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Geben Sie meinem Sohn einen Dollar Mit dem Schalimar Express
von Karachi nach Lahore.

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Die pakistanische Eisenbahn hat keinen guten Ruf. Und das mit Recht. Sie gilt als unsicher, langsam und veraltet. Zwei Drittel ihres Streckennetzes stammten noch aus der britischen Kolonialzeit und waren dementsprechend veraltet. Instandhaltung, Reparatur, Logistik sowie die Etablierung sicherer Schranken- und Signalsysteme mussten hinter der Entwicklung der Atombombe zurückstehen. Noch ein halbes Jahr vor meiner Reise war ein Fernzug auf dem falschen Gleis mit einem andern Zug zusammengestoßen. Für den Gütertransport des Landes spielt die pakistanische Eisenbahn praktisch keine Rolle.

Der Hauptzweck der pakistanischen Eisenbahn besteht vielmehr in der Sicherung des Personentransports zwischen den Metropolen Karachi, Lahore, Rawalpindi/Islamabad, Peschawar und Quetta - das allerdings mit Reisezeiten von bis zu anderthalb Tagen. Jedermann, der es sich leisten konnte, ersparte sich deswegen die Zeitlupentouren durch die pakistanischen Weiten und nahm das Flugzeug. Die weniger Betuchten bevorzugten den Bus, der zwar noch unsicherer und überfüllter als die Eisenbahn, aber wenigstens billiger war.

Aber was war mit denen, die genug Geld für ein Flugticket besaßen, aber vom Land etwas sehen wollten? Die vertrauten ihrem Schutzengel und nahmen die Eisenbahn - dachte ich und ließ mir von Herrn Ibrahim ein Schlafwagenticket für den Schalimar Express nach Lahore organisieren.

Es war ein Mittwochabend, als ich den Bahnhof von Karachi betrat. Was den Krach und das Gedränge betraf, so unterschied sich er sich in nichts vom Bahnhof in Kalkutta oder Delhi. In dichten Menschentrauben rangelten die Reisenden im catch-as-catch-can-Modus vor den Ticketschaltern, und es war vollkommen unersichtlich, nach welchem System außer dem des rabiaten Körpereinsatzes man jemals an ein Ticket kommen sollte. Scheppernde Stimmen hallten elektronisch verstärkt durch die Eingangshalle, ohne dass man etwas verstehen konnte.

Angestellte der pakistanischen Eisenbahn kontrollierten und markierten die Billets mit einem Kugelschreiber. Ich hatte wieder meinen Shalwar Qamiz angezogen, um nicht aufzufallen, doch dem Kartenkontrolleur war ich nicht geheuer. Er war ein dicht behaarter Mensch mit einer niedrigen Stirn und den leeren Augen eines Schafes. Wahrscheinlich pries sich glücklich, diesen Job als Fahrkartenkontrolleur am Bahnhof von Karachi ergattert zu haben. Als er meinen Pass studierte und sah, dass ich Deutscher war, ließ er mich durch. Im Unterschied zur allgemeinen Selbstzerknirschung, der man sich in Deutschland gefällt, ist der Deutsche im außereuropäischen Ausland durchaus beliebt – allerdings nicht immer aus ganz koscheren Gründen.

Der Schalimar Express, der Nachtzug nach Lahore, stand bereits zur Abfahrt bereit. Aus den offenen Fenstern der zweiten Klasse und der Economy Class roch ich Curry, Chilly und Bratenfett – die Passagiere begannen ihre Reise mit einem ausgiebigen Abendessen im Zug. Bei der sogenannten zweiten Klasse handelte es sich um offene Waggons ohne Abteile mit ausklappbaren Pritschen, auf denen geschlafen werden konnte.

Nach einigem Suchen fand ich meinen Waggon und das Schlafwagenabteil, das ich vorgebucht hatte. Ein Mann in mittleren Jahren hatte sich auf dem Fenstersitz breit gemacht, ihm gegenüber saß ein Jugendlicher, fast noch ein Knabe, wahrscheinlich sein Sohn. Es würde also genug Platz zum Schlafen sein, denn zwei weitere Pritschen, die senkrecht an der Wand befestigt waren, konnten bei Bedarf ausgeklappt werden. Die restlichen Plätze im Abteil waren frei.

Ein durchdringendes Signal ertönte, es gab einen Ruck und der Zug setzte sich in Bewegung. Hatte ich bislang geglaubt, das Straßenbild von Karachi könnte nicht noch schlimmer werden, wurde ich bei der Zugfahrt durch die Hinterhöfe der Stadt eines Bessern belehrt. Schon nach wenigen Minuten passierte der Zug ein regelrechtes Müll-Land, das aus Blech- und Papphütten und aus Abfallhaufen und Schutt bestand. Eisenbahnfenster, an denen die Umgebung vorbeizieht, gleichen mobilen Reisereportagen, hat Paul Theroux einmal gesagt. Heute Abend war es eine Reisereportage über das urbane Elend. Langsam erhöhte der Zug seine Geschwindigkeit, und die Gruben, Bauruinen, Hinterhöfe und Misthaufen rasten in immer schnellerer Folge vorüber, ehe sie sich zu einem vorbeihuschenden Bild des Elends verbanden.

Die Abteiltüre ging auf, und der Schaffner kontrollierte die Tickets. Er war ein junger Mann mit vorwitzigem Gesicht, der mein Billet misstrauisch beäugte. Möglich, dass mein Shalwar Qamiz für ihn ein Zeichen war, dass ich eigentlich nicht in dieses Luxusabteil gehörte. Bei meinem Abteilpartner und seinem Sohn ging es schneller.

Mittlerweile hatte der Zug die Stadt verlassen und ratterte durch eine flache, verkarstete Mondlandschaft. Die wenigen Tamarisken und Hütten, die vom Zug aus zu sehen waren, warfen im Abendlicht grotesk lange Schatten. „Allahs Müllhaufen,“ höhnten die Punjabis über die Landschaft des Sindh. Das gleiche sagten die Sindhis übrigens über Belutschistan, wo es noch schlimmer aussehen soll.

Mein Abteilnachbar räusperte sich und stellte sich als Dr. Muttar vor, der Jugendliche, der mit ihm reiste, hieß Akbar, und war sein Sohn. Dr. Muttar besaß ein großflächiges pockennarbiges Gesicht, in dem ein mächtiger Schnauz wie ein waagerechtes Ausrufezeichen spross. Er trug einen westlichen Anzug, was kurios war, weil ich ihm im Shalwar Qamiz gegenübersaß. Dr. Muttar war ein Punjabi, wie er nicht ohne Stolz berichtete und arbeitete im Wirtschaftsministerium in Islamabad. In Karachi hatte er punjabische Verwandte besucht, die vor Jahren in den Süden gezogen waren. Langsam und bedächtig legte Dr. Muttar diese Sachverhalt in einem altertümlichen Englisch dar, kaute ein wenig auf den Konsonanten herum und verschluckte den einen oder anderen Vokal.

Auch ich nannte meinen Namen, erzählte, woher ich kam, wohin ich wollte und berichtete von meinen Erfahrungen aus der ersten Reisewoche. Als ich von meiner Tour nach Thatta und den Problemen mit der Polizei berichtete, unterbrach mich Dr. Muttar: „Sie irren sich. Es gibt im südlichen Sindh keine Banditen.“

„Aber alle reden darüber“, wandte ich ein. „Und warum hätte die Regierung sonst Polizeiposten aufstellen sollen?“

„Es gibt keine Polizeiposten auf offener Strecke. Sie irren sich.“

„Ich habe sie doch selbst gesehen“, beharrte ich.

Der Junge, der merkte, dass ich seinem Vater widersprach, begann mich mit kritischem Blick zu mustern.

Ich schwieg und kramte mein Reisetagebuch heraus. Einige Sekunden verrannen, dann fragte Dr. Muttar unvermittelt: „Haben sie Dollars?“

Ich zögerte. „Einige.“

„Wie viele?“

“Nicht genug.“

„Geben Sie meinem Sohn einen Dollar. Er hat noch nie einen gesehen“, forderte mich Dr. Muttar auf.

„Wie kommen Sie darauf, dass ich Geld verschenke?“ fragte ich.

„Weil Sie reich sind.“

„Sehe ich denn reich aus?“

„Nein. Aber Sie haben Dollars.“

„Aber nicht genug.“

„Wenn Sie nicht genug Dollars haben, warum bleiben Sie dann nicht zuhause?“

„Weil ich mir mit diesen Dollars das Land ansehen möchte, was aber nicht gelingt, wenn ich mein Geld verschenke.”

„Deutschland ist ein gutes Land“, änderte Dr. Muttar das Thema.

„Das finde ich auch.“

„Aber nicht so gut wie Pakistan.“

„Stimmt“, erwiderte ich. „Die Männer in Pakistan sind besser frisiert als die Deutschen.”

Der Junge war unserem Gespräch aufmerksam gefolgt. Immer wenn der Vater etwas sagte, schaut er wohlgefällig drein, bei meinen Antworten verdüsterte sich seine Miene. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er mich im nächsten Moment angeknurrt hätte.

Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Weit und breit war kein Licht mehr zu sehen. Ich stand auf und lockerte die oberste Pritsche und stellte sie in die Horizontale. Dann schwang ich mich mitsamt meinem Gepäck nach oben und legte mich zum Schlafen nieder. Die Schlaufen meines Rucksacks und meiner Fototasche befestigte ich an meinem Gürtel. Dann zog ich mir die Augenbinde über, drückte mir die Ohrstopfen in die Gehörwindungen und schlief ein.

Mitten in der Nacht erwachte ich durch Dr. Muttars Schnarchen. Er hatte sich seine Schlafstatt in der Parterre gebaut und lag wie ein Walross unter einem weißen Bettlaken. Wie zum Teufel hatte er sich das Laken besorgt? Sein Sohn lag ihm gegenüber, hatte die Augen geschlossen und gab keinen Mucks von sich. Sanft ratterte der Zug durch die Nacht. Es war ruhig im Waggon. Nur das Tackern der Schienennähte war zu hören.

Ich wachte auf, als der Zug in einen Bahnhof einfuhr. Es war noch dunkel, aber Dr. Muttar und sein Sohn schliefen noch immer. Auf einem Bahnhofsschild las ich „Rahimyar Khan“ Später sollte ich erfahren, dass wir uns in Rahimyar Kahn ganz in der Nähe der indischen Grenze befunden hatten. Weniger als 200 Kilometer trennten Rahimyar Khan von Jailsalmer und Bikaner in Rajastan, aber niemand außer den Schmugglern überschritt an dieser Stelle die Grenze.

Kurz hinter Rahimyar Khan stand ich auf und erwarb von einem Steward, der mit einem Wagen mit Fladenbrot, Gebäck, Obst und Tee durch den Zug lief, zwei Bananen und einen Tschai zum Frühstück. Inzwischen waren auch Dr. Muttar und sein Sohn aufgestanden. Aus einer Pappschachtel aßen sie eine Pampe mit Reis und Hühnchen, die penetrant nach Curry roch. Als Dr. Muttar fertig war, tupfte er sich mit einer Serviette seinen fleischigen Mund ab und ließ ein Bäuerchen hören. Dankbar kicherte der Sohn.

„Wir sind jetzt im Punjab“, begann Dr. Muttar erneut das Gespräch. „Wissen Sie, was Punjab bedeutet?“

„Ja“, sagte ich, „Fünfstromland.“

„Ja, richtig, aber welche fünf Ströme?“

„Ich glaube, die bekomme ich nicht alle zusammen.“

„Ich sage sie Ihnen: Indus, Jhelum, Sutlej, Chenab und Ravi.“

„Danke.“

„Wussten Sie, dass der Punjab die bevölkerungsreichste Region der Erde ist? Im Punjab leben über einhundert Millionen Menschen.“

„In der Ganges-Ebene leben zweihundert Millionen Menschen“, wandte ich ein.

„Pah, die Ganges Ebene!” widersprach Dr. Muttar. „Die Statistiken der Inder stimmen doch nicht. Da leben viel weniger Menschen als im Punjab.“

Ich schwieg.

Auch Dr. Muttar sagte nichts mehr und blickte aus dem Fenster. Meine Einwände schienen ihn zu ärgern. Außerdem hatten wir Verspätung.

Kurz vor Bahawalpur überquerte der Zug den Sutlej auf einer große Brücke und fuhr nördlich Richtung Multan.

“Wir steigen in Multan aus“, sagte Dr. Muttar.

„Wie schade“, gab ich zurück.

Zu meiner Überraschung verabschiedete sich Dr. Muttar mit Handschlag von mir, gerade so, als hätten wir uns prächtig unterhalten. Der Blick seines Sohnes blieb skeptisch.

Wir standen fast eine Stunde auf dem Bahnhof von Multan, und es wurde von Minute zu Minute wärmer. Die Sonne des Punjab war womöglich noch kräftiger als die Sonne des Sindh. Anstelle der versprochene Aircondition verrichten zwei altersschwache Ventilatoren ihren Dienst an der Decke. Für die Nacht hatte ihre Leistung ausgereicht, am Tage gelang es ihnen gerade noch, die stickige Luft im Abteil gleichmäßig zu verteilen.

Kurz vor der Abfahrt betraten zwei Backpacker das Abteil. Es handelte sich um Individualtouristen aus Polen mit entsprechend großen Rucksäcken. Ihre Namen waren Kuba und Tomek, und sie befanden sich auf einer Eisenbahnreise durch West- und Südasien. Seitdem vor einigen Jahren der Eiserne Vorhang gefallen war, traf man immer öfter auf Polen, Tschechen oder Rumänen auf den Backpackerpfaden der Welt. Es war fast so, als hätte sich ein Teil der studentischen Jugend dieser Länder vorgenommen, die globale Wandervogelbewegung der Hippiezeit im Schnelldurchgang nachzuholen.

Beide sprachen ein passables Englisch, Kuba konnte sogar ein wenig Deutsch. Ich brachte immerhin ein „dzien Kuje“ und ein „dzien Dobry“ heraus, was die Stimmung entspannte.

Kuba, ein kräftiger junger Mann mit muskulösen Oberarmen erzählte von ihrem Eisenbahn-Enthusiasmus und dass sie schon letztes Jahr auf der Transsibirischen Eisenbahn unterwegs gewesen seien. Nun waren sie schon seit zwei Monaten auf Tour und hatten Rumänien, Bulgarien, die Türkei und den Iran durchquert. Afghanistan als Zwischenziel musste leider entfallen, weil dort Bürgerkrieg herrschte. Deswegen hatten sie einen Umweg über den südlichen Iran eingeschlagen und waren über Kerman und Bam bis nach Zahedan gereist. Trotz eines gültigen Einreisevisums waren sie an der pakistanischen Grenzen zwei Tage festgehalten worden. Erst als weitere iranische Händler eingetroffen waren, wurden sie von einem halben Dutzend Soldaten in einem gesonderten Eisenbahnabteil nach Quetta, der Hautstadt Belutschistans, eskortiert.

Kuba und Tomek erzählten ihre Reisegeschichten in Stereo, wobei der eine den anderen aber weniger unterbrach als ergänzte. In Quetta hätten sie das Hotel nicht verlassen dürfen. In der Nacht waren Schüsse gefallen, und einer der Soldaten, der ein wenig Englisch sprach, hatte ihnen erzählt, dass die Stadt von Aufständischen eingekreist sei.

„Die ganze Provinz ist eigentlich besetztes Land“, erklärte Tomek. Belutschistan sei so groß wie Polen, habe aber nur vier Millionen Einwohner, von denen die Mehrheit inzwischen Punjabis und Sindhis wären, warf Kuba ein.

Tomek bestellte eine zweite Runde Tschai. Aus einer Wasserflasche, in der sich Wodka befand, schenkte er jedem einen kleinen Schluck Alkohol in den Tee. „Der Russe braucht Bortsch, der Ukrainer Speck, und der Pole Wodka“, lachte Tomek. „Was braucht eigentlich der Deutsche?“

„Ich weiß nicht … Bier?“ gab ich zurück.

„Bier trinken wir auch,“ erwiderte Tomek und packte die Flasche wieder weg.

So verging der halbe Tag, die Sonne stieg in den Zenit und es wurde unerträglich heiß. Kurz vor Harappa versagten die Ventilatoren ihren Dienst, und wir öffneten die Fenster so weit es ging. Irgendeine Kühlung ergab sich daraus nicht, denn der Fahrwind, der ins Abteil wehte, besaß die Temperatur eines heißen Föns auf Stufe drei. Schließlich folgten wir dem Beispiel der Einheimischen in den Normalabteilen, feuchteten Handtücher oder Waschlappen in der Zugtoilette an und legten uns die nassen Lappen in den Nacken. Es fühlte sich an, als hätte man eine warme Schlange im Genick, tat aber trotzdem gut.

In Harappa stiegen Tomek und Kuba aus, um sich die zweite große Ruinenstadt der Induskultur neben Mohenjo Daro anzusehen. Ich überlegte, ob ich sie begleiten sollte, ließ es aber. Immerhin verabredeten wir uns locker in Lahore, das sie wahrscheinlich übermorgen erreichen würden.

Mittlerweile war der Nachmittag angebrochen, und der Zug durchfuhr die weiten Ebenen des Punjab zwischen dem Chenab und dem Sutlej. Im Vergleich zum Sindh hatte sich das Landschaftsbild komplett verändert. Bis zum Horizont erstreckten sich die Felder, auf denen Getreide, Baumwolle, Reis, Zuckerrohr, Obst und Tabak angebaut wurden. Diese Fruchtbarkeit war die Folge eines gewaltigen Kanalsystems, das die Flüsse Jhelum, Chenab und Ravi miteinander verband. Dieses Kanalsystem, das im 19. Jahrhundert unter britischer Federführung entstanden war, hatte den Punjab in einen fruchtbaren Garten zwischen der Wüste Thar und den Bergen Paschtunistans verwandelt, ohne den Pakistan niemals seine explodierende Bevölkerung ernähren könnte.

Es war schon Abend, als der Zug in den Bahnhof von Lahore einfuhr. Obwohl die Hitze etwas nachgelassen hatte, klebte mir die Kleidung am Leib. Mein ganzer Körper war in einen glitschigen Schweißfilm eingehüllt, und es wunderte mich, dass es nicht schwappte, als ich mich erhob und das Abteil verließ.

Nichts deutete mehr darauf hin, dass die Eisenbahnstation von Lahore im Jahr der indischen Teilung ebenso wie der Schwesterbahnhof von Amritsar im indischen Teil des Punjab als „Bahnhof des Todes” verschrien gewesen waren. Mörderbanden auf beiden Seiten der neuen Grenze hatten ihre asozialen Instinkte an den Flüchtigen der anderen Seire ausgetobt. Moslems, die aus Indien nach Pakistan, konkreter: von Amritsar nach Lahore fliehen wollten, wurden massakriert und in Leichenzügen nach Lahore geschickt. Aber auch die andere Seite blieb nichts schuldig, In Lahore brachten fanatisierte Moslembanden Hindu- und Sikhfamilien um, die den entgegengesetzten Weg von Lahore nach Amritsar nehmen wollten Diese indischen Teilungsexzesse lagen nun schon fast drei Menschenalter zurück, waren aber unvergessen

Als ich mich dem Ausgang näherte, umgab mich ein unbeschreibliches Gedränge, aus dem sich Gesichter und Gesten wie Wahrnehmungsschnipsel herausschälten. Unvermittelt stürzte sich ein junger Mann auf mich und versuchte, mir das Gepäck abzunehmen. Sein Gesicht war merkwürdig geschäftig, als folge er einem höheren Plan, gegen den jeder Widerstand sinnlos sei. Seine Bewegungen hielten genau die Mitte zwischen Raub und Dienstleistung, so dass wir einige Sekunden miteinander rangelten, ehe ich seine Hände wegschlug und er in der Menge verschwand. Aber schon hatte mich der nächste am Wickel, drängte sich an mich und sagte „Ticket-Control“, „Ticket-Control“. Dabei schaute er mir so intensiv in die Augen, als wolle er mich hypnotisieren, während ich seine Hände an meiner Bauchtasche spürte. Wieder riss ich mich los und erreichte schließlich den Ausgang, an dem ich einem regulären Beamten mein Ticket überreichen und den Bahnhof verlassen konnte.


Eingang zur Badschai Moschee von Lahore

Transasia. Von Karachi nach Beijing

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