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Die Mission

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Eugen Smirnow hatte diese Nacht schlecht geschlafen und sich unruhig ständig von einer Seite zur anderen gedreht. Dies war schon lange nicht mehr vorgekommen, das letzte Mal in einer Nacht als Jugendlicher. Es gab nur wenige Menschen, die etwas aus dieser Epoche seines Lebens wussten ‒ außer den erfundenen Geschichten, die er sich zurechtgelegt hatte, falls ihn jemand fragen würde.

Früh fiel ihm auf, dass er sich von anderen unterschied. Er spürte und sah Dinge, die sonst niemand erfassen konnte. Das hatte er von seinem Vater geerbt, der früher als Medium für den KGB tätig war. Als dieser merkte, dass die Gabe (er nannte es immer Fluch) auf seinen Jungen übergegangen war, brachte er ihm bei, die Dinge, die ihm begegneten, richtig zu deuten. Mit der Zeit lernte Eugen, damit umzugehen und es im Stillen für sich zu nutzen. Erzählt hatte er niemals jemanden davon; er wusste, man würde ihm nicht glauben und ihn für verrückt erklären. Doch einen Menschen gab es, dem er fast alles offenbart hätte: seine Verlobte Jessika. Sie konnten immer über alles reden, hatten übermenschliches Vertrauen ineinander und liebten sich so sehr, dass es fast wehtat. Doch an dem Tag, als er sich ihr vollständig öffnen wollte, verunglückte sie mit dem Auto auf der alten Grenzbrücke.

Vor Kurzem hatte Eugen in der Zeitung gelesen, dass sich wieder genau der gleiche Unfall auf dieser Brücke ereignet hatte ‒ seltsamerweise exakt auf den Tag zwei Jahre nach dem tragischen Tod von Jessika. Er fragte sich, wieso man diese Todesfalle nicht sperrte. Wie viele sollten denn noch umkommen? Der sichere Umweg würde nur fünf Minuten an Zeit kosten.

Auf jeden Fall nahm er damals diesen tragischen Anlass als Zeichen, dass er niemals jemanden von seiner Gabe erzählen durfte. Heute war Eugen der Besitzer eines Blumengeschäftes namens Der Blumenkönig. Er hatte schon immer Blumen gemocht und nach dem Tod von Jessika dieses Geschäft eröffnet, um sich aus seiner tiefen Depression zu ziehen. Ohne seinen Vater hätte er das aber niemals geschafft; noch heute half er ab und zu im Geschäft aus. Auch wenn die Kunden ihn nicht mehr so gut verstanden, weil das Alter seine Zunge nur noch undeutlich Worte bilden ließ, war er ihm eine große Hilfe.

Die vergangenen Tage und Wochen raubte er ihm allerdings den letzten Nerv. Immer wieder sprach er davon, dass etwas im Argen läge und da draußen vor sich ginge. Irgendetwas war verdammt ‒ böse Kräfte ‒ Licht und Dunkelheit … Selbst Eugen fiel es schwer, seinen Vater zu verstehen, und wenn er so wirr daherredete wie die letzte Zeit, schien es beinahe unmöglich zu sein. Vielleicht hatte er deshalb so schlecht geschlafen. Sein Vater hatte ihn angesteckt mit seiner wirren Paranoia. Allerdings verflog dieser Gedanke schnell, als er am Morgen in sein Geschäft kam. Die Luft war stickig und die Atmosphäre drückend. Mit Entsetzen stellte er fest, dass all seine Pflanzen nicht nur verwelkt, sondern so verfault waren, dass man sie nicht mehr erkennen konnte.

„Gestern blühte hier doch noch alles. Wie konnte so etwas nur passieren?“, fragte er sich.

Schlagartig wurde ihm klar, dass sein Vater recht gehabt hatte. Irgendwas Schlimmes ging hier vor. Und er wollte – nein, musste – den Grund dafür herausfinden. Aber zuerst ging es ans Aufräumen des Geschäfts. Der Gestank betäubte ihm die Sinne. Den ganzen Vormittag verbrachte er damit, den Laden wieder sauber zu bekommen. Ständig kamen Kunden rein und fragten verwundert, was passiert sei. Eugen antwortete, dass es sich um einen seltenen Pilz handele, der die Blumen schneller verwelken ließ. Ein paar guckten etwas skeptisch, aber die meisten kauften ihm seine Ausrede ab. Sollten sie denken, was sie wollten, jetzt gab es Wichtigeres zu tun. Er war besessen davon, herauszufinden, was da vor sich ging.

Aber wo sollte er anfangen? Diese Frage stellte er sich nicht lange und machte sich auf den Weg zu seinem Vater, der ja schon vor ihm gespürt hatte, dass etwas Ungewöhnliches in der Luft lag. Trotz seines hohen Alters war er immer noch äußerst feinfühlig und keineswegs dement, wie Eugen zuerst dachte. Um ehrlich zu sein, hatte er sich schon überlegt, seinen Vater in ein Altenheim zu stecken, nach dem ganzen wirren Gerede der letzten Zeit. Doch zum Glück hatte er das nicht übers Herz bringen können, denn unter den Umständen brauchte er dessen Hilfe und besonders seinen Rat.

*

Waldemar Smirnow lag auf seinem Sofa und spürte, wie langsam das Leben aus ihm strömte. Er wünschte sich seinen Sohn herbei. Es gab so viel, was er ihm noch sagen wollte. Innerlich ließ er sein Leben Revue passieren und dachte an seine Zeit beim KGB zurück. Sie hatten schlimme Dinge von ihm gefordert, doch bei einer Weigerung hätten sie seine Familie getötet, das hatte er nicht zulassen können; und somit spürte er Feinde des Kommunismus auf, stand hinter durchsichtigen Spiegeln, um zu sehen, ob jemand bei der Folter log und wie weit man ihn noch quälen konnte, bis er starb. Er hatte unzählige Aufgaben für den Schutz des Kommunismus durchführen müssen, dabei verachtete er diese Staatsform zutiefst. Doch das Leben seiner Familie war es ihm wert, alles Nötige in Kauf zu nehmen. Seit dieser Zeit wurde seine Gabe, gewisse Dinge zu spüren und zu sehen, für ihn zu einem Fluch. Und es zerbrach ihm förmlich das Herz, als er bemerkte, dass diese Geißel auf Eugen übergegangen war. Er setzte alles daran, geheim zu halten, was mit seinem Sohn geschah. Er wollte auf jeden Fall verhindern, dass er seine Nachfolge antreten musste, wenn ihm einmal etwas zustoßen würde.

Nach dem Kalten Krieg verließen sie Russland und wagten in Deutschland den Neuanfang für ein besseres Leben. Waldemar konnte Eugen, so gut es ging, unterweisen und ihn lehren, mit seinen Fähigkeiten umzugehen. Das war etliche Jahre her. Jetzt, wo er im Sterben lag, bereute er, seinem Sohn nicht alles gelehrt zu haben, was er wissen sollte. Es schien zu gefährlich; er wollte ihn schützen, ihm den Rest zeigen, wenn er alt genug war. Waldemar dachte, ihm bliebe noch Zeit, denn er hatte die Zeichen seines baldigen Todes ignoriert. Doch jetzt, wo dunkle Kräfte an den Nähten der Realität zerrten, bereute er die Entscheidung. Er würde sterben und seinen Sohn völlig hilflos und unwissend mit dieser Situation zurücklassen. Er hätte es ihm zeigen, ihm alles erzählen sollen. Auch den wahren Tod seiner Mutter hätte er ihm beichten müssen. Sie war damals, als sie nach Deutschland gekommen waren, bei einem schweren Unfall auf der alten Grenzbrücke ums Leben gekommen. Genau wie viele Jahre später Eugens Verlobte. Spätestens da hätte er es ihm sagen müssen, denn beide teilten sich denselben Todestag. Eugen dachte, dass seine Mutter an einer seltenen Krankheit verstorben war. Er war damals zu jung, um sich zu erinnern, oder er hatte alles verdrängt.

Nun lag Waldemar hier alleine auf dem Sofa, sah seinem Ende entgegen und machte sich Vorwürfe, dass er die Zeichen nicht erkannt und seinem Sohn nicht die Wahrheit gesagt hatte. Er war von Trauer, Sorge und seiner menschlichen Schwäche geblendet gewesen. Sein ganzes Leben lang, bis hin zu seinem Tod.

*

Jetzt, wo Eugen vor dem kleinen, etwas verwilderten Haus seines Vaters stand und den Schlüssel im Schloss der Haustür umdrehte, machte sich ein ungutes Gefühl in ihm breit. Es war kalt im Haus und eine trügerische Stille lag über allem. Er rief ins Innere hinein, ohne eine Antwort zu bekommen. Das ungute Gefühl schlug langsam in Nervosität um. Zügig, aber mit Vorsicht durchsuchte er die Zimmer nach seinem Vater. Als er ihn regungslos auf dem Sofa liegen sah, blieb ihm nahezu das Herz stehen. Sofort vergaß er alle Vorsicht und rannte zu ihm. Er hatte keine Mühe, das kleine Wohnzimmer trotz der Unordnung zu durchqueren. Nichts hätte ihn aufhalten können. Er packte ihn und redete auf ihn ein, doch es kam keine Reaktion. Seine leblosen Arme waren so kalt wie die Luft, die ihn umgab.

In einem letzten verzweifelten Versuch flehte er: „Papa, ich bin es, Eugen. Wach auf, wach schon auf!“

In diesem Moment öffnete sich der Mund von Waldemar und mit einem fürchterlichen Gestank entfloh der Kehle das Wort „возроди́ть“, gefolgt von einem kratzigen Husten und dem Zusammensacken des Körpers. Als hätte es nur darauf gewartet, an den Sohn weitergegeben zu werden. Eugen kannte das Wort; es stammte aus der alten Heimat. Sie hatten in Deutschland nie viel in ihrer Muttersprache geredet, aber er verstand sie noch. Das Wort, was ihm sein Vater nun nach seinem Tod übermittelt hatte, bedeutete so viel wie: ins Leben rufen oder wiederbeleben.

Wollte er damit andeuten, dass er nicht zu sterben bereit war? Wollte er reanimiert werden?

Eugen war elend zumute. Der Geruch der Verwesung des vor seinen Augen gestorbenen Vaters, der aus dessen Mund kam, lag noch immer in der Luft. Trotz alledem fing er an, ihn zu reanimieren, da er es für seinen letzten Wunsch hielt. Doch schon bei der ersten Druckmassage brach der Brustkorb in sich zusammen. Staub und Hautfetzen wirbelten durch die Luft. Sofort kollabierte Eugen und übergab sich auf dem Weg in die Bewusstlosigkeit auf den Boden.

Als er langsam wieder zu sich kam und sich aufrichtete, brachte er es nicht über sich, noch einmal auf das Sofa zu seinem Vater zu schauen. Er ging nach draußen, schnappte kurz frische Luft und informierte mit dem Handy den Notruf. Er verlor jegliches Zeitgefühl, und eine Übelkeit überkam ihm, die alles bisher Dagewesene in den Schatten stellte. Nun war ihm klar, dass die letzten Worte, die er von seinem Vater vernommen hatte, etwas anderes zu bedeuten hatten. Was genau und ob es mit den Geschehnissen der letzten Wochen zusammenhing, musste er herausfinden.

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