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MONTAG LANDWIRT

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Am Arsch der Welt lichtet sich der Nebel. Noch hängen dichte Wolken in den Baumkronen, aber man kann schon erkennen, dass ein neuer Tag anbricht. Eine neue Woche sogar. Montag. Alles auf Anfang. Auf dem großen, weitläufigen Hof ist es noch ruhig. Nur die kleine Katze schleicht ums Haus, und aus dem Stall hört man ein tiefes, brummendes Muhen. Ringsherum erstrecken sich ausgedehnte Felder und Wiesen, eingetaucht in silbernen Morgentau, dichter Wald umarmt das Tal von zwei Seiten. Der nächste Autobahnanschluss ist gut 40 Kilometer entfernt, und mit jedem Meter, den man auf diesen Ort zufährt, verschwindet ein Strich vom Handynetz. Wer zum ersten Mal hierherkommt, der kann sich vieles vorstellen – aber kaum, dass er im kulinarischen Epizentrum einer ganzen Region gelandet ist. Willkommen in Schergengrub, Niederbayern, dem Zuhause von Ludwig „Lucki“ Maurer.

Es ist frühmorgens, und statt eines Espresso aus einem schicken Hipster-Siebträger-Automaten trinkt Lucki Maurer Filterkaffee aus einer uralten Maschine mit schwenkbarem Aufsatz und Thermoskanne. „Darin wurden schon Hunderte Hektoliter Kaffee gekocht, aber der schmeckt einfach. Ich mag das“, sagt er. Es hat etwas Beständiges, genauso wie die Frau an seiner Seite, mit der er seit 24 Jahren zusammen ist – Steffi, seine große Liebe.

Die beiden sitzen an ihrem Holztisch in der offenen, modernen Wohnküche, und Lucki liest die Tageszeitung von gestern. Die aktuelle Ausgabe wird es erst heute Mittag hierher schaffen, der Postbote bringt sie mit. Es ist Wochenanfang, ein klassischer Ruhetag in der Gastronomie. Man könnte es heute ruhig angehen lassen, so etwas wie ein normales Leben versuchen, Bürokram erledigen. Lucki ist aber nicht nur Gastronom. Er ist Koch, Unternehmer, Musiker, Autor, er ist präsent in den Medien, und heute ist er vor allem eins: Landwirt. Darum fängt seine Woche genau da an, wo er am liebsten ist, zu Hause auf seinem Hof.

Lucki gähnt herzhaft. Um 6.30 Uhr hat ihn der Kaminkehrer aus dem Bett geklingelt. Das Leben von normalen Menschen verläuft in anderen Zeitzonen, das hat er als der jüngere Sohn einer Gastronomenfamilie schon früh verstanden. In seiner Zeitzone arbeitet man am Wochenende auch mal 22 Stunden durch und räumt am Sonntag bis 5 Uhr die Küche auf. „Ja, schläfst du noch?“, hat ihn der Kaminkehrer gefragt. „Guten Morgen“, hat Lucki gesagt. „Ja, ich schlafe noch.“

Er legt die Zeitung beiseite und bindet mit einer routinierten Bewegung seine langen roten Haare zu einem Zopf im Nacken, streicht seinen spitzen Bart glatt und setzt ein schwarzes Baseballcap auf. Lucki weiß, dass sein Aussehen in den vergangenen Jahren zu seinem Markenzeichen geworden ist, beabsichtigt hat er das aber nie. Er wirft einen Blick aufs Handy, zieht Jacke und Gummistiefel an und verlässt das Haus, das er hier vor 15 Jahren gebaut hat.

Die kühle Morgenluft kickt die letzte Müdigkeit aus dem Schädel, und Lucki läuft mit schnellen Schritten über den Hof. Vorbei am Nussbaum, den sein Opa einst gepflanzt hat, vorbei an seinem kleinen Hofladen, den er hier eröffnet hat, bis zum Haupthaus in der Mitte, dem Herz von Schergengrub.

STOI steht in großen silbernen Lettern an der Fassade. „Das ist japanisch und bedeutet Wirtshaus“, pflegt er oft bei Interviews zu sagen. „Schmarrn. Das ist das bayerische Wort für Stall. STOI ist aber auch russisch und heißt so viel wie: Halt. Stopp. Hierbleiben.“ Auch das passt gut.

So simpel dieser Name klingt, so erfolgreich ist das Konzept, das dahintersteht: Fine Dining im Bayerischen Wald. In mühevoller und kräftezehrender Arbeit hat er vor einigen Jahren dieses Bauwerk von Grund auf saniert und zu einer einzigartigen Location gemacht. Der STOI hat sich in Rekordgeschwindigkeit zu einem Ort progressiver Gastlichkeit und zu einem Hotspot in der deutschen Kulinarikszene entwickelt. Hier wurden schon etliche Fernsehformate gedreht, hier haben sich Menschen aus den verschiedensten Branchen kennengelernt und zusammen gegessen, hier hat das Wort Genuss ein neues Zuhause gefunden.

Zwischen den alten Mauern und auf dem ausgedehnten Vorplatz finden in regelmäßigen Abständen lockere und gleichzeitig extravagante Events statt. Hier trifft sich das Who’s who der Gastroszene, aber auch alle, die gern mal auf Sterneniveau essen gehen wollen, ohne sich vorher in einen Smoking zwängen zu müssen. Hochwertigste Kulinarik in unkomplizierter Wohlfühlatmosphäre – dafür wurde dem STOI im Jahr 2019 vom Rolling Pin der Titel für das „beste deutsche Gastronomiekonzept“ verliehen, und Port Culinaire pries das Lokal als kulinarischen Hotspot Nummer eins in Deutschland.

An der Hauswand hängen einige Plaketten, die den Betrieb für seine Besonderheiten würdigen. Ganz oben steht in weißen Buchstaben auf einer schwarzen Alu-Dibond-Platte: „100 best Chefs“, eine Auszeichnung, die Lucki als höchsten Neueinsteiger aller Zeiten auf Platz 27 der 100 besten Köche Deutschlands kürt. „Nicht schlecht“, meint er und muss grinsen. „Nicht schlecht dafür, dass ich nie Koch werden wollte.“

Das klingt seltsam für jemanden, der als gefragter und kreativer Koch in der deutschsprachigen Kulinarikszene bekannt ist. Doch es stimmt: Er wollte das nie. Er wollte nie in die Fußstapfen seines Vaters treten und seine Arbeitszeit in einer Restaurantküche verbringen. Er hat gesehen, wie mühsam dieses Leben ist, wie wenig Freiraum es lässt. Darum hat er sich alles Mögliche überlegt, um ja nicht in der Gastronomie zu landen. Zweiradmechaniker wollte er werden, Gitarrenbauer, Bierfahrer oder Pferdewirt. Und am allerliebsten Musiker. Mit Freunden auf der Bühne zu sein und damit so viel Geld verdienen, dass es für ein schönes Leben reicht – das war seine pubertäre Vision vom Glück.

Und jetzt steht er hier, in Gummistiefeln und Arbeitsklamotten, vor der Tür seines renommierten Restaurants, und ist ziemlich zufrieden mit sich und der Welt. Heute ist er froh darüber, wie alles gelaufen ist. Und im Nachhinein macht alles einen Sinn. Er ist trotz aller Vorbehalte letztlich doch Koch geworden, hat aber gezeigt, wie man das komplett anders machen kann und seine Freiheit nicht aufgeben muss. Nicht ganz, zumindest.

Lucki atmet tief ein, saugt eine Prise Natur auf. Zu gern mag er den Blick über das Land, den man von hier aus hat. Nichts als Felder und Wiesen rundherum, nur eine einzige Straße führt in angenehmem Abstand vorbei. Wer Glück hat, kann in der Morgendämmerung ein paar Rehe sehen, die schnell über das hohe Gras zurück in den schützenden Wald springen. So soll es sein. Hier will er sein.

Der große, jetzt wieder in seinem ursprünglichen Gelb gestrichene Bau ist schon seit dem Jahr 1906 im Familienbesitz seiner Mama. Erste Aufzeichnungen gehen zurück ins Jahr 1484 – eine Zahl, die sich überall auf dem Hof wiederfindet. Lucki weiß alles über die Geschichte dieses Ortes, der ein Teil des natürlichen Grenzwalles zwischen Bayern und Böhmen war. Trotz der massiven Veränderungen, die hier passiert sind, sieht er in diesem Haus noch immer das alte Wohn- und Wirtschaftsgebäude von früher. Wo einst die große Stube war, ist jetzt sein Besprechungsraum. Wo früher Schweine und Rinder gefüttert wurden, servieren heute Spitzenköche raffinierte Menüs.

Hier hat er als Kind mit seinem großen Bruder Sepp die besten Sommer seines Lebens verbracht, hier war der Kontrastpunkt zu einem turbulenten Leben im gastronomischen Betrieb seiner Eltern. Während er den einen Teil seiner Kindheit als Hotelierssohn mehr oder weniger in der Öffentlichkeit lebte, genoss er an den Wochenenden und in den Ferien die Ruhe und Abgeschiedenheit hier in Schergengrub. Das war für ihn Freiheit: immer draußen sein, sich jeden Tag eine neue Schürfwunde holen und kein Mensch weit und breit, der einen dabei hätte stören können.

„NICHT SCHLECHT DAFÜR, DASS ICH NIE KOCH WERDEN WOLLTE.“

Jeden Tag wartete hier ein neues Abenteuer. Stundenlang haben die Buben damit verbracht, unterirdische Tunnel zu suchen, die zu der nahe gelegenen Burg führen sollten. Die Vorstellung, irgendwo unter der Erde wäre vielleicht ein echtes Ritterschwert versteckt, trieb sie immer wieder an. Lucki hat den Hof schon als Kind geliebt, und wenn die Menschen sagen, dass dieser Ort ein ganz besonderer ist, nickt er stets und sagt: „Ich weiß.“

Viele Momente haben sich in seinem Kopf eingebrannt. „Das klingt brutal nach Rosamunde-Pilcher-Romantik, aber wenn du als Kind auf dem Bulldog mit zum Futtermähen rausdarfst, die Wiesen satt und saftig außenrum, die Vögel zwitschern, und die Eichhörnchen springen über den Weg – da geht dir das Herz auf“, findet er.

Dass Bulldogfahren überhaupt als Arbeit anerkannt wird, hat ihn schon als Bub fasziniert. Heute hört er dabei AC/DC und kann sich kaum eine schönere Beschäftigung vorstellen. „Ich dachte immer, Arbeit ist das, was meine Eltern gemacht haben: kochen, Gäste bewirten, zack, zack, zack!“ Die Landwirtschaft hingegen war das reinste Vergnügen. Und auch das Leben, das dazugehört: aufstehen um 5 Uhr morgens, noch im Schlafanzug in die warme Stube huschen und die Füße am Ofentürl aufwärmen, gemeinsam mit den Großeltern eingebrockte Semmeln vom Vortag aus einer großen Milchschüssel löffeln und dann in den Stall gehen. „Für uns Buben hat meine Oma immer noch extra Kaba-Pulver in die Morgensuppe gerührt“, erinnert er sich. „Damit wir groß und stark werden.“ Hat funktioniert.

Die Gerichte seiner Kindheit stehen noch heute auf der Liste seiner Lieblingsspeisen. „Brotna Reisch“ zum Beispiel. Übersetzt: gebratener Reis, eines der signature dishes seiner Oma. Weil’s in einer laufenden Landwirtschaft unkompliziert zugehen musste, durfte die Essensvorbereitung nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen. Für dieses Rezept füllte die Oma zwei Drittel Reis, ein Drittel Milch und etwas Salz in ein Reindl und schob es ins Ofenrohr. Das Essen hat sich quasi von selbst gekocht, während alle draußen gearbeitet haben. Dazu gab es eingeweckte Zwetschgen, direkt vom Hof – ein Genuss. Im Sommer, wenn es heiß war und alle mit dem Heumachen beschäftig waren, wurden Sulzen vom Metzger geholt. Lucki schätzt diese einfachen bäuerlichen Mahlzeiten noch heute. Nach einem langen und heißen Arbeitstag freut er sich noch immer auf eine eiskalte, richtig saure Sulz mit einer schönen Halben Bier. Ein göttlicher kulinarischer Moment voller Glückseligkeit.

Er erinnert sich gern an diese Tage, die er so intensiv mit seinen Großeltern verbracht hat: „Meine Oma war so eine richtige Oma eben, wie man sie sich wünscht. Mit Kittelschürze und einem Herz am rechten Fleck. Und mein Opa, der hat sich immer gewünscht, dass Bayern wieder ein Königreich wird. Ein Königreich mit einem Kini – und am besten natürlich mit einem, der Ludwig heißt. So wie er und so wie ich.“ Der Opa hat sich lange gefragt, wie es möglich ist, dass die Leute in den Fernseher reinkommen. Aber dieser Mann hat ihm auch Sachen beigebracht, für die Lucki ihm heute noch dankbar ist: Er hat ihm erklärt, wie man Vogelarten bestimmt, wie man einen Dachsbau entdeckt und vor allem wie man eine Landwirtschaft führt.

In Luckis Brust schlagen mehrere Herzen, und eins davon schlägt ganz allein für seine Tiere. Er lässt den STOI links liegen, denn er hat es schon beim Aufwachen gehört: Heute Nacht hat eine seiner Mutterkühe ein Kalb bekommen. Mittlerweile kann er an den Lauten seiner Tiere erkennen, was sie brauchen. Haben sie Durst? Wollen sie Futter? Sucht eine Mutter nach ihrem Kalb?

So leise wie möglich schiebt er das große hölzerne Stalltor auf und hält kurz inne. Das ist einer der wenigen Momente in seinem Leben, wo er nervös wird. Ansonsten ist Lucki meistens cool und ausgeglichen. Er steht auf großen Bühnen, in Fernsehshows und vor Publikum, verhandelt mit Geschäftskunden, gibt wöchentlich Interviews, selten bringt ihn etwas aus der Ruhe. Aber der Morgen, wenn er ein neugeborenes Kalb erblickt, ist mit nichts zu vergleichen. „Da geht mir die Pumpe, aber so richtig.“

Natürlich hatte er recht. In der linken hinteren Ecke des Stalls wacht eine Mutterkuh vor einem kleinen Bündel, das gerade mühsam versucht, sich auf die Beine zu hieven. Alles ist ruhig. Die ersten Sonnenstrahlen des Tages blinzeln durch das geöffnete Tor herein. Vorsichtig geht Lucki auf die mächtigen, tiefschwarzen Tiere zu und erinnert sich an einen alten Cowboyspruch: „Never trust a Bull“ – traue niemals einem Bullen. Das Gleiche gilt für eine Kuh, die gerade ein Junges bekommen hat. „Du darfst niemals leichtsinnig sein, musst immer gut aufpassen und allergrößten Respekt haben.“ Diese Kuh kann hochgradig aggressiv werden, wenn er sich jetzt dem Kalb nähert. Er spürt, wie sie nervös wird und schützend vor ihrem Jungen tänzelt. Lucki hat verstanden. Er wird heute Morgen keine Chance haben, das Kälbchen zu fangen, um es mit einer Ohrmarke zu piercen, so wie es am Tag der Geburt vorgesehen ist. Also beschließt er, die beiden in Ruhe zu lassen. Er genießt lieber den kurzen, friedlichen Augenblick, in dem dieses kleine Wesen seine ersten zaghaften Schritte macht. Sobald es das Euter der Mutter findet und anfängt zu säugen, ist ein erster Meilenstein in der Entwicklung dieses jungen Lebens geschafft, denn die sogenannte Biestmilch ist überlebenswichtig für das Tier.


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