Читать книгу Existo - Ludwig Demar - Страница 8
Die nächste Stufe
ОглавлениеAls Maik die Augen öffnete, wusste er zuerst nicht, wo er sich befand. Das Letzte, woran er sich zu erinnern vermochte, war, dass er unter einem Auto zerquetscht lag, während sein bester Freund neben ihm stand und ihm gut zuredete. Verstehen konnte Maik nichts von dem, was Robert ihm sagte, dennoch spendete es ihm Trost, ein vertrautes Gesicht zu sehen. Was hätte er dafür gegeben, es jetzt zu sehen. Er richtete sich auf und fragte sich, was geschehen war.
Bin ich tot? Bin ich im Himmel oder in der Hölle? Es gab so viele Fragen, worauf Maik eine Antwort finden musste. Doch zuerst schaute er sich um. Es war ein kalter steriler Ort mit weißen Fließen an den Wänden, der ihn an ein Kühlhaus erinnerte. Als er hinter sich blickte, um den Raum genauer zu studieren, schreckte er zurück. Was er sah, war sein eigener Körper, der völlig entstellt und zermatscht auf einem Tisch inmitten des Zimmers lag. Es war ein grausiger Anblick: der Brustkorb bis auf die Wirbelsäule heruntergebrochen, der Bauch aufgerissen, sodass man hineinschauen konnte. Doch es fehlten sämtliche Organe. Stattdessen lagen sie in einem Eimer neben dem Tisch. Ein paar Fliegen umschwirrten schon aufgeregt den stinkenden Inhalt des blutverschmierten Behältnisses. Diese scheußliche Szenerie beantwortete zumindest eine wichtige Frage: Ja, er war tot!
Und doch schien er nach wie vor auf der Erde zu wandeln. Nicht im Himmel oder in der Hölle, sondern an dem Ort, an dem er sich seit der Geburt befand, an dem er seine schönsten, aber auch schlimmsten Erlebnisse gehabt hatte und an dem er verstorben war.
Und wofür? ‒ Um wieder aufzuerstehen? ‒ Das sollte es sein? ‒ Seine Heimat bis ans Ende aller Zeiten?
Der Gedanke gefiel ihm gar nicht. Als Toter gefangen in der Welt der Lebenden. Vielleicht hatte er noch etwas zu erledigen, bevor er eine Stufe weiter aufsteigen durfte. Mag sein, dass das hier nicht das Ende, sondern ein Anfang war. Quasi die Aufnahmeprüfung zur Universität des Lebens. Wenn er es schaffte, zu erkennen, was er tun musste, könnte er weiter die Treppe hochsteigen und würde endlich alles über das Wesen der Existenz lernen. Es nicht nur wissen, sondern begreifen. Dieser Gedanke gefiel Maik schon um einiges besser. Doch was hatte er noch zu erledigen? Welche Prüfungen lagen vor ihm, um dieser fiktiven Wirklichkeit zu entkommen?
Er beschloss, die zermatschte Hülle, die ihm einst Obdach geboten hatte, hinter sich zu lassen, und ging aus dem Zimmer, um zu sehen, wo er sich befand. Es war merkwürdig, die Türklinke nicht betätigen, aber einfach durch die Tür hindurchgehen zu können. Dabei fühlte er sich, als wäre er der Hauptdarsteller eines schlechten Geisterfilms. Doch er würde sich zwangsläufig daran gewöhnen, denn wer wusste schon, wie lange er auf diesem Planeten verweilen musste.
Hinter der Tür erschloss sich ein langer Flur. Linker Hand endete der Weg in einer Sackgasse, doch in der anderen Richtung sah Maik den Fuß einer Treppe. Er blickte noch einmal zurück auf die Tür, hinter der sein ehemaliger Körper lag. Neben der Tür hing ein Schild: Pathologie, Dr. Tulp.
Es fiel ihm nicht schwer, Abschied zu nehmen. Auf jeden Fall wusste er jetzt, dass es ein Leben nach dem Tod gab. Neugierig stieg er die Treppe hinauf, um zu sehen, was ihn dort erwarten würde. Als er oben angekommen war, gab es keine Zweifel mehr, dass er sich in einer Klinik befand. Krankenhäuser hatte er nie leiden können, doch nun machte es ihm nichts mehr aus.
Unsicher, was er tun sollte, streifte er durchs Gebäude und schaute sich die Patienten in den Zimmern an. Es gefiel ihm, sie zu beobachten, wissend, dass keiner ihn sehen konnte. Obwohl das Krankenhaus nicht groß war, langweilte er sich nach kurzer Zeit schon.
Als er fast beim letzten Zimmer angekommen war, überkam ihn ein wahrhaftiges Glücksgefühl. Er hatte das Zimmer von Robert gefunden. Er lag da und starrte traurig aus dem Fenster. Maik wollte ihn trösten und fing an, mit ihm zu reden. Doch Robert blickte weiter kommentarlos aus dem Fenster. Auf irgendeine Weise musste Maik doch zu ihm durchdringen können.
Also ging er nah an Roberts Ohr und schrie: „Ey, Robert, jetzt guck doch nicht so traurig!“
Doch es kam wieder keine Reaktion. Dabei hatte er sich arg angestrengt und es so gewollt, dass sein Freund seine Worte hörte. Kurz darauf legte Robert sich schlafen und Maik schaute sich flüchtig die übrigen Zimmer an.
Da es auf Dauer ermüdend war, die Patienten in ihren Betten zu beobachten, beschloss er, zu sich nach Hause zu gehen, um nach seiner Frau zu sehen. Obwohl das Krankenhaus recht weit von ihrer Wohnung entfernt lag, verging die Zeit wie im Flug. Ehe er sich versah, stand er vor der Eingangstür. Er zögerte kurz und bereitete sich darauf vor, seine Frau wiederzusehen, die er jahrelang geliebt hatte und mit der er immer über alles reden konnte. Doch er musste sich klarmachen, dass es ihm wohl nie wieder möglich war, mit ihr zu sprechen, und es ihm nicht mehr vergönnt war, mit ihr zu schlafen, was er immer so genossen hatte. Als er sich darüber klar wurde und sich bereit fühlte, von seiner großen Liebe eiskalt ignoriert zu werden, wenn er vor ihr stand, begab er sich in die Räumlichkeiten, die ihm zu seinen Lebzeiten eine Unterkunft geboten hatten.
Dort lag seine liebste Debby auf dem Sofa mit ihrem Hochzeitsbild in der Hand und weinte wie ein kleines Kind. Diesen Anblick hatte Maik nicht erwartet. Es nahm ihn erheblich mit, seine große Liebe so leiden zu sehen. Er wollte ihr sagen, dass sie nicht zu weinen brauchte, dass er ja da sei. Aber sie konnte ihn nicht hören. Und das machte die Situation für Maik schier unerträglich. Also beschloss er, schnellstmöglich von dort abzuhauen, um sich eine Zeit lang mit dieser neuen Form seiner Existenz auseinanderzusetzen. Aber wo sollte er nur hin? Nach langem Überlegen entschloss er sich, in Roberts Wohnung unterzutauchen. Dort würde er die Ruhe und Abgeschiedenheit finden, die er dringend benötigte.
An seinem Ziel angekommen machte er sich Gedanken, wo er einen Schlüssel für die Wohnung herbekommen sollte. Während er durch die verschlossene Tür ging, schmunzelte er über seinen Gedanken. Man musste sich halt erst einmal daran gewöhnen, durch eine Tür schweben zu können. Nun hatte er die Ruhe und die Zeit, über seine Situation nachzudenken und damit klarzukommen. Ab und zu besuchte er Debby und bekam immer mehr das Gefühl, dass sie seine Anwesenheit von Besuch zu Besuch deutlicher spürte. Aber die meiste Zeit verbrachte er in Roberts Apartment. Dort versuchte er, so viel wie möglich über sich herauszufinden. Er lernte, Gegenstände zu bewegen, und entdeckte jeden Tag etwas Neues. Vieles nur durch Zufall. Zum Beispiel staunte er nicht schlecht, als er in der Küche dabei zusah, wie das Obst, das auf dem Tisch in einer Schale lag, innerhalb von Sekunden verfaulte, als er in seine Nähe kam. Es schien, als hätte er das Leben aus den Früchten gesaugt. Dieses Phänomen beobachtete er fortan nicht nur beim Obst, sondern auch bei Pflanzen und jeglicher Art von Gemüse. Zuerst war er sich nicht darüber im Klaren, ob er das Leben aus den Früchten als Nahrung absorbierte oder ob es einen anderen Grund dafür gab. Doch mit der Zeit stellte er fest, dass er durch jede Pflanze und Frucht, die durch ihn starb, mehr Energie und Kontrolle über seinen Geist bekam. Diese Entdeckung war wichtig für Maik, denn nun wusste er, wie er Kräfte sammeln konnte, um für die nächste Stufe seiner Existenz gewappnet zu sein. Allerdings funktionierte diese Art von Energiegewinnung nur bei Pflanzen, die bereits gepflückt und somit dem Tod geweiht waren. Solange sie mit der Erde in Verbindung standen, die sie nährte und Halt gab, blieben sie immun gegen Maik. Aber das war ihm ganz recht so; es würde zu viel Aufsehen erregen, wenn er einen Waldspaziergang unternahm und plötzlich der Wald hinter ihm absterben würde.
Da er schon immer Wälder und grün leuchtende Wiesen gemocht hatte, hätte er es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren können, wenn er den Tod für sie bedeutet hätte … der Tod! So schlimm war er gar nicht. Zumindest nicht in seinem Fall, obwohl er das Sterben an sich lieber anders absolviert hätte, als auf einer kalten, dreckigen Brücke von Autos zerquetscht zu werden. Doch wie gestaltete sich der Tod bei Pflanzen? Hatten sie auch eine Leiter der Existenz, auf der sie aufsteigen konnten? Es handelte sich immerhin um Lebensformen. Nur ‒ waren sie sich überhaupt darüber bewusst? Wussten sie, dass sie lebten oder starben? Wussten sie, dass der Mensch ihr Feind war? Vermutlich nicht, sonst würden sie ihm keine wohlschmeckenden Früchte und kein gesundes Gemüse zum Essen liefern. Sie würden sich ungenießbar machen. Doch wozu wären sie dem Menschen dann nützlich? Was würde ihn davon abhalten, sie einfach auszurotten? Maik beschäftigte sich viel mit solchen Fragen; er dachte generell mehr nach, als er es zu Lebzeiten getan hatte.
Es hatte ihm einfach die Zeit gefehlt, doch davon besaß er jetzt mehr als genug. Obendrein kam es ihm so vor, als würde er sie viel intensiver nutzen als noch vor ein paar Wochen, wo er zwar seinen Körper und sein Leben noch hatte, doch nie genug Zeit, um etwas damit anzufangen. Er hatte immer mehr Zeit daran verschwendet, sich die Zeit einzuteilen, um sie besser nutzen zu können, als im Endeffekt davon zu profitieren. Doch dieses Problem hatte er jetzt nicht mehr. Er konnte sich in Ruhe mit allem beschäftigen, was ihm helfen würde, aus dieser Form der Existenz in eine höhere zu flüchten, um dieser Hölle (genannt Erde) zu entkommen.
*
Nach einem langen Spaziergang durch den örtlichen Wald und vielen Stunden des Philosophierens, ob die Pflanzen und Tiere wussten, dass er da sei, und ob es andere wie ihn gäbe (wieso auch nicht?), warum er was Besonderes sein sollte, weshalb er niemand anderen ohne physischen Körper gesehen hatte oder ob er schon welche ausgemacht und sie für lebendige Wesen gehalten hatte und wie man die Toten von den Lebenden unterscheiden konnte, machte er sich schließlich auf den Weg zurück zu Roberts Apartment. Zu seiner freudigen Überraschung war sein Freund endlich zu Hause. Er saß mit einem Stapel Post am Küchentisch, öffnete Briefe und schaute sich immer wieder einen Blumenstrauß an, der vor ihm auf dem Tisch in einer Vase stand. Es tat gut, sein Gesicht zu sehen und zu wissen, dass er wieder wohlauf war. Am liebsten wäre er ihm um den Hals gefallen und hätte ihm gesagt, wie sehr er sich freue, ihn zu sehen. Doch das war der Nachteil an seinem Zustand ‒ es ging nicht!
Nichtsdestotrotz wollte er sich zumindest zu ihm an den Küchentisch setzen und etwas Zeit mit ihm verbringen. Während er ihm gegenüber Platz nahm, wurde ihm klar, dass es das erste Mal war, seit er in diesem sterilen, gefliesten Raum erwacht war, dass er sich hinsetzte. Als er sich fragte, was seinen Hintern auf dem Stuhl hielt, blickte Robert ihn plötzlich entsetzt an. Es war ein Schock für Maik! Konnte er ihn sehen? Hatte er ihn bemerkt und Angst vor ihm bekommen? Klar, wenn man seinem toten Freund auf einmal gegenübersaß, konnte man es schon mit der Angst zu tun bekommen.
Er wollte gerade zu Robert sagen, dass er keine Furcht zu haben brauchte, da fing sein Freund an, über Billigblumen zu schimpfen. Als er sich vom Stuhl erhob, wurde Maik sofort klar, was geschehen war: Der schöne Blumenstrauß auf dem Tisch war total verwelkt.
Oh Gott, das habe ich völlig vergessen!, dachte sich Maik. Mist! Wenn man die ganze Zeit alleine ist, achtet man halt nicht darauf.
Er hatte das Leben vor Roberts Augen aus dem Strauß gesaugt. Was würde der jetzt wohl denken? Das war immerhin ein Ereignis, das man nicht alle Tage zu Gesicht bekam. Maik kam sich dämlich vor, gedacht zu haben, dass Robert ihn gesehen haben könnte und dass er ihm sagen wollte, er bräuchte keine Angst zu haben. Als der Blumenstrauß im Mülleimer verschwand, stand Maik vom Stuhl auf und machte sich auf den Weg zu Debby. Er wollte Robert nicht noch mehr zumuten und ihm ein bisschen Ruhe gönnen. Er war ja sicher gerade erst aus dem Krankenhaus entlassen worden. Und das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, waren noch mehr seltsame Ereignisse, hervorgerufen durch seinen heimlichen Untermieter.
Auf dem Weg zu seiner geliebten Debby war er so in Gedanken versunken, dass er nicht einmal bemerkte, dass er an einem Gemüsestand vorbeiging. Durch einen Schreckenslaut neben sich aus seiner Versenkung gerissen blickte er sich um. Vor ihm starrte der Besitzer des Standes entsetzt auf sein Gemüse, das bis zur Höhe, wo Maik angehalten hatte, verfault war.
„Ach verdammt! Ich sollte besser aufpassen“, sagte Maik laut. „Wie machen die anderen Verstorbenen das nur? Oder bin ich der Einzige, der so lange hier herumwandern muss, ohne zu kapieren, was er zu tun hat?“
Er entfernte sich erst einmal von dem Stand, damit dem Gemüsehändler wenigstens die Hälfte der Ware erhalten blieb. Es war ihm unangenehm, dass er dem armen Kerl einen Teil seines Angebotes geraubt hatte. Die Zeiten waren sicher nicht leicht, und nun musste er auch noch so viele seiner Waren wegwerfen. Vor lauter Gedanken und Mitgefühl bemerkte er gar nicht, dass er schon vor Debbys Tür stand. Aber bevor er hineingehen konnte, musste er seine Gedanken ordnen, was gar nicht so einfach war, wie er es sich gewünscht hätte. Es herrschte ein heilloses Durcheinander in seinem Kopf. Oder, besser gesagt, dort, wo früher einmal sein Kopf gewesen war.
Es wurde bereits dunkel, als Maik sich endlich entschloss, hineinzugehen. Doch drinnen angekommen bereute er es schon. Den Anblick hätte er sich gerne erspart. Debby saß im Wohnzimmer mit einem Glas Scotch. Offensichtlich war es nicht das erste, das sie an diesem Tag leerte. Ihr Gesicht war in Tränen aufgelöst, während ihre Augen ins Nichts starrten. Sofort meldete sich Maiks Mitgefühl wieder. Es tat weh, aber nicht nur dort, wo einmal sein Herz pochte, sondern überall. Aber war es wirklich Mitgefühl, das ihn so plagte, oder war da noch etwas anderes?
Er spürte, wie die Schmerzen zunahmen, als ob ihre Quelle auf ihn zukommen würde. Dann vernahm er erneut dieses bekannte Geräusch, doch er konnte es partout nicht zuordnen. Alles, was er darüber wusste, war, dass es ihm Angst bereitete. Für einen kurzen Moment weiteten sich die Schmerzen dermaßen aus, dass er glaubte, sein Bewusstsein zu verlieren. Dagegen kämpfte er erbittert an ‒ denn war sein Bewusstsein nicht das Einzige, was ihm geblieben war? War es nicht das Einzige, das ihn ausmachte? So schnell wie sie gekommen waren, verschwanden die höllischen Schmerzen wieder und mit ihnen das schreckliche Geräusch. Maik war am Ende seiner Kräfte und er fühlte sich elend. Er warf einen letzten Blick zu Debby, die sich skeptisch im Zimmer umschaute, als könnte sie irgendetwas nicht so recht glauben. Dann legte sie sich aufs Sofa und schlief ein.
Maik wusste nicht, wo er hinsollte. Zurück zu Robert wollte er nicht und hierbleiben kam für ihn auch nicht infrage. Er brauchte einen Ort, wo er seine Ruhe hatte, um wieder neue Kräfte zu sammeln.
Draußen hatte die Dunkelheit den Tag hinter sich gelassen und Maik streifte im Schleier der Nacht orientierungslos durch die Straßen. Dabei dachte er die ganze Zeit über die plötzlichen Schmerzen und das seltsame Geräusch nach. Woher kannte er es? Woher kamen diese Schmerzen? Hatte er einen Fehler in seiner Aufnahmeprüfung gemacht? Zeigten die Schmerzen nun darauf hin? Durfte er seine Frau nicht mehr besuchen? Aber was hatte dieses Geräusch damit zu tun? Oder hatte doch alles einen anderen Grund?
Auf seinem Weg kam er an einem Blumenladen vorbei: Der Blumenkönig. Er brauchte ein wenig Energie und dachte sich: Einen Strauß werden sie schon nicht vermissen. Doch als er durch das Schaufenster blickte, war es wie ein Schlag ins Gesicht. Sämtliche Pflanzen in dem Laden waren verrottet. Er konnte es nicht gewesen sein, denn er war doch noch gar nicht in die Nähe des Ladens gekommen. Oder war er es doch? Hatte sich das Umfeld, in dem er die Energie aus Pflanzen saugte, erweitert?
Nein! Das musste jemand oder etwas anderes zu verantworten haben. Er hatte nicht die Nerven, geschweige denn die Kraft, sich darüber weitere Gedanken zu machen. Am liebsten hätte er sich schlafen gelegt, so wie früher. Was hätte er dafür gegeben, mal ein paar Stunden abzuschalten. Leider war das in seinem jetzigen Zustand nicht mehr möglich, egal, wie sehr er es wollte. Bis zum Morgen hielt er sich an einer Bushaltestelle auf, an der er als Kind immer auf den Schulbus gewartet hatte. Das waren noch sorglose Zeiten gewesen. Die einzigen Probleme, die man hatte, bestanden darin, zu viele Hausaufgaben aufzubekommen. Doch das waren ja nur Lappalien.
Als der Tag dämmerte, wurde ihm klar, dass er sehen musste, wo er Energie herbekam, und zwar, ohne großes Aufsehen zu erregen. Schließlich beschloss er, in den Wald zu gehen, um nach heruntergefallenen Früchten oder Ähnlichem zu suchen. Dort begegnete er ein paar Spaziergängern, die mit ihren Hunden noch eine schnelle Runde vor der Arbeit drehen wollten. Maik hatte nie ein Haustier besessen, weil es ihm unnötige Umstände gemacht hätte. Er hatte so schon wenig Zeit gehabt, die wollte er nicht damit verbringen, die Notdurft von irgendeinem Tier wegzumachen.
Sein Plan mit den heruntergefallenen Früchten im Wald war von Erfolg gekrönt. Nach kurzer Zeit ging es ihm schon um einiges besser, und er beschloss, wieder in die Stadt zurückzukehren, um nach Robert zu sehen. Doch bevor er ihn zu Hause aufsuchen konnte, trafen sie sich bereits auf der Straße. Er sah grausig aus, blass, schweißgebadet, und er wirkte, als hätte er vor etwas Angst. Besorgt um seinen Freund folgte er ihm. Zu seiner Überraschung hielt er vor Debbys Haus und klingelte. Was wollte er nur von ihr? Er würde es gleich erfahren. Zuerst schien es, als wäre niemand zu Hause, doch nach mehrmaligem Klingeln öffnete sich die Tür und Debby zog Robert ins Haus. Maik überkamen zuerst Gewissensbisse, ob er die beiden belauschen sollte, aber es war sein gutes Recht, wenn seine Frau und sein bester Freund etwas zu bereden hatten, dann sollte dies kein Geheimnis für ihn sein. Einen kurzen Moment fürchtete er, dass die schrecklichen Schmerzen wiederkehren würden, wenn er ins Haus ging, doch die Neugier war größer als die Angst. Also schwebte er hinein und fand beide im Wohnzimmer sitzend vor. Doch was er zu hören bekam, erschreckte ihn. Sie waren der Überzeugung, dass ER bei ihnen spuken würde. Und es setzte beiden sichtlich zu.
Mein Gott, haben sie die ganze Zeit meine Anwesenheit gespürt? Wussten sie, dass ich da bin? Ist das der Grund, wieso es ihnen so schlecht geht?
Als sich im Gespräch das Thema auf ein gurgelndes Geräusch verschob, das beide gehört hatten, überschlugen sich Maiks Gedanken. Während Robert und Debby dasaßen und Scotch tranken, machte er sich Vorwürfe und grübelte über das Geräusch nach.