alte Mann kaum ein Wort verstand und mit einem starken Akzent sprach. Das Genuschel des Alten zerrte Robert nach kurzer Zeit dermaßen an den Nerven, dass er ihm fünf Euro auf die Theke legte, ehe er kommentarlos verschwand. Der Rückweg kam ihm nicht so lange vor wie der Hinweg. Vielleicht lag es an dem schönen Blumenstrauß, der ihn von seinen Gedanken ablenkte. Wieder zu Hause angekommen füllte er eine Vase mit Wasser und stellte die Blumen wie geplant auf den Küchentisch. Der Gestank war bereits etwas verflogen. Robert begab sich wieder an seine Post, die im Großen und Ganzen nichts Besonderes enthielt. Während er die Briefe öffnete, schaute er sich immer wieder seinen Strauß an. Er mochte Blumen, und im Moment konnte er eine Aufheiterung gut gebrauchen, auch wenn es nur der Anblick von etwas Schönem war.

Als er gerade einen Brief mit unbekanntem Absender öffnete und nochmals zu den Blumen hinübersah, beobachtet er voller Entsetzen, wie sein schöner Strauß innerhalb weniger Sekunden verwelkte, wobei die Blumen ihre Köpfe verloren.

Der Anblick schockierte ihn so sehr, dass er aufschrie:

„So ein Mist! Jetzt weiß ich auch, wieso der blöde Strauß nur 4,99 gekostet hat!“

Robert wusste, dass es unmöglich war, dass Blumen innerhalb so kurzer Zeit eingingen, egal, wie günstig sie sein mochten, aber die Ausrede mit dem Billigstrauß war einfacher, als eine andere Erklärung zu finden. Deprimiert warf er die Blumen weg und schaute nach dem Brief ohne Absender. Er kam von Maiks Frau, die sich mit Robert treffen wollte, um sich mit ihm über die Geschehnisse auf der Brücke zu unterhalten. Das passte Robert gar nicht. Er hatte keine Lust, darüber zu reden, aber er war es Debby schuldig. Also rief er sie an und verabredete mit ihr ein Treffen für den nächsten Tag um vierzehn Uhr bei Debby zu Hause. Selbst nachdem er aufgelegt hatte, hörte er im Geiste noch die von Trauer durchzogene Stimme der Frau seines verstorbenen Freundes. Den Rest des Abends machte Robert sich Gedanken, was er über dessen tragischen Tod erzählen sollte und wie er ihr schonend beibringen konnte, was geschehen war. Gegen dreiundzwanzig Uhr wurde er zu müde, um noch einen klaren Gedanken zu fassen, also ging er zu Bett.

„Endlich wieder im eigenen Bett schlafen, wie habe ich das vermisst“, murmelte er vor sich hin, während er sich in die Decke kuschelte. Nach kurzer Zeit schlief er tief und fest, doch seine Träume hatten sich gegen ihn verschworen.

Es war Abend, und er befand sich wieder auf der von Nebel verhüllten Grenzbrücke, so wie er sie in Erinnerung hatte. Überall standen demolierte Autowracks herum und der Gestank von Benzin und Tod erschien so real wie am Tag des Unfalls. Orientierungslos und benommen blickte er sich um, bis er hinter sich ein Knirschen vernahm. Als er sich umdrehte, sah er den Golf der verunglückten Familie. Und kurz darauf erblickte er den Ursprung des Geräusches: Vater, Mutter und das kleine Kind krochen aus dem Wrack des zerstörten Autos, stellten sich auf die Fahrbahn und starrten ihn an. Es war ein schrecklicher Anblick. Der Mutter hing der Hautlappen, der den Großteil der Haare beherbergte, quer übers Gesicht. Ihr Mund war halb geöffnet, und vergebens versuchte sie mit der Zunge, die blutverkrusteten Haare aus ihren Mundwinkeln zu streichen. Als ob dieser Anblick nicht grauenvoll genug wäre, konnte Robert die Schädeldecke der Frau unter dem geronnenen Blut erkennen. Dem Vater, der direkt neben seiner Liebsten stand, hing der Kopf seitlich an einer Schulter herunter, während sein Hals in der Mitte eingeknickt zu sein schien. Es sah so aus, als würde er versuchen, den Kopf zu heben, doch er baumelte nur unruhig hin und her, sodass der ohnehin schon gestreckte Hals unkontrolliert schlackerte.

Robert traute sich gar nicht, zu dem Kind hinüberzusehen, doch es geschah wie von selbst. Da stand er nun, der kleine Junge, der sich die langweilige Autofahrt mit Malen vertrieben hatte. Der Buntstift steckte ihm nach wie vor im Auge, während er das Bild, das er für seinen Vater zum Geburtstag gemalt hatte, fest in der kleinen Hand hielt. Mit dem gesunden Auge konnte er scheinbar nicht aufhören zu blinzeln. Und Robert erkannte deutlich, wie dem Jungen eine Träne die Wange hinunterlief. Wie gelähmt von diesem Schauspiel, war es ihm nicht möglich, den Blick abzuwenden, bis der kleine Junge, gefolgt von seinen Eltern, anfing, auf ihn zuzugehen und leise die Worte „Hilf uns, hilf uns!“ vor sich hin zu murmeln.

Robert bekam es mit der Angst zu tun und setzte an, wegzulaufen. Doch als er sich umdrehte, blickte er in die weit aufgerissenen Augen seines besten Freundes. Maik stand direkt vor ihm und starrte ihn an. Sein Torso war von der Brust bis zum Becken aufgerissen und ein Teil seiner Organe und Därme hing aus der zerfetzten Wunde. Er röchelte, wobei sein Brustkorb bis auf die Wirbelsäule herunter gequetscht worden zu sein schien. Bei dem Anblick stockte Robert der Atem. Er stolperte einen Schritt zurück, doch dort stand schon der kleine Junge mit seiner Familie.

Und diesmal murmelten alle drei: „Hilf uns! Bitte hilf uns!“

Hinter ihm schloss sich Maik dem Chor an. Sie bildeten einen Kreis um Robert und zogen ihn immer enger. Der Junge griff mit zitternden Händen nach dem Stift in seinem Auge und zog ihn langsam heraus. Ein rötlicher Sirup aus Blut und Tränenflüssigkeit ergoss sich aus der Wunde und lief ihm in den Mund, sodass man sein unaufhörliches Flehen kaum verstehen konnte.

Robert war inzwischen so eingeengt, dass er den hin und her baumelnden Kopf des Vaters an seinem Ärmel spürte. Er wollte schreien, doch er bekam keinen Ton heraus. Lediglich der grausige Chor der Verunglückten mit ihrem Flehen nach Hilfe war zu hören. Getrieben von Verzweiflung und Angst versuchte er, dem Kreis zu entfliehen. Doch diese Untoten, denen er nicht helfen konnte, dachten gar nicht daran, ihn gehen zu lassen. Sie griffen nach ihm und zogen ihn zurück in den Kreis. Verärgert darüber, dass er ihr Bitten nach Hilfe ignorierte und verschwinden wollte, wurde ihr Chor immer lauter, und sie hörten nicht auf, an ihm zu zerren und zu reißen.

In diesem Moment wachte Robert schweißgebadet und mit rasendem Herzen zu Hause in seinem Bett auf. Noch immer verwirrt und hilflos versuchte er, sich im Dunkeln zu orientieren. Als ihm klar wurde, dass er das alles nur geträumt hatte, begab er sich ins Badezimmer und wusch sich den Schweiß aus dem Gesicht. Es war vier Uhr fünfunddreißig am Morgen, und er dachte gar nicht daran, sich noch einmal hinzulegen, um womöglich wieder auf der Brücke aufzuwachen. Daher ging er erst mal duschen und machte sich danach einen Kaffee. Anschließend setzte er sich ins Wohnzimmer und schaute bis zum Morgen fern.

*

Die ganze Zeit grübelte er über seinen Traum nach. Er war so realistisch ‒ so erschreckend realistisch! Es machte ihm Angst, dass er so etwas geträumt hatte. Waren es unterbewusste Schuldgefühle, die ihm diese grausige Nacht beschert hatten? Immerhin hatte er niemandem auf der Brücke helfen können. Er wusste nicht weiter und beschloss daher, am Donnerstag Dr. Steve von dem Traum zu erzählen. Das wäre die erste Sitzung, in der er über den Abend auf der Brücke reden würde. Das passte ihm zwar nicht, aber der Traum ließ ihn nicht los, und er wollte unbedingt herausfinden, was es damit auf sich hatte.

Pünktlich um zwölf Uhr Mittag fing Robert an, sich etwas zu essen zu machen: Spaghetti mit Tomatensoße. Als er die Nudeln in den Topf mit kochendem Wasser steckte, hörte er ein gurgelndes Geräusch hinter sich. Ruckartig fuhr er herum und suchte vergebens nach dessen Ursprung. Da nichts zu sehen war, schob er es auf den Abfluss in der Spüle, da es langsam anfing, in der Küche zu stinken. Es war ein fauliger Geruch, als ob eine Ratte tot hinter der Wand liegen würde und dort verrottete. Langsam verging ihm der Appetit. Er öffnete ein paar Fenster und begab sich an die Zubereitung der Tomatensoße. Wieder hörte er dieses Geräusch im Rücken. Es kam ihm bekannt vor, doch erinnerte er sich nicht, wo er es zuvor schon einmal gehört hatte. Langsam wurde es unheimlich. In der Küche machte sich eine beengte Atmosphäre breit.

Als seine Spaghetti endlich fertig waren, nahm er sich einen Teller voll und ging damit ins Wohnzimmer. Bevor er anfangen konnte zu essen, musste sich erst mal sein Magen etwas beruhigen. Der Fernseher lief noch und zeigte eine Sendung über Kunst im neuen Jahrtausend. Robert hatte sich nie für so etwas interessiert, aber um auf andere Gedanken zu kommen, schien es zu reichen. Bis der Moderator einen Künstler vorstellte, der mit echtem Blut auf weißen Laken malte. Die Kunstwerke sahen aus wie Beweisstücke aus einem Mordfall. Das war nicht gerade hilfreich, um seinen Magen zu beruhigen. Er schaltete den Fernseher aus und würgte ein paar Gabeln Spaghetti hinunter. Eigentlich hatte er sich auf ein warmes Essen gefreut, aber nun widerte es ihn an, noch einen weiteren Bissen davon zu nehmen.

Der üble Geruch in der Küche und der Blutschmierer hatten ihm den Appetit verdorben. Er schob den Teller beiseite und begann zu überlegen, was er Debby beim anstehenden Treffen sagen würde. Er hatte bereits den ganzen Abend zuvor darüber nachgedacht, doch es gab anscheinend keinen einfachen Weg. Der Gedanke an das Gespräch mit ihr machte Robert Angst. Es würde schwer werden ‒ sehr schwer! Wie sollte er der Frau seines besten Freundes in die Augen sehen und erzählen, dass er mit angesehen hatte, wie ihr Mann qualvoll zerquetscht worden war? Das würden seine Nerven nicht aushalten.

Schließlich fasste er den Entschluss, das Treffen abzusagen. Auf dem Weg zum Telefon hörte er wieder dieses Geräusch aus der Küche. Wo zum Teufel hatte er es schon einmal gehört?

Bevor er mit Debby telefonierte, um ihr abzusagen, rief er bei einem Klempner an, um den Abfluss in der Küche überprüfen zu lassen. So bekam er wenigstens einen akzeptablen Grund, den er Debby nennen konnte. Auch wenn es sich um eine billige Ausrede handelte, musste sie dennoch reichen. Doch als sich eine verheulte und zittrige Stimme am anderen Ende der Leitung mit den Worten „Hallo? Wer ist da?“ meldete, verschlug es ihm für einen Moment die Sprache. Debby klang noch niedergeschlagener und trauriger als bei ihrem letzten Telefonat. Er bekam es kaum übers Herz, ihr abzusagen. Aber ihm blieb nichts anderes übrig! In diesem Zustand konnte er es sicher nicht ertragen, sie zu sehen. Als die Worte: „Ich bin es – Robert. Ich kann heute leider nicht, denn mir ist ein Termin dazwischen gekommen“, durch den Hörer zu Debby drangen, brach sie sofort wieder in Tränen aus. Es tat Robert in der Seele weh, aber am Telefon musste er wenigstens nicht sehen, wie sie völlig in Tränen aufgelöst vor ihm stand und sich die rot unterlaufenen Augen mit einem durchnässten Taschentuch abwischte.

„Es tut mir wirklich leid!“, brachte Robert entschuldigend hervor und hörte nur noch, wie am anderen Ende der Leitung der Hörer kommentarlos aufgelegt wurde.

Er fühlte sich schlecht. Nicht nur psychisch, wegen des Gesprächs mit Debby, sondern auch physisch von dem Gestank in der Küche. Am liebsten hätte er sich auf der Stelle übergeben, um sich anschließend wieder ins Bett zu legen und bis zum nächsten Morgen durchzuschlafen. Doch er hatte sich einen Klempner bestellt, auf den er jetzt warten musste.

Erst gegen siebzehn Uhr, als Robert schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte, traf dieser endlich ein. Es war ein dicker, nach Abwasser stinkender, heruntergekommener Mann Mitte vierzig. Robert wusste im ersten Moment nicht, was er abstoßender fand: den Mann oder den Gestank in seiner Küche. Auf dem dreckverschmierten Namensschild, das kaum zu lesen war, konnte Robert mit Mühe erkennen, dass der Mann ironischerweise Breitscheid hieß, denn breit war er auf jeden Fall. Der Klempner begab sich direkt an die Arbeit. Er hockte sich vor die Spüle und fing an, an den Rohren zu schrauben. Dabei rutschte ihm die Hose so weit herunter, dass Robert deutlich mehr von dem Hintern des Mannes sehen konnte, als ihm lieb war. Bei diesem Anblick musste sich Robert zusammenreißen, sich nicht zu übergeben. Er beschloss, ins Wohnzimmer zu gehen und dort zu warten, bis der Klempner mit der Spüle fertig war. Nach einer guten Viertelstunde stapfte der stark verschwitzte und offensichtlich noch schlimmer als zuvor miefende Klempner ins Wohnzimmer. Sein Kopf war feuerrot und er schnaufte behäbig nach Luft.

„Also, wo immer der Gestank in Ihrer Küche herkommt, von der Spüle kommt er nicht. Die Leitungen und Abflüsse sind alle in Ordnung.“

Robert schaute ihn nachdenklich an.

Von wo kommt denn dann dieser verfluchte Gestank?, fragte er sich.

„Die Rechnung schicken wir Ihnen per Post.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich der Mann und trottete schnaubend davon.

Robert wollte sich noch bedanken, doch der Klempner war bereits durch die Haustür verschwunden. Kaum war er wieder alleine, hörte er erneut das offenbar bekannte Geräusch in der Küche, ohne zu wissen, woher. Neugierig suchte er den Ursprung des Gurgelns. Vom Abfluss schien es wirklich nicht zu kommen, aber den genauen Standpunkt vermochte er nicht zu lokalisieren. Es schien, als würde das Geräusch jedes Mal aus einer anderen Ecke dringen. Mit einem Mal überkam Robert ein kalter Schauer. Voller Entsetzen erinnerte er sich wieder, woher er das Geräusch kannte. Es war dasselbe Gurgeln, das Maik auf der Brücke von sich gegeben hatte, als er zwischen den Autos zermalmt wurde. Zu seinem kalten Schauer gesellte sich eine drückende Hitze und sein Schädel dröhnte.

Das konnte doch gar nicht sein! Er sah deutlich die Bilder wieder vor sich, als er das Gurgeln erneut hörte. Robert bekam es mit der Angst zu tun. War er dabei, den Verstand zu verlieren? Im Moment dachte er nur an eines: So schnell wie möglich raus hier! Blass und mit kaltem Schweiß auf der Stirn stolperte er aus seiner Wohnung und hastete hinaus auf die Straße. Wohin sollte er nur gehen? Egal, auf jeden Fall weit weg. Die Leute, an denen er vorbeikam, starrten ihn erschrocken an und sahen ihm hinterher. Nun, da er ohnehin unterwegs war, beschloss er, doch noch Debby aufzusuchen. Er brauchte jetzt eine Ablenkung.

Dort angekommen öffnete ihm zunächst niemand. Erst nach mehrmaligem Klingeln erklang ein leises Schluchzen hinter der Tür.

„Wer ist da?“, fragte Debby, die sich noch immer mitleiderregend anhörte.

„Ich bin es ‒ Robert. Ich habe es doch noch geschafft.“

Die Riegel wurden zurückgeschoben und der Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Tür öffnete sich langsam und Debby blickte misstrauisch durch einen kleinen Spalt nach draußen.

„Du bist es wirklich!“ Schlagartig öffnete sie die Tür, zog Robert ins Haus, und genauso schnell war der Eingang wieder verriegelt.

Als sie sich zur Begrüßung umarmten, stach ihm gleich ein unangenehmer Geruch in die Nase. Es war eine ekelhafte Symbiose aus Schweiß und Alkohol.

„Ich bin so froh, dass du da bist.“ Sie bemerkte nicht einmal die blasse Hautfarbe von Robert und fuhr mit schwerer Zunge fort: „Ich muss dringend mit dir reden. Ich glaube, ich verliere den Verstand.“

Diese Bemerkung weckte Roberts Neugier. Sie gingen ins Wohnzimmer, wo Debby sich zu einem halb leeren Glas Scotch auf die Couch setzte. Daneben stand die halb volle Flasche mit geöffnetem Verschluss.

„Willst du auch einen?“, fragte sie.

„Nein, danke.“ In seinem Zustand war es sicher nicht klug, Alkohol zu trinken, und Debby sollte es besser auch sein lassen, dachte er sich, ehe er auf dem Sessel gegenüber Platz nahm. Er schaute ihr eine Weile zu, wie sie dort saß, mit ihrem von Tränen aufgeweichten Gesicht und sich immer wieder kleine Schlucke aus dem Glas gönnte. Man konnte nur erahnen, was für eine attraktive und gepflegte Frau sie mal gewesen war. Ihre dunkelblonden Haare, die sonst immer glänzend und voller Volumen über ihren Schultern hingen, klebten schwer und fettig an ihrem schmutzigen Pullover.

„Du sagtest eben, du würdest noch den Verstand verlieren. Kannst du mir das erklären?“, fragte er schließlich und versuchte, sie nicht zu sehr anzustarren.

Sie schaute kurz zu ihm hoch, und bevor sie etwas dazu sagte, verschwand der Rest aus dem Glas in ihrem Mund.

„Ich habe das Gefühl, dass Maik hier ist. Hier bei mir. Ich weiß, dass sich das verrückt anhört, aber bitte, glaub mir! Ich spüre seine Anwesenheit. Wenn er da ist, fängt es an, fürchterlich zu stinken. Und dieses Röcheln. Dieses verdammte Röcheln!“

In dem Moment brach Debby wieder in Tränen aus, und Robert war ebenfalls zum Heulen zumute, während ein kalter Schauer ihn durchfuhr, da Debby genau die gleichen Erfahrungen gemacht zu haben schien wie er. Er versuchte, sie zu beruhigen, und dann berichtete er ihr von seinen Tagen und Wochen nach dem Unfall. Sie schien erleichtert zu sein, dass sie nicht als Einzige solche Erlebnisse gemacht hatte. Offenbar war sie doch nicht verrückt.

„Bleib bitte heute Nacht hier! Ich will nicht alleine sein“, bat sie Robert.

„Okay, mir ist es auch lieber, nicht allein zu sein“, antwortete er. Außerdem brauchte er nach diesen Neuigkeiten doch einen Drink.

Stundenlang saßen sie im Wohnzimmer und tranken Scotch. Robert dachte darüber nach, was das alles auf sich haben mochte und ob Dr. Steve ihm dabei helfen konnte, eine plausible Erklärung für alles zu finden. Gegen dreiundzwanzig Uhr machte Debby Roberts Nachtquartier im Gästezimmer fertig. Dank des Alkohols konnten beide direkt einschlafen und ruhten bis zum Morgengrauen.

Existo

Подняться наверх