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Ihr macht euch die falschen Sorgen #2 Lieber Ludwig
ОглавлениеDu hast in deinem letzten Brief die Metapher des Hauses benutzt. Die Alten und Jungen als eine Art Wohngemeinschaft. Ein spannendes Thema, denn beim Wohnen zeigen sich deutliche Generationenunterschiede. Lass uns unbedingt darüber schreiben. Aber nicht jetzt. Denn zuerst will ich auf eine deiner Fragen eingehen. Wie ich euch Alten erlebe.
Ich habe das Gefühl, dass die Alten konstant besorgt sind. Aber einfach wegen den falschen Sachen. Die alten Menschen, die ich gut kenne, das sind meine Großeltern und einige Verwandte und Bekannte. Die jedenfalls machen sich allerhand Sorgen. Darüber, dass ich alleine nach Zürich gehe zum Beispiel. Dass ich keine Festanstellung habe und dass ich immer noch zur Schule muss. Und darüber, dass ich kein Fleisch esse und deshalb ganz bestimmt zu wenig Proteine bekomme und man das auch sieht, weil ich ganz blass bin.
Und genau diese Sorgen verstehe ich nicht. Denn die Alten müssten ja wissen, dass das alles nicht so wild ist. Das schließe ich aus ihren Geschichten, die sie erzählen. Sie sagen, sie mussten früher kilometerweit zur Schule laufen in Schuhen mit Holzböden. Und im Winter mussten sie sogar noch eine Stunde früher los und eine Schaufel mitnehmen, um den Weg zu pfaden. Sie erzählen auch, dass sie immer gearbeitet haben, dass sie nie Ferien hatten und dass der Samstag auch ein Werktag war. Und dass sie nichts als Rösti gegessen haben. Zum Zmorge Rösti, zum Zmittag Rösti, zum Znacht Rösti. Immer nur Rösti mit Rösti, gebraten in Schweineschmalz. Tönt nicht so spaßig. Und trotzdem sind sie alt geworden.
Das alles erzählen sie und bedauern mich, weil ich meinen Karton mit dem Velo zur Sammelstelle fahren muss. Und weil ich so viel arbeite. Und sie befürchten, dass ich wegen meiner vegetarischen Ernährung Mangelerscheinungen bekomme.
Ich mache mir auch Sorgen. Aber ganz andere. Weil die Alten so viel Auto fahren und reisen und Fleisch essen und Häuser haben und Zeug kaufen. Genau aus diesen Sorgen heraus kommt mein Verhalten. Und das wiederum bereitet den Alten Sorgen. Ein endloser Sorgenstrudel.
Was sagst du zu diesen Sorgen? Hast du selber welche? Kannst du den Widerspruch erklären, selbst ein Leben voller Arbeit und Entbehrung gehabt zu haben und trotzdem die Jungen zu bedauern? Und was soll eigentlich das mit dem Wein? In deinem letzten Brief hast du von einer Flasche Rotwein geschrieben. Das ist auch so was, was ich nicht verstehe. Ich habe den Eindruck, je älter die Menschen werden, desto mehr interessieren sie sich für Wein. Ich habe da eine Theorie. Aber ich frage lieber dich: Was ist mit dem Wein?
Samantha