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Zentrifuge der Millionen In Jakarta
ОглавлениеWährend des Anfluges auf Jakarta las ich in der englischsprachigen „Jakarta Post“ einen Leitartikel, in dem darauf hingewiesen wurde, dass der internationale Sukarno –Hatta-Airport schon seit längerer Zeit oberhalb seiner maximalen Kapazitätsgrenze arbeite. Ein Luftfahrtexperte wurde zitiert, der behauptete, dass die tägliche Anzahl der Starts und Landungen nur noch mit drastischen Einbußen an Sicherheit abgewickelt werden könnte, konkreter gesagt: mit einer gefährlichen Unterschreitung der Zeitintervalle startender und landender Flugzeuge. Das waren keine guten Nachrichten, aber die Passagiere der Garuda Maschine aus Singapur schien das nicht zu beunruhigen. Sie sahen Filme oder dösten mit glasigen Augen vor sich hin, als die Maschine ihren Landeanflug begann. Ganz ähnlich wie in Mexiko City oder andern Megastädten der Welt hatte der wuchernde städtische Ballungsraum längst den Flughafen erreicht und umzingelt. Ein unübersehbarer Häuserteppich erstreckte sich bis zum Horizont, während sich die Maschine dem Rollfeld näherte. Die Landung war butterweich, aber kaum ausgerollt, musste die Maschine zwischen zwei parallelen Landebahnen stoppen, weil auf beiden Rollfeldern gerade Maschinen starteten und landeten. Es war so viel los auf dem Airport, dass an ein normales Ausrollen nicht zu denken war. Ich traute meinen Augen nicht, als eine Boeing heran raßte, uns in einem Abstand von wenigen Dutzend Metern passierte und sich in die Luft erhob. Unsere Maschine bebte, und alle zeigten betroffene Gesichter. Mit einem Wort, ich war froh, als ich das Flugzeug verlassen konnte.
Es gab aber auch gute Nachrichten. Die Fahrt vom Flughafen in die Stadt dauerte auf der neu errichteten Schnellstraße gerade mal eine Stunde. Das hatte ich bei meinen früheren Aufenthalten noch ganz anders erlebt. Ich wohnte im Ashley Hotel an der Jalan Wahid Aysin direkt in der Innenstadt. Durch die großen Fenster meines Zimmers sah ich die Hochhäuser der unmittelbaren Umgebung, eine Skyline wie ein großes, schadhaftes Gebiss, denn die Front der Wolkenkratzer wurde von flachen Häusern, Höfen und kleinen Moscheen unterbrochen. Weltstadt und Dorf in einem Blick, das war Jakarta.
Als ich das Hotel verließ, empfing mich die Hitze wie ein Schlag ins Gesicht. Nur wenige Meter zu Fuß auf der überfüllten Straße, und ich war schweißgebadet. Daran hatte sich seit meinen früheren Aufenthalten nichts geändert. Auch das ohrenbetäubende Geknatter der Motorräder, die in unglaublichen Mengen durch die Straßen kurvten, war das gleiche geblieben. Es roch nach Kerosin, Schweiß, Staub und einem winziger Hauch von Durian. Auch das kam mir bekannt vor.
Nur wenige Meter von meinem Hotel entfernt befand sich die Jalan Jaksa, die ehemalige Traveller-Enklave von Jakarta. Hier hatte ich vor vielen Jahren übernachtet, während ich auf einen Reisepartner wartete. Damals war die Jalan Jaksa eine Art Khao San Road gewesen, nur viel dreckiger und billiger. Sehr viele Hostels der Low Budget Klasse hatten Tür an Tür um Gäste geworben. In Hinterhofbiergärten hatten die Backpacker auf das Bier und die Mücken auf das Blut der Backpacker gewartet. Das Zimmer, das ich damals in der Jalan Jaksa bewohnt hatte, war sieben Quadratmeter groß gewesen und hatte nur aus einem einzigen Bett ohne Bettwäsche bestanden. Kein Stuhl, eine schmale Dusche im Flur und ein Moskitogitter vor dem Fenster. Die Traveller jener frühen Jahre hatten Vaganten geglichen, die es liebten, im slow motion Modus von Ort zu Ort zu reisen und im großen asiatischen Fotoalbum möglichst kräftesparend herumzudösen. Wo sie schliefen und ihr Bier tranken, war ihnen egal. Manchmal schäkerten sie mit den leichten Mädchen, die sich in der Jalan Jaksa herumtrieben, schliefen aber nur selten mit ihnen, weil sie einen Igel in der Tasche hatten. Nachts tranken sie Gin oder Whiskey, weil sie sonst nicht durch die Schwüle kamen. Auf der anderen Seite war mir auch eine andere Empfindung aus diesen Jahren gegenwärtig geblieben: das Bewusstsein, ganz am Anfang eines Reiselebens zu stehen und das Gefühl, dass die Geheimnisse und Abenteuer der Welt wie ein großer Gabentisch vor mir lagen und man nur die Decke wegziehen musste, um sie zu sehen.
Ein Lebensalter später schlenderte ich nun wieder durch die Jalan Jaksa, eine kleine Seitenstraße, deren aktuelle Mickrigkeit mich verblüffte. Hier und da erkannte ich einige der bunten Fassaden wieder, doch die meisten Hostels waren verschwunden. Einem sentimentalen Impuls folgend suchte ich das Hostel, in dem ich vor 27 Jahren logiert hatte, fand aber nur einen umgitterten Parkplatz. Ich ging die Straße herauf und herunter und zählte am Ende gerade mal ein halbes Dutzend jugendlicher Backpacker, die ihre knappe Reisekasse in diese Straße geführt hatte. Wie es aussah, gehörte die Jalan Jaksa als zentrale Anlaufstelle der Backpackerszene der Vergangenheit an. Die jugendlichen Reisenden der Achtziger und Neunziger Jahre waren inzwischen arriviert und konnten sich bessere Hotels leisten. Ihre Kinder, die neue Generation, schien ganz anders zu reisen, jedenfalls nicht mehr entlang der Backpackerrouten „on a shoestring“ wie in den altvorderen Tagen.
Fünf Möglichkeiten gibt es, in Jakarta, die Innenstadt zu erkunden. Eine theoretische (das Fahrrad) und vier praktische: nämlich das Zufußgehen, die Anmietung eines Ojeks, den Taxitransport und das Busfahren. Diese Möglichkeiten habe ich erprobt, und hier ist meine Bericht.
Die Erkundung Jakartas zu Fuß ist ein Ding der Unmöglichkeit, nicht nur, weil die Stadt so groß, sondern weil sie ganz und gar nicht fußgängergerecht ist. Was nicht ausschließt, das zu jeder Stunde des Tages Millionen Fußgänger in Jakarta unterwegs sind. Aber sie bewegen sich, ökologisch gesprochen, in einer nicht artgerechten Umwelt – angerempelt, gestoßen, auf schadhaftem Trottoir stolpernd, von parkenden Autos oder Auslagen auf die Straßen abgedrängt, auf denen die Fahrzeuge wie Geschosse an ihnen vorüberrasen. Zu der Enge kommt die Hitze. Für den normalen Mitteleuropäer reichen wenige Minuten Jakarta-Fußmarsch, bis sein Hemd durchgeschwitzt ist und er sich nach einer Dusche sehnt. Das gleiche gilt übrigens auch für das Thema Fahrradfahren. Obwohl einige Oberschlaue diese Art der Fortbewegung für Jakarta auf Reiseforen allen Ernstes empfehlen, habe ich in der gesamten Innenstadt von Jakarta nicht einen Fahrradfahrer gesehen. Und das aus gutem Grund: einen schnelleren Weg zum öffentlichen Selbstmord würde man in der Welt lange suchen müssen.
Da also die Fortbewegung zu Fuß oder per Fahrrad ausfielen, entwickelte ich einen neuen Plan. Ich begriff, dass die Stadt nichts Freundliches an sich hatte, dass sie den Reisenden nicht einlud, sie anzusehen, sondern, dass sie einem bedrohlichen Wesen aus Blechund Stein glich, das den Reisenden in seinem Innenstadthotel gefangen hielt. Deswegen musste man die Stadt auch wie ein Belagerter erkunden. Von meinem aircongekühlten Zimmer im achten Stock des Ashley Hotels wollte ich gut geplante und zeitlich limitierte Ausfälle zu den Sehenswürdigkeiten unternehmen, um dann gerade noch rechtzeitig vor dem Beginn der nervlichen Zerrüttung zurückzukehren. Wenn ich dieses Konzept mit ausreichenden Ruhepausen durchzog, hätte ich eine gute Chance, Jakarta ohne bleibende Gesundheitsschäden kennenzulernen. So dachte ich, bevor ich mein erstes Ojek bestieg.
Ojeks sind Mietmotorräder, die in Indonesien ebenso zum Straßenbild gehören wie die mobilen Garküchen. Besonders gekennzeichnet sind diese Okjeks nicht. Man erkennt sie daran, dass einer oder mehrere Motorradfahrer kretekzigarettenrauchend neben ihren Maschinen am Straßenrand stehen. Ojekfahrer sind immer Männer, meist jung, extravertiert und furchtlos, die dem Fahrgast auf Augenhöhe entgegentreten. Ihr Gehabe ist weder schleimig noch herrisch sondern gleicht dem Verhalten einer Fachkraft, die weiß, was ihre Dienstleistungen wert sind. War der Preis der Fuhre im Voraus ausgehandelt (Das allerding durfte man nicht versäumen), dann hielten sich die Fahrer an die Vereinbarung und fuhren ihren Klienten schnurstracks zum anvisierten Ziel. Der Hauptvorteil des Ojeks bestand in der Schnelligkeit, mit der man an allen Staus vorbei sein Ziel erreichte. Auch über die Unterhaltsamkeit einer Ojekfahrt brauchte man kein Wort zu verlieren. Man sah auch viel mehr vom Straßenverkehr, falls der Helm einem nicht dauernd über die Augen rutschte. Das Festhalten an Schulter oder Rumpf des Fahrers schuf Nähe zur einheimischen Bevölkerung. Wie sich der Ojekfahrer in den beständig fließenden dichten Verkehr einfädelte, wie robust er den Spurwechsel vollzog oder wie beherzt er in Überholungslücken hineinstieß, die sich jederzeit wieder schließen konnten, gehört rückblickend zu den bleibenden Erinnerungen meiner Indonesienreisen. Alles in allem kann ich die Anmietung eines Ojeks Jakartabesuchern mit Gottvertrauen und guten Nerven also durchaus empfehlen, Herzkranken und Ängstlichen rate ich allerdings von der Benutzung des Ojeks ab.
Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich die ganze Stadt mit dem Ojek erforscht. Leider zeigte sich, dass der normale Ojekfahrer ein ortsgebundenes Wesen ist. Ungern fuhr er Ziele an, die mehr als drei oder vier Kilometer von seinem Standort entfernt lagen. Möglich, dass die Ojekgruppen die Viertel der Stadt untereinander aufgeteilt haben, vielleicht aber hatten die Fahrer auch einfach keine Lust, sich so weit von ihren Kumpels zu entfernen. So blieb mir nichts anderes übrig, als für längere Exkursionen ein Taxi zu nehmen.
Taxifahren in Jakarta ist ein Erlebnis der besonderen Art. Es beginnt mit guten Nachrichten und endet unweigerlich im Stau. Die gute Nachricht ist, dass die Taxifahrer in Jakarta unter Androhung empfindlicher Strafen dazu verpflichtet sind, innerhalb des Stadtgebietes ihre Taxameter anzustellen. Das ist bitter für die Taxifahrer, denn die Fahrtpreise, die sie auf diese Weise abkassieren, gehören zu den niedrigsten in ganz Asien. Außerdem müssen der Name des Fahrers samt seinem Konterfei und der Nummer eines Beschwerdetelefons stets gut sichtbar im Innern des Fahrzeuges erkennbar sein. Waren die Taxifahrer auf diese Weise strengen Regulierungen unterworfen, konnte man das vom Verkehr nicht behaupten. Jeden Tag bewegen sich Millionen Pendler auf dem Weg zur Arbeitsstätte und zurück durch den Großraum Jakarta, und das umso konzentrierter, je mehr weiter man in die Innenstadt vordringt. Es war die pure Menge der Fahrzeuge, die einen fließenden Verkehr nahezu unmöglich machte. An jeder Kreuzung bildeten sich Staus, weil bei den Grünphasen die Fahrzeuge aus den Querstraßen die Kreuzung blockierten. Maßnahmen, die dieses Verkehrschaos abmildern sollten, waren in ihr Gegenteil umgeschlagen. So hatte man im August 2016 verfügt, dass an geraden Tagen des Monats nur Fahrzeuge mit geraden Kennzeichennummern in die Stadt fahren durften und an ungeraden nur Autos mit ungeraden Nummernschildern. Eine unerwartete Folge dieser Verordnung bestand darin, dass sich die wohlhabenderen Einwohner Jakartas einen Zweitwagen mit dem passenden Nummernschild anschafften, so dass sich die Zahl der Fahrzeuge nur noch erhöhte. Das neuartige Korridor-Bussystem erleichterte zwar den Bussen die Passage der Innenstadt, verkleinerte aber die Straßenfläche für den Restverkehr, so dass der Stresspegel weiter stieg.
Dieser ausweglosen Straßenüberfüllung konnten die Taxifahrer nur durch immer riskantere Fahrweisen begegnen, nicht nur, was die Schnelligkeit, sondern auch, was die Abstände zum Nachbarauto betraf. Indianern in den USA sagte man nach, sie seien in erstaunlichem Maße schwindelfrei, so dass man sie gut bei Hochbauarbeiten einsetzen könnte. Wie ich feststellen konnte, besaßen die Taxifahrer von Jakarta eine andere Spezialbegabung, nämlich eine unglaubliche Verlässlichkeit in der Abschätzung auch minimalster Abstände im Straßenverkehr. Wo bei uns ein Verkehrsfluss nur auf zwei parallelen Spuren funktionieren würde, ermöglichte diese Spezialbegabung drei, manchmal auch vier Fahrzeuge nebeneinander. Immer wieder bewunderte ich die Eleganz und den Wagemut, mit der sich die Taxifahrer schlangengleich durch das Verkehrsgewühl wanden, doch weil das alle taten, wurde das Chaos dadurch nicht gemildert, sondern nur auf eine neue Stufe gehoben.
Unter diesen Umständen grenzte es natürlich an Masochismus einen Nahverkehrsbus zu besteigen. Ein normaler Bus in Jakarta gleicht einem fußkranken Tier, das sich langsam durch enge Straßen schleicht, während es von Tausenden Autos und Motorrädern überholt, behindert und geschnitten wird. Anders verhält es sich allerdings mit den sogenannten Korridor-Bussen, die ich schon kurz erwähnt habe. Um Jakartas ultimativen Verkehrskollaps wenigstens etwas hinauszuzögern, war man auf die Idee verfallen, die existierenden Durchgangsstraßen in der Innenstadt einfach um eine separate Busspur zu beschneiden, auf denen nur die sogenannten „Korridorbusse“ und keine anderen Fahrzeuge fahren durften. Wohlgemerkt, es wurden keine neuen Straßen gebaut, sondern bestehende Straßen wurden einfach verkleinert und die Ein- und Ausstiegsstationen für diese neuen Buslinien als abenteuerliche Konstruktionen oberhalb der Straßen hinzugefügt. Tatsächlich war es nun den Einwohnern Jakartas möglich, die Innenstadt mit den diversen Korridor-Bussen auf den freigehaltenen Straßen relativ zügig zu durchqueren. Das Nachsehen hatten die normalen Autofahrer, die sich auf den reduzierten Reststraßenflächen mit noch mehr Staus herumschlagen mussten. Das nahm man in Kauf und empfahl den Gelackmeierten ganz einfach, den Bus zu nehmen – ungeachtet der Tatsache, dass ja nur ein winziger Teil des Großraums von Jakarta durch Korridorbusse erschlossen war.
Soweit, so semi-positiv. Auch meine Erfahrungen mit dem neuen Bus-System waren durchwachsen. Mein erster Versuch, einen Korridorbus in der Nähe von Alt-Batavia zu besteigen, misslang, denn der Bus war voll. Eine fröhliche Horde indonesischer Pfadfinder und eine Soldateneinheit auf Stadtexkursion hatten den Bus belegt. Doch da kam schon der nächste Bus. Er war herrlich leer, aber hinein kam ich trotzdem nicht, denn er war nur für Frauen reserviert. Die Hälfte der begehrten Sitzplätze war frei, auf der anderen Hälfte saßen junge und alte Damen und nickten mir aufmunternd zu, als wollten sie sagen: Warte nur, der nächste Bus voller Kerle ist nicht weit. So war es auch, der nächste Bus kam, und ich stieg ein. Doch nirgendwo konnte ich eine Fahrkarte kaufen, so dass ich an der nächsten Haltestelle wieder aussteigen musste, um ein Ticket an einem Automaten zu ziehen. Allerdings konnte man diese Tickets nur im Dutzend kaufen, auch wenn man nur zwei oder drei davon benötigte. Kein Wunder, dass sich in mir der Outlaw regte und ich allen Ernstes an Schwarzfahren dachte. Wer allerdings in Jakarta ohne einen gültigen Fahrschein erwischt wurde, hatte nichts zu lachen. Da die Scharia für solche Verfehlungen keinerlei Vorgaben machte, war schwer abzuschätzen, was mit einem westlichen Schwarzfahrer geschehen würde. Von der sofortigen Verhaftung bis zur schulterklopfenden Aushändigung eines kostenlosen Fahrscheins war bei der Breite des sundanesischen Wesens alles möglich. Deswegen ließ ich es und kaufte die Tickets im Dutzend.
„Merdeka“ bedeutet Freiheit. Was lag da näher, als nach der Ausrufung der indonesischen Unabhängigkeit einen Freiheitsplatz mitten in Jakarta zu errichten? So jedenfalls dachte Präsident Sukarno und befahl im Jahre 1961 die Anlage eines weiträumigen quadratischen Parks genau im Zentrum von Jakarta. Bei der Anlage dieses Merdekaplatzes wurden weder Kosten noch Mühen gescheut, denn der Präsident wollte, dass sich das Volk an seiner neugewonnenen Freiheit auch hinreichend ergötze. Mitten im Park, im Fluchtpunkt von vier großen Zufahrtswegen, entstand deswegen das Monas, das indonesische Unabhängigkeitsdenkmal, ein riesiger Obelisk, der sich von seinem Sockel aus nicht weniger als 132 Meter hoch in den Himmel erhob. Der sich nach oben verjüngende Obelisk wurde nicht nur mit einer Aussichtsplattform auf 111 Metern Höhe, sondern auf seiner Spitze mit einer stilisierten vergoldeten Flamme versehen. So prachtvoll gebärdete sich die Freiheit nach ihrem Sieg.
In Wahrheit hatte sich die Begeisterung der Bevölkerung von Anfang an in Grenzen gehalten. Zu unindonesisch, zu bombastisch, zu erratisch erschien das Monument, das bald hinter vorgehaltener Hand als „Sukarnos letzte Erektion“ verspottet wurde. Um zu verhindern, dass Bettler und Herumtreiber die Gloriole von Park und Monument beeinträchtigten, hatte man schon bald das ganze Gelände mit einem Zaun gesichert und nur einen schmalen Zugang gelassen, der von der Armee kontrolliert wurde. Auch die Freiheit benötigte schließlich einen Sicherheitsabstand zum einfachen Volk.
Ich passierte den Eingang des Merdekaplatzes, und setzte mich in den Schatten einer Palme. In hinreichender Entfernung vom Nationalmonument erschloss sich mir das klassische Jakarta Foto: in der Mitte des Bildes das Nationalmonument vor einem leeren Himmel, dann am unteren Bildrand auf der Höhe seiner Basis viel kleiner und entfernter die Skyline der Hochhäuser, die den Merdekaplatz umgaben. Unmittelbar vor mir erhob sich auf einem meterhohen Sockel eine überlebensgroße Reiterskulptur in extrem dramatischer Pose. Fatahilla, der sagenhafte Gründer Jakartas, zügelte sein sich spektakulär aufbäumendes Ross. Wer aber war Fatahillah? Glaubte man der geschichtlichen Überlieferung, dann handelte es sich um einen moslemischen Prinzen, der im Jahre 1527 den Hafen Sunda Kelapa erobert und an seiner Stelle die Stadt „Jayakarta“, die „Stadt des großen Sieges“, gegründet hatte. Die Nachricht dieses Monumentes war klar: Jakarta besaß einen moslemischen Ursprung und sah seinem 500. Stadtgeburtstag entgegen.
Soweit das offizielle Geschichtsbild. In Wahrheit hatte die Geschichte Jakartas als einer nationalen Metropole erst mit der Ankunft der Holländer begonnen. Sie hatten sich am Anfang des 17. Jahrhunderts in Westjava festgesetzt und im Jahre 1619 die Kolonialstadt Batavia gegründet. Der Ort war schlecht gewählt, denn die zahlreichen Kanäle, die die Stadt durchflossen, verwandelten sich schnell in Brutstätten der Malaria. Unzählige holländische Amtsträger samt ihrer Familien fanden auf diese Weise den Tod in den Tropen. Doch Batavia gedieh trotzdem, wuchs über die Hafengegend hinaus bis hin zum heutigen Stadtzentrum, an dem sich der Merdekaplatz ausbreitete.
Was war von Batavia geblieben? In der Hauptsache nur der Name und ein einziger restaurierter Platz im Norden der Stadt, der auch noch den Namen „Fatahillah Square“ trug. Dieser Platz war ein Kuriosum, ein blankgeputztes Holland in den Tropen, denn er bestand aus nichts weiter als aus einem guten Dutzend weißer Kolonialhäuser mit einer großen Kanone in der Mitte, eben jener Kanone, die die Holländer nach der Eroberung Malakkas im Jahre 1641 als Siegestrophäe nach Batavia gebracht hatten. Das auffälligste Gebäude des Fatahilla Squares war der Palast des Gouverneurs, ein weißes Gebäude mit rotem Ziegeldach und Kuppelturm, das man sich problemlos auch in den Niederlanden hätte vorstellen können. Die touristische Finesse dieses Platzes bestand im Angebot von mietbaren Hollandrädern, auf denen Touristinnen aus Korea und Japan, drapiert mit Damenhüten im Stil der Kolonialzeit, jauchzend herumfuhren. Auch im Café Batavia an der Nordseite des Platzes, wurden die alten Zeiten beschworen. Die Wände waren mit eingerahmten Schwarzweißfotografien bedeckt, auf denen lauter Kolonialbeamte mit ihren Familien zu sehen waren, wie sie von ergeben dreinblickenden Eingeborenen bedient wurden. An den Decken drehten sich die Ventilatoren, an den Tischen saßen die jugendlichen Nachfahren der europäischen Kolonisatoren und tranken Batavia-Punsch zum Klang verhaltener Jazzmusik. Alles war in ein trübes, nostalgisches Dämmerlicht getaucht, farbliche Akzente setzten nur die zierlichen Kellnerinnen, die wie kleine Püppchen zwischen den Tischen der Orang Blanda hin- und herhuschten.
Das Viertel nördlich des Fatahilla Squares bestand aus verschmutzen Kanälen, die in den Reiseführern allen Ernstes mit den Grachten Amsterdams verglichen wurden. Sie waren überspannt von baufälligen Steinbrücken und eingezäunt von Baustellen und Gerüsten, die nach Urin stanken. Die Behausungen wirkten verfallen und waren ineinander verschachtelt wie die Hütten eines Flüchtlingscamps. Manche Häuser standen gleich neben den Eisenbahnschienen, die das Gebäudegewirr wie ein Messer durchtrennten. Andere waren am Ufer der stinkenden Kanäle auf Stelzen errichtet worden. Ihre Bewohner saßen auf Emporen, rauchten, schliefen oder und fischten im trüben Gewässer nach ihrem Abendessen. Von den prachtvollen Makassar Schonern, von denen es hieß, sie würden noch immer Holz und Gewürze über die Sunda-See transportieren, habe ich nichts gesehen. Entweder waren sie alle unterwegs oder längst abgeschafft.
Auf der Rückreise machte ich in dem Chinesenviertel Glodok Station. Hier waren das Gedränge auf den Bürgersteigen und die Staus auf den Durchgangsstraßen noch katastrophaler als in anderen Teilen der Stadt. Was war alt, was neu, in diesem Gewirr aus eingeschlagenen Fenstern, Garküchen, Reisebüros, Wettbuden, Malls und Märkten rechts und links der verstopften Straßen? Die Reklameflächen verdeckten ganze Häuserfassaden, die Bürgersteige waren durch Auslagen oder parkende Fahrzeuge verstopft. Obwohl eine ganze Kohorte Straßenfeger damit beschäftigt war, den Müll einzusammeln, wurde der Abfall nicht weniger. So schnell konnten sich die Müllmänner gar nicht bücken, wie Papier, Essensreste oder Plastik auf die Straße geworfen wurden.
Obwohl der größte Teil der Chinesen von Glodok keineswegs der reichen chinesischen Oberschicht angehörte, hatten die Plünderungen und Ausschreitungen des Jahres 1998 hier in ganz besonderer Weise gewütet. Über zwölfhundert Menschen sollen bei den Pogromen am 13. und 14. Mai 1998 ums Leben gekommen sein. Die Zahl der Vergewaltigungen war unbekannt. Obwohl ein Teil dieser Ausschreitungen von politischen Akteuren organsiert worden waren, hatte eine strafrechtliche Aufarbeitung bis heute nicht stattgefunden. Zigtausende Chinesen hatten nach den Pogromen das Land verlassen, der Rest, der geblieben war, schwieg. Undenkbar, dass sich die chinesische Minderheit in Indonesien vergleichbar deutlich zu Wort melden würde wie die moslemischen Minderheiten in den europäischen Gesellschaften. Schikanen und Repressalien wären die Folge gewesen. Die traurige Wahrheit aber war: die weit überwiegende Mehrheit der Chinesen war einfach zu tüchtig, um bei der Mehrheit der indonesischen Bevölkerung beliebt zu sein. Dass viele Chinesen zudem als Christen in den Augen der moslemischen Mehrheitsbevölkerung „Ungläubige“ waren, machte die Ressentiments noch giftiger.
Ich setzte mich in eine Garküche und aß einige Geflügelspieße mit Reis und Erdnussbutter. Obwohl mich ein unbeschreibliches Chaos umgab, waren die Stühle und Tische sauber, der Verschluss der Wasserflasche war intakt und das Essen vorzüglich. Der Inhaber war natürlich ein Chinese, und wie die meisten Chinesen war er schnell, kompetent und nicht besonders freundlich. Als ich ihn über seinem Grill hantieren sah, fragte ich mich, wieviel Pogrome er bereits hinter sich hatte und wie viele noch auf ihn warten würden.
Unter den strenggläubigen Muslimen in Nordsumatra oder Zentraljava galt Jakarta als eine gottlose Stadt, obwohl auch hier wie im ganzen Land der Muezzin fünfmal am Tag zum Gebet rief und die meisten Frauen Kopftücher trugen. Was die orthodoxen Muslime störte, war zweierlei: die vermeintliche Sittenlosigkeit der nichtmuslimischen Minderheiten und, mehr noch, die „Laxheit“ der eigenen Glaubensbrüder, die es mit den Geboten des Koran nicht so genau nahmen.
Diese sogenannte Laxheit hatte eine lange Geschichte. Die Anreicherung des indonesischen Islams mit Ahnenkulten und Geisterglauben aus hinduistischen Quellen hatte einen sehr elastischen Alltagsislam entstehen lassen, in dem die unterschiedlichsten Glaubensinhalte rumpelten wie in einer zu vollen Kiste. Religiöse Puristen mochten das beklagen, in Wirklichkeit aber war es gerade diese Vermischung der Werte, die ihnen ihre Schärfe nahm und sie in multireligiösen Gesellschaften alltagskompatibel machte. Die Durchsetzung des indonesischen Volksislams mit Riten und Mythen aus anderen Religionen nahm ihm das Unbedingte und Kompromisslose, das ihn im Nahen Osten oder in den Parallelgesellschaften des Westens so kämpferisch und unverträglich machte.
Soweit, so abstrakt. Wie aber sah das konkret aus? Der junge Moslem, der während des Frühstücks im Ashley Hotel am Nebentisch sein Rührei aß, besaß nur einen zarten Flaum am Kinn, während seine hübsche Gattin ein locker geschürztes buntes Kopftuch trug. Sie repräsentierten den modischen Standard des indonesischen Alltagsislams. Ein mittelalter Indonesier mit bemerkenswertem Salafistenbart scheppte sich am Buffet tüchtig den Teller voll, sein wuchtiges Weib war bis auf einen Seeschlitz in der Burka schwarz verhüllt. War das die Zukunft? Demgegenüber wirkten der glattrasierte Chinese und seine offenherzig gekleidete Freundin merkwürdig unzüchtig wie Wesen aus einer anderen Galaxie. Alle drei Paare saßen nebeneinander im gleichen Frühstücksraum und repräsentierten ein Ausmaß an Verschiedenheit, das man je nach Standpunkt als Bereicherung oder Gefahr ansehen konnte.
Die Istiqlal Moschee in der Nähe des Merdekaplatzes war die Hauptmoschee Jakartas, ein riesiger Bau, der mit seinen geraden, vertikalen Pfeilern fast an ein Flughafengebäude erinnerte. Der Innenraum der Istiqlal Moschee gehört zu den größten Gebetshallen der muslimischen Ökumene, er war komplett mit Teppichen ausgelegt und von vier Etagen gesäumt. Ob wirklich 120.000 Menschen in dieser Moschee Platz fanden, konnte ich nicht abschätzen, denn als ich die Moschee besuchte, waren nur einige hundert Menschen anwesend, die sich zudem in den Weiten des Gebäudes verloren. Dutzende lagen auf dem weichen Teppich unter der Kuppel und schliefen, dösten oder meditierten. Auch ich legte mich lang auf den Boden und spürte sofort die wohlige Entspannung, die mich immer überkommt, wenn ich eine Moschee betrete. Nach dem unerträglichen Lärm der Straße erschien mir die Stille unter der großen Kuppel fast wie ein Gottesbeweis.
Ich war eingeschlafen und erwachte, als eine tiefe, gutturale Stimme zum Gebet rief. Sie füllte die gesamte Moschee, sie war überall, in der Halle, in den Winkeln, in meinem Kopf. Als sei in den Schlafenden ringsum mich herum ein Schalter umgelegt worden, öffneten sie die Augen, erhoben sich und gingen zur Kiblawand. Von überall her, von den Brüstungen, Etagen und Treppen, kamen die Menschen und knieten sich nebeneinander vor die Wand, die in Richtung Mekka wies. Wie beneidete ich in diesem Augenblick diese Menschen um ihre religiöse Geborgenheit und ihre spirituellen Kraftreserven, die sie schützen werden, wenn ihre Stunde kommt. Ich dagegen war ein spirituelles Federgewicht, das nur in den Zeiten des Glücks gedeihen konnte, wie viele meiner Zeitgenossen ein Gutwettergewächs, das sofort einknicken würde, wenn der Sturm kommt.
Auf Indonesier, die nicht wohlhabend genug waren, die Weiten ihrer Heimat selbst zu erkunden, wartete im Süden Jakartas eine Attraktion der besonderen Art: der „Mini Indonesia Park“, eine weiträumige Anlage mit Grünflächen, Ausstellungshallen und Tiergehegen, in der die Sehenswürdigkeiten des Landes im Legoformat präsentiert wurden. Auch Touristen, die in Jakarta ihre Indonesienreise begannen, hätten im Mini Indonesia-Park einen ersten Eindruck von ihren Zielgebieten gewinnen können – wenn die lange Anfahrt nicht die meisten Besucher abgeschreckt hätte. Auch ich benötigte mit Ojek, Korridorbus und Taxi geschlagene zwei Stunden, bis ich von der Innenstadt aus den Park erreichte. Er war mäßig besucht und hatte seine besten Tage hinter sich. Rasen und Wege waren verunreinigt, eine ganze Reihe von Ausstellungshallen war geschlossen, vom benachbarten Freibad hallte Kindergekreische herüber. Die Hauptattraktion des Parks war ein künstlicher See, in dem sich kleine Inseln befanden, die den Umrisse der indonesischen Geografie nachgebildet waren. Diesen See konnte man in den Gondeln einer Seilbahn überqueren und so auf „Borneo“, „Java“ oder „Bali“ herabblicken. Den größten Zuspruch fanden die Nachbauten altindonesischer Behausungen, die in der Nähe des Sees aufgestellt worden waren. Ein spitzgiebeliges Batakhaus und eine mattengedeckte Papuahütte, dazu die eine oder andere Pappfigur, vermittelten eine Stimmung zwischen Kitsch und Urweltlichkeit.
Authentischer wurde es im benachbarten Tiergehege des Freizeitparks. Ich sah Adler, Kakadus, Kormorane, Pelikane und bunte Vögeln aller Art, nur der angekündigte Komodo-Waran war gerade erst verstorben. Ich begegnete dem Beppo, dem klassischen Weichverdauer, den die Evolution dazu verurteilt hatte, das ganze Leben lang an Durchfall zu leiden. Dann betrachtete ich einen Vogel, an dem Charles Darwin seine Freude gehabt hätte: die Eier, die er legte, besaßen so harte Schalen, dass es nur den kräftigsten Küken gelang, ans Licht der Welt zu schlüpfen. Ein Nandu stand unbeweglich in seinem Käfig. Was war an ihm bemerkenswerter? Sein Kopfputz oder seine kräftigen Beine mit denen er beachtliche Tritte austeilen konnte? Ich sah es mit Interesse, vergaß aber die Vogelnamen sofort wieder. Ich kann mir nur Götternamen merken, bei Vögeln versagt mein Gedächtnis.
So vergingen die Tage, und langsam gewann ich ein Gefühl für die Stadt, für Ihre Größe, ihren Verkehr, für die besten Tageszeiten, um bestimmte Orte zu besuchen oder es besser bleiben zu lassen – und für ihren Ehrgeiz, eine Metropole wie Singapur, Hongkong oder Tokyo zu werden, die nicht nur als Etappe, sondern um ihrer selbst willen besucht werden. Die großen Einkaufsmalls im Süden der Stadt und die neue Schnellstraße zwischen Innenstadt und Flughafen verdeutlichten schon heute den Anspruch, eine Weltstadt zu sein – die Gassen von Sunda Kelapa oder Glodok erinnerten aber noch immer eher an Kalkutta oder Manila.
Weltstädtisch wirkte Jakarta am ehesten vom Aussichtspunkt des Unabhängigkeitsmonumentes. Einhundertelf Meter über dem Merdekaplatz erschien mir die Stadt wie ein Ozean aus Stein. Ein Kranz aus Hochhäusern hatte sich wie ein lückenloser Ring um das Stadtzentrum gelegt, dahinter verschwanden die endlosen Häuserflächen im diesigen Dunst des Tages. Wie groß war diese Stadt? In den offiziellen Stadtgrenzen waren es zehn Millionen. Da die Stadt aber immer weiter ins Umland hinein wuchs und mit den Nachbarstädten Bogor, Depol, Tangerang und Bekasi zunehmend verschmolz, war eine Metropolregion mit etwa 30 Millionen Menschen entstanden. Dieses neue Gebilde, das man bereits auf den Kunstnamen Jabodetabek getauft hatte, war damit nach Tokyo der zweitgrößte urbane Ballungsraum der Erde.