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Kapitel 2

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September 1990

Ich sitze im Bus nach Hause und draußen prasselt der Regen nur so ans Fenster. Die Felder wiegen im Wind hin und her. Überall sind große Pfützen entstanden. Wie immer habe ich keinen Schirm dabei und bis nach Hause sind es mindestens zehn Minuten von der Bushaltestelle. Manuel, der bestimmt einen überdimensionalen Schirm gehabt hätte, hat heute Nachmittag Sport. Und dann auch noch das. Direkt zwei Reihen hinter mir sitzt Erik neben Paul. Scheiße.

Ich habe Billes Rat befolgt und bin ihm aus dem Weg gegangen. Ein ganzes Jahr lang! Inzwischen ist die Mauer in Berlin gefallen, was alle Menschen aus der Nachbarschaft dazu gebracht hat, sich in die Arme zu nehmen und vor Freude und Erstaunen zu weinen, und wir sind Fußballweltmeister geworden. Letzteres sehr zum Ärger von Papa, der im Schlafzimmer wütend vor dem kleinen Fernseher dem Kollaps nahe hin und her gesprungen ist, als Italien gegen Argentinien, natürlich unfairerweise, im Elfmeterschießen verlor.

Ein ganzes Jahr habe ich einen Bogen um Erik gemacht. Das war viel schwieriger gewesen als zunächst gedacht. Aber wir hatten zum Glück komplett andere Buszeiten, sein Klassenzimmer lag auf der anderen Seite des Schulgebäudes und wenn Mama und Papa mit den Sonnbergs jeden Mittwoch zum Pizzaessen gingen, hatte ich ‚überhaupt keinen Hunger’ oder ‚ganz schlimmes Kopfweh’. Dieses Schuljahr ist plötzlich alles anders. Mindestens drei Mal die Woche haben wir zur selben Zeit Schulschluss. Das passt mir überhaupt nicht! Ich hatte inständig gehofft, diese neuen Gefühle in mir würden von selbst wieder verschwinden, wenn man sie nur lange genug ignorierte, so wie lästiges Jucken auf der Haut nach einem fiesen Mückenstich. Aber im Gegenteil: Erik war der schlimmste Mückenstich von allen. Es wollte gar nicht aufhören zu jucken, vor allem in meinem Bauch. Jedes Mal, wenn er mich ansah, fühlte ich mich wie eine hässliche Außerirdische mit Produktionsfehler: Wackelkontakt im Sprachmodus, problematische Motorik und Energieverlust im Gehirn!

Der Bus hält endlich an und ich laufe los. Natürlich hat der Regen nicht aufgehört und ich hätte mich genauso gut mit kompletten Klamotten unter die Dusche stellen können. Meine schöne Frisur, voll im Eimer! Eine Stunde mit der Rundbürste föhnen dahin. Plötzlich höre ich ein schnelles Atmen hinter mir und drehe mich um. Es ist Erik. Mist, den wollte ich doch abhängen!

„Warum rennst du denn so? Ich habe doch einen Schirm. Möchtest du nicht mit darunter? Schließlich haben wir denselben Heimweg.“

Oh Hilfe, mein Herz macht einen Sprung. Mist! „Äh, ja danke.“ Mit einem kräftigen Ruck und einem Lächeln zieht Erik mich unter seinen Schirm.

„So ist es schon viel besser.“

Ich versuche ihn nicht anzustarren oder dümmlich zu grinsen, obwohl sein energischer Ruck mich überrumpelt hat. Nein, nein, nein. Ich will ihn nicht gut finden. Gott, ich muss an irgendetwas Negatives denken: Die Erderwärmung, das Ozonloch, der Anstieg des Meeresspiegels, Tschernobyl …

„Wir haben uns ja lange nicht mehr gesehen. Hast du dich gut eingelebt?“

Die Umweltverschmutzung, Chemiestunden bei Dr. Fehmann, das Aussterben der Wale, Lippenherpes … Sein Lächeln dringt direkt in meinen kribbeligen, nervösen Magen.

„Ja, denke schon.“ Wir stehen immer noch wie angewurzelt da. Der Bus ist inzwischen weggefahren.

„Tja, da sind wir Nachbarn und haben uns bisher kaum unterhalten.“

Erdbeben, Bürgerkrieg, Rosenkohl, Lateinhausaufgaben … „Tja …“

„`Tschuldigung, dass ich bei unserer allerersten Begegnung so schroff war. Die Sache mit der Bohrmaschine. Ich bin manchmal ein ziemlicher Holzklotz.“ Er legt seinen Kopf schief und beugt sich leicht zu mir herunter. Blitzende Funken wirbeln in meinem Unterbauch aneinander und mir ist so schwindlig wie auf einem Boot. Hilfe, kann man auch an Land seekrank werden?

„Ist schon OK.“ Der Regen ist noch heftiger geworden. Warum gehen wir nicht endlich los?

„Es sieht süß aus.“

„Was?“

„Wie du dir auf deine Unterlippe beißt.“ Tue ich das? Ich erröte schlagartig. Jesusmariaundjosef!

Plötzlich sieht er mich streng an. „Warum nimmst du keinen Regenschirm mit, hm?“

„Äh, ich … lasse die immer irgendwo stehen. Im Bus, im Klassenzimmer, in der Straßenbahn, im Schwimmbad, im Zug…“

„Du vergisst andauernd Regenschirme?“, unterbricht er mich jäh und schüttelt stirnrunzelnd den Kopf. Seine Augen sehen mich lange belustigt an.

Oh Mann! Ich rede total doofes Zeug! Mist! Mist! Mist! Warum erzähle ich ihm nicht gleich, dass ich in der 6. Klasse glitzernde Glücksbärchi-Aufkleber gesammelt habe? „Wollen wir losgehen?“, werfe ich ein, um den peinlichen Moment zu überspielen.

Erik wirft einen kritischen Blick in den graunassen Himmel. „Ja, lass uns gehen. Aber wir müssen uns beeilen, es wird gleich noch heftiger regnen.“ Dann nimmt er meine Hand – Hilfe, mein Herz! - und wir laufen los.

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Als ich Erik das nächste Mal sehe, sitzt er genau zwei Plätze von mir entfernt. Das Straßenfest ist ein voller Erfolg. Alle Bänke sind voll besetzt, die Luft ist lauwarm. Eriks Vater steht am Grill und alle haben Salate mitgebracht. Papa hat gegrillte Paprika alla Siciliana gemacht, die großen Anklang finden. Musik dröhnt aus den Boxen: Lambada. Oh nein, wer hat das denn bitte aufgelegt?

Ich kann meinen Blick nicht von Erik wenden. Er hält eine große, blonde Schönheit in den Armen. Sie strahlt ihn an und präsentiert zwei Reihen makelloser Zähne. Von der hundsgemeinen Art, wie man sie aus der blend-a-med-Werbung kennt, bei der man am Schluss kraftvoll zubeißen kann. Niemand hat solche Zähne! Noch nicht mal der liebe Gott!

Sie küssen sich auffällig immer wieder und ich frage mich, wie lange ein normaler Zungenkuss wohl dauert. 10 Sekunden? 2 Minuten? Bille ist sich sicher, dass ein guter Kuss mindestens 5 Minuten dauern muss. So lang! Das muss eine feuchte und matschige Angelegenheit sein … Aber ich habe keine Ahnung und das, obwohl Bille mir ständig die Dr. Sommerseite der Bravo vorliest.

Irgendwann habe ich genug Zungensport gesehen – es stört ihn gar nicht, dass die gesamte Nachbarschaft zusieht - und stehe auf. Erik küsst die hübsche Blonde immer noch. Wieso ärgert es mich? Bille hat mich doch gewarnt: „Er hat ständig neue Freundinnen. Keine länger als zwei Wochen.“ Also, wirklich! Erik Sonnberg, muss das sein?

„Becca, wohin gehst du?“, fragt Papa besorgt.

„Nur ein paar Schritte die Straße entlang. Meine Füße vertreten“, beruhige ich ihn und schenke ihm ein nettes, unschuldiges Tochterlächeln mit Rehaugenblick.

Va bene, aber nicht allzu lang.“

Sí, sí“, antworte ich, ohne mich umzudrehen, und laufe los. Die Luft ist wunderbar. Ich gehe die Straße hinunter und biege rechts ab. Es ist immer noch seltsam, jetzt auf dem Land zu leben, ein eigenes Haus zu haben, einen großen Garten. Ganz zu schweigen von dem fehlenden Hupen der Hauptstraße, den wogenden Maisfeldern neben unserem Haus, der riesigen, neuen Schule, den vielen, neuen Lehrern und den neuen Gefühlen in meinem Bauch. Verdammt, wieso ist es mir nicht egal, was ein blöder Nachbarsjunge macht und wen er küsst? Ärgerlich kicke ich einen Kieselstein zur Seite. Ich laufe noch eine Straße weiter und sehe mir meine neue Umgebung an. Wieso bin ich die ersten Monate hier nicht lang gelaufen? Seltsam. War wahrscheinlich nur mit Schule und Schwimmtraining beschäftigt. Ich bin wirklich in den B-Kader Bayerns aufgenommen worden! Vor allem auf meine Zeit über die 100 Meter Kraul bin ich stolz wie Oskar: 1,06 Minuten! Ich laufe weiter und weiter. Wie groß diese Häuser sind! Irre, wenn ich an unsere kleine 3-Zimmer-Wohnung in Augsburg zurückdenke. Wir sind erst ein Jahr hier und es scheint mir hundert Jahre her zu sein.

Plötzlich höre ich Schritte hinter mir. Sie nähern sich schnell, werden immer lauter und mein Herz fängt an zu hämmern. Irgendetwas in mir schlägt Alarm. Meine eigenen Schritte werden auf einmal größer. Eine imaginäre Hand umfasst plötzlich meinen Magen und zerquetscht ihn. Bilder aus der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ laufen szenenartig vor meinem inneren Auge ab: Fünfzehnjähriges Mädchen spurlos verschwunden. Einsatzkräfte suchen vergeblich nach dem Mädchen. Die Polizei geht davon aus, dass es sich hierbei um ein Verbrechen handelt. Wir bitten dringend um Ihre Mithilfe. Sie trug an jenem Abend eine hellblaue Jeans und ein rotes …

„Hallo, Becca“, ruft Erik etwas atemlos.

Ich wirbele nervös herum und schnappe überrascht nach Luft. Was macht er denn hier? Muss er mir so eine Angst einjagen. „Hallo, Erik.“

„Wo läufst du hin?“

Was geht dich das an, denke ich genervt. Warst du nicht mit Küssen beschäftigt? „Nur ein bisschen die Beine vertreten.“ Ich bin viel zu nett zu ihm. Aber hätte ich denn einen Grund, sauer auf ihn zu sein?

„Ganz allein? Es ist schon dunkel.“

Sehr gut erkannt. „Ich denke nicht, dass wir in diesem Kuhkaff eine hohe Kriminalitätsrate haben oder täusche ich mich?“

„Nein, ich meine nur … allein als Mädchen.“

Also bitte, wir sind doch hier nicht in einem Ghetto von New York! „Musst du nicht zurück? Du warst doch … beschäftigt?“ Meine Stimme klingt etwas heiser.

„Nein, Katharina wurde abgeholt.“

„Oh, wie schade für dich.“ Ich will und ich muss kratzbürstig sein!

Er bemüht sich, seine plötzliche Verärgerung zu unterdrücken. „Ach, sie bedeutet mir nichts.“

Perplex schnappe ich nach Luft, mache den Mund auf, um etwas zu sagen, schließe ihn aber wieder. Du bist ein gemeiner Blödmann, möchte ich ihm ins Gesicht schreien, verkneife es mir aber. Stattdessen sage ich: „Sie tut mir leid.“

„Braucht sie nicht“, blafft er und geht einen weiteren Schritt auf mich zu. Ein seltsamer Schauer überfällt mich, aber ich weiche nicht zurück. Die Straßenlampe flackert und summt vor sich hin. Von weit weg, vermischt mit dem Gewirr vieler Stimmen, höre ich “Listen to your heart …” von Roxette. Plötzlich kommt er mir noch näher. Ich habe Mühe ruhig zu atmen. Er steht viel zu dicht bei mir und weil es mir unangenehm ist, blicke ich auf den Boden. Er sagt nichts mehr und berührt mich zuerst sanft, dann fest an beiden Schultern. Ein ungewohntes Kribbeln geht wie ein Flächenbrand durch meinen gesamten Körper und endet irgendwo kurz über meinem Bauchnabel.

„Rebecca, ich möchte …“, beginnt er und zieht mich zärtlich zu sich. Er hebt mein Kinn an und sein Blick verhakt sich in meinem. Mein Puls steigt. Was soll ich nur mit meinen Händen machen? Seine Hand liebkost meinen Hinterkopf. Dann beugt er sich zu mir herunter. Mein Atem stockt. Mir ist plötzlich furchtbar heiß. Seine Augen blitzen mich an und er kommt noch näher. Seine Lippen berühren zart die meinen, federleicht. Mit seinem Daumen öffnet er meine Lippen und sanft forschend gleitet seine Zunge in meinen Mund. Seine Zungenspitze schiebt sich vorsichtig tastend über meine Lippen. Wir atmen schneller. Viel schneller. Hunderttausend Schmetterlinge rocken in meinem Magen herum. Wo kommen die alle her?

Ach, du Scheiße! Hat er nicht vor einer halben Stunde noch ein anderes Mädchen geküsst? Ist er verrückt? Geschockt und verärgert stoße ich ihn von mir, hole aus und schlage ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Wie kann er es wagen? Zuerst küsst er die blonde Barbie und dann mich? Meine Handinnenfläche brennt. Erik sieht mich völlig überrumpelt an und hält sich die linke Wange.

„Entschuldigung, ich …“

„Du bist ein Idiot! Tue das nie wieder“, fauche ich fassungslos. Am liebsten möchte ich ihm noch einmal ins Gesicht schlagen, entscheide mich aber für die Flucht. Ich renne wie von der Tarantel gestochen los. Bloß weg, nach Hause! Und bloß nichts Papa erzählen!

Himmelherrgott, mein erster Kuss! So habe ich mir ihn nicht vorgestellt. So sollte es nicht sein, oder? Nur eine Nummer Zwei zu sein am selben Abend … aber es fühlte sich so verdammt gut an. Sein Mund auf meinem …

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„Rebecca, ich muss mit dir reden.“ Die Stimme meines Papas klingt tief und so ernst, als wäre jemand schwer erkrankt oder gestorben. Ich merke ihm sein Unbehagen deutlich an. Er deutet vielsagend auf den Stuhl in der Küche und schließt alle anderen Türen. Seine dunklen Locken sind etwas zu lang und stehen in alle Richtungen ab. Er müsste dringend zum Friseur. Die Art, wie er mich ansieht, erinnert mich stark an den Blick einer dieser fiesen Mafiabosse, die man aus Filmen wie ‚Der Pate’ kennt. Der Blick, mit dem sie in einem abgedunkelten Hinterzimmer den klapprigen Holzstuhl für ihr Opfer zurecht rücken.

„Was gibt’s?“ Seit einiger Zeit geht mir mein Papa extrem auf die Nerven. Früher haben wir uns sehr gut verstanden. Wir haben zusammen Mathe gemacht, nicht gerade mein Lieblingsfach, oder Weitsprung trainiert, weil ich unbedingt eine Ehrenurkunde bei den Bundesjugendspielen haben wollte und meine Wurfkompetenz sehr zu wünschen übrig lässt. Einmal habe ich es doch glatt geschafft minus drei Meter zu werfen, weil mir der blöde Ball zur Seite nach hinten ausgekommen ist. Papa! Seit Wochen nervt mich allein sein Anblick. „Was gibt’s?“, frage ich noch mal gedehnt.

„Du bist erst fünfzehn. Und ich denke, du bist noch zu jung, um …“, er sucht nach den richtigen Worten, „um einen festen Freund zu haben.“

Verdammt! Woher weiß er von Eriks Kuss? Ich habe niemanden etwas erzählt, alles für mich behalten. Das kann er unmöglich wissen. Hat er mir nachspioniert? Wir sind doch nicht im mittelalterlichen Sizilien! „Ich habe keinen Freund“, sage ich sauer. Es stört mich sehr, dass er sich in meine Angelegenheiten einmischt. Soll das ein verdammtes Verhör werden? Ich bin kein schwaches, bereits aus den Mundwinkeln blutendes Opfer und er nicht Don Corleone.

„Der hier lag im Briefkasten.“ Mit einem bedeutungsvollen Blick streckt er mir einen Brief hin und ich komme mir vor, als hätte man mich bei irgendeinem schrecklichen Verbrechen erwischt. Ungläubig, aber dennoch neugierig hole ich ein kariertes, verknicktes Blatt aus dem Umschlag hervor. Darauf steht: „Liebe Becca, ich finde dich total süß und hätte Lust dich kennen zu lernen. Ich würde mich sehr freuen, dich einmal zu treffen. Hättest du Lust und Zeit? Stefan.“ Ich überlege fieberhaft und dann fällt mir plötzlich ein, um wen es sich handelt. Stefan: klein, blass und ungelenk. Viele Pickel im Gesicht. Habe ich ein paar Mal im Bus gesehen. Spinnt der? Was fällt dem ein, hier aufzukreuzen? Was fällt meinem Vater ein, meine Post zu lesen? Was fällt ihm ein, zu glauben, er könnte sich in mein Leben einmischen? Sind denn alle verrückt?

Ich stoße die Luft aus. Mir ist nicht klar gewesen, dass ich den Atem angehalten habe. „Ich habe keinen Freund!“, sage ich anklagend und wütend. Gleichzeitig bin ich aber auch enttäuscht. Was hätte ich dafür gegeben, wenn der Brief von Erik gewesen wäre. Aber für Mister Supertennis bin ich natürlich unsichtbar.

„Dann ist es ja gut“, raunt Papa. Es ist überflüssig, noch weiter zu sprechen. Wir stehen beide bockig auf und verlassen ohne ein weiteres Wort die Küche.

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Die Sonne scheint und schickt uns warme, angenehme Strahlen nach unten. Ein leichter Wind streicht über die Maisfelder und kleine, bauschige Wolken hängen wie angepinnt im Himmel. Mein Papa und ich joggen die 45-Minuten-Runde um die Felder Richtung Schwabmünchen. Ich möchte meine Kondition steigern, in ein paar Wochen sind die Sprintmeisterschaften. Papa hat sich als Laufpartner regelrecht aufgedrängt. Na gut, was soll’ s. Beim Laufen kann er zumindest nicht reden.

„Hallo, was dagegen, wenn ich mitlaufe?“ Erik erreicht uns an der Abzweigung eines Feldweges, genau an der Stelle zum Wasserschutzgebiet.

Ich drehe mich um und unterdrücke ein lautes Stöhnen.

Mein Vater bleibt abrupt stehen. „Ah, Erik! Was für ein Zufall, dass du auch hier entlang joggst. Natürlich kannst du mit uns laufen, wir haben aber noch acht bis zehn Kilometer vor uns.“

„Schön, dann laufe ich gern mit!“

Erik sieht mir direkt in die Augen. Schlagartig fühle ich mich seltsam, versuche aber neutral und unverfänglich zu schauen. Super! Klasse! Auf den habe ich ja voll Lust! Kann er nicht woanders joggen? Auf dem Mond oder vielleicht gleich besser auf dem Mars! Außerirdische, die ihn hochbeamen und als Arbeitssklaven auf ihr Raumschiff entführen, wären mir alternativ auch recht …

Wir laufen los. Rechts ich, in der Mitte mein Vater und links Erik. Immer wieder blickt er kurz zu mir herüber. Ich spüre seinen Blick auf mir. Es fällt mir unglaublich schwer, ihn nicht anzusehen. Mein Puls ist gleichmäßig, aber ich habe das Gefühl, alle meine inneren Organe befinden sich im Schleudergang einer Waschmaschine. Unsere Joggingstrecke, sie kommt mir heute viel länger vor als sonst. Sie muss sich durch irgendeine kosmische Strahlung verdoppelt haben! Wir laufen weiter, und jetzt sieht Erik mich wieder an. Er lächelt. Ich werde nicht schlau aus ihm. Bei unserer ersten Begegnung war er total unfreundlich, dann haben wir ein Jahr kaum miteinander geredet, dann will er mich küssen, obwohl es noch ein anderes Mädchen gab. Der ist doch komplett verrückt! Ich nicke ihm brummig zu. Danach traue ich mich nicht mehr, in seine Richtung zu sehen, bis wir wieder zu Hause sind.

„Hätte nicht gedacht, dass du so gut mithältst, Erik“ bemerkt Papa. „Man merkt, dass du viel Tennis spielst.“

Erik gibt meinem Papa lässig die Hand – sie ist sonnengebräunt, was unverschämt sexy aussieht – und verabschiedet sich freundlich.

„Wenn du magst, kannst du ja wieder mit uns laufen.“

„Können wir sehr gern wiederholen“, antwortet Erik mit einem langen Blick auf mich. Dass Papa überhaupt nichts checkt! Der hat doch Tomaten auf den Augen. Mindestens auf jedem Auge zwei …

Ich sage nichts, drehe mich ruckartig um und sperre die Haustür auf. Mir ist komisch, so als hätte ich hundert Umdrehungen auf einem Bürostuhl hinter mir. Von mir aus soll er doch um die halbe Welt joggen! Oder nach Timbuktu laufen. Dort, wo der Pfeffer wächst, würden sie ihn bestimmt auch nehmen.

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Gott sei Dank ist heute Freitag! Ich liebe Freitage! Zwei freie Tage bis Montag, herrlich! Im Fernsehen kommt dauernd Politik. Das geht schon seit Monaten so. Es geht um den Einigungsvertrag zwischen uns, also der Bundesrepublik Deutschland, und diesen anderen Deutschen, denen aus der DDR. Ich finde es krass, dass die alle 100 DM geschenkt bekommen haben. So viel Geld. Und seltsame Klamotten haben die auch an, sehen irgendwie altmodisch aus. Aber alle Nachbarn sind froh, dass die Mauer weg ist, also beschließe ich auch froh zu sein.

„Telefon, Becca“, ruft meine Mutter und steckt ihren Kopf in mein Zimmer. Ihre halblangen Locken leuchten in vielen unterschiedlichen Rottönen, als sich die Nachmittagssonne einen Weg durchs Fenster bahnt.

Wer will denn jetzt noch was von mir? Es ist gleich sieben, und ich stehe mit meiner Schwimmtasche im Gang und warte auf Papa. „Hallo?“, frage ich in den Hörer unseres neuen bordeauxfarbenen Tastentelefons, auf das Mama so stolz ist.

„Hallo, ich bin’s, Erik.“

Oh nein, nicht der schon wieder! Ich unterdrücke ein innerliches und äußerliches Stöhnen. „Ja, hallo.“

„Hey, ich wollte dich fragen, ob du morgen Abend Lust hast, mit mir auf den Michaelimarkt zu gehen. Wir könnten mit dem Rad hinfahren. Laut Wetterbericht soll es morgen schon lau werden.“ Seine Stimme klingt locker und leicht und einladend. Überhaupt nicht so, als ob ich ihn geschlagen hätte.

Der hat Nerven!

„Becca, bist du noch dran?“, fragt er und der reine Klang seiner Stimme lässt mich mulmig werden.

OK, Fakt ist: Er ist ein Idiot. Ein Idiot, der mir völlig gleichgültig ist. Ein Idiot, der viele Mädchen küsst. Ein Idiot, der zwei Jahre älter ist als ich. Ein Idiot, der gerade Jugendmeister im Tennis geworden ist. Ein Idiot, der gleich nebenan wohnt. Ein Idiot, der wahnsinnig toll aussieht. Ein Idiot, der mir liebenswerterweise einen Regenschirm angeboten hat. Ein gut gebauter Idiot, der stundenlang für andere Umzugskisten schleppt. Ein extrem cooler Idiot mit warmen, braunen Augen und einer kleinen Narbe auf der Nase, die …

„Ja, äh … das müsste klappen. Um wie viel Uhr?“ Ist das etwa meine Stimme? Oh nein, ich habe gerade zugesagt!

„Super, ich hole dich gegen 18 Uhr ab, wenn es dir recht ist.“

„Ja, 18 Uhr ist super. Ist meine Lieblingsuhrzeit.“

„Dann bis morgen“, sagt er souverän und legt auf. Funken zünden in meinem Unterbauch.

Ich fasse mir an die Stirn. Wie bescheuert! Lieblingsuhrzeit! Was rede ich nur für einen hirnverbrannten Stuss? Wie konnte ich nur zusagen?

Papa kommt aus dem kleinen Klo. Seiner Raucherhöhle, der einzige Ort, an dem Mama ihm erlaubt hat, seine Pfeife mit Kirschtabak zu schmauchen, zusammen mit der intensiven Lektüre von Donald Duck-Heften. Er legt mir fürsorglich die Hand auf die Schulter. „Was ist mit dir los? Hast du Fieber? Geht’s dir nicht gut? Sollen wir das Training heute ausfallen lassen?“

Ja, am liebsten schon! Wie soll ich jetzt noch 200 Bahnen schwimmen? Mein Herz klopft rasend gegen meine Rippen, genauso wie am Startblock vor den 200 Meter Schmetterling, meiner Angststrecke. Meine Knie sind geleeweich. „Nein, alles in Ordnung. Wir können los, Papa. Andiamo.“ Gott, nichts ist in Ordnung, überhaupt nichts!

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„Mama, woher weiß man eigentlich, dass man sich verliebt hat?“

Meine Mutter schiebt die Zeitung zur Seite und blickt mich schief an. Ihre Locken berühren ihre Schultern, und sie steckt sie hinter ein Ohr. Mama ist wie immer dezent geschminkt, was schön zu ihrem blassen, sommersprossigen Teint passt. Sie ist sehr schlank und sieht viel jünger aus als 36. Oft wird sie für meine große Schwester gehalten. Wie üblich ist der runde Esstisch mit einer rosafarbenen Blümchendecke aus abwischbarer Folie bedeckt, die ich furchtbar kitschig finde. Das würde ich ihr natürlich niemals sagen. Ich fahre die Blütenstiele auf der Tischdecke mit dem Zeigefinger nach.

„Bist du etwa verliebt?“

„Ich? Nein! Niemals! Ich finde alle Jungs ziemlich doof. Ich frage nur wegen … wegen … Bille … die findet einen Jungen aus der Kollegstufe ganz toll.“

„Aha, Bille. Also, das mit dem Verliebtsein ist so eine Sache.“

„Wie war das denn bei dir?“ Es ist das erste Mal, dass ich sie etwas Derartiges frage und ich versuche, so beiläufig wie möglich zu klingen.

Mama schaut aus dem Erkerfenster und überlegt lange. Ihr Blick hängt irgendwo fest. „Das ist so lange her. Man denkt immerzu an den Menschen. Man bekommt Herzklopfen und man möchte gut dastehen. Also sagt man Dinge, um auf sich aufmerksam zu machen, aber gleichzeitig fühlt man sich unwohl und nervös. Ein komisches Gefühl. Auch im Bauch, so als ob tausend Ameisenarmeen hin- und herwandern.“

„Wie alt warst du, als du dich das erste Mal verliebt hast?“

„Oh je, vierzehn glaube ich, so alt wie du jetzt.“

„Ich bin fünfzehn, Mama!“, protestiere ich.

„Natürlich.“

Im Radio singen Roxette „It must have been love“ und ich nehme meinen ganzen Mut zusammen. „Ein paar Leute aus meiner Klasse treffen sich heute auf dem Michaelimarkt. Ich würde gern hingehen. Kann ich?“ OK, nicht ganz die Wahrheit. Eigentlich will sich der coole, gut aussehende Nachbarsjunge mit mir treffen. Eine klitzekleine Abwandlung der Realität, nichts weiter.

„Klar. Willst du nachher mit dem Rad dorthin fahren?“

Jetzt ganz gelassen bleiben. Kinn raus. „Wir treffen uns erst um halb sieben“. Ich versuche, meine Stimme klar und tief klingen zu lassen. Eine erwachsene Stimme und keine Kleinmädchenstimme. Ich mag meine Stimme nicht. Sie ist hoch und überhaupt nicht cool. Am schlimmsten ist es, wenn wir uns auf dem Kassettenrekorder aufnehmen. Ich finde es schrecklich, wie ich mich anhöre. Das ist eine Gemeinheit. Bei der Verteilung der schönen Stimmen hat Gott mich eindeutig benachteiligt. Und bei der Körpergröße natürlich.

„Um halb sieben? Das ist aber sehr spät. Da wird es ja schon bald dunkel.“

Oh Mann, Mama, das ist ja der Sinn der Sache. „Macht doch nichts. Heute ist Samstag.“

„Ich weiß nicht, das ist doch recht spät.“

„Ich bin doch kein Kind mehr. Das ist voll peinlich!“ Ich dachte, ich könnte meine Mutter leichter überreden, aber das war wohl ein Irrtum.

Überraschend lenkt sie ein. „Na gut, aber nur, wenn du nicht alleine gehst. Kennst du jemanden, der mit dir dorthin radelt?“

War das ein Ja? Sie hat Papa gar nicht nach seiner Meinung gefragt. Ist sie krank? Egal, jetzt nur nicht nervös werden. „Erik könnte mit mir fahren.“

Mama wendet sich wieder ihrer Zeitung zu und blättert langsam um. „Na gut. Er scheint ganz in Ordnung zu sein. Du findest ihn nicht mehr blöd, weil er anfangs so komisch war?“

„Er ist nicht so doof, wie ich zuerst dachte.“ Das hoffe ich zumindest stark!

„In Ordnung.“

Ich freue mich und könnte durch die Küche hüpfen wie ein Flummi, zwinge mich aber, ruhig und gelassen auszusehen.

„Um zehn bist du zurück“, sagt Mama.

Oder fliegen. Ich fliege! Ich fliege in mein Zimmer, direkt vor meinen Kleiderschrank.

„Viel Spaß! Und kommt pünktlich“, ruft meine Mutter aus dem Hintergrund. Himmel! Es ist schon halb sechs. Nur noch eine halbe Stunde und ich habe meine Wimpern noch nicht getuscht! Und ich habe keine Ahnung, was ich anziehen soll!

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Es dämmert schon, als Erik und ich gemeinsam mit unseren Rädern losfahren. Obwohl meine Gangschaltung kaputt ist, gebe ich mir große Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Auch der Wind hat heute ein Einsehen und kämpft nicht wie üblich gegen mich an. Danke, lieber Gott des Windes! Erik fährt nicht zu schnell und dreht sich immer wieder besorgt nach mir um. Ich habe mich für meine hellblaue Jeans und eine weiße Bluse entschieden. Meine Haare habe ich offen gelassen. So sehe ich älter aus als mit Pferdeschwanz. Mein Wimperntuschprogramm hat gut funktioniert, meine blauen Augen sehen toll aus, soweit ich das beurteilen kann. An einen Lidstrich habe ich mich noch nicht gewagt. Man soll sein Glück ja nicht allzu sehr herausfordern. Erik trägt ebenfalls eine Jeans. Allerdings ist sein T-Shirt nicht ganz jugendfrei. Eine graue Comicmaus mit Riesenpenis vergnügt sich mit einer anderen Maus bei einem Kopulationsversuch von hinten. Darüber steht in dicken Buchstaben: Komm Pussy, komm. Gott sei Dank hatte er die Jacke zugeknöpft, als er bei uns geklingelt hat!

Auf dem Markt ist die Hölle los und wir quetschen unsere Räder durch die Menschenmassen. Hinter dem letzten Stand, der passenderweise „Süße Versuchung“ heißt, finden wir einen guten Platz für unsere Räder. Direkt unter zwei großen Ahornbäumen. Ich spüre, wie der Wind über meine Arme fährt und mir eine Gänsehaut macht. Also ziehe ich meine Jeansjacke an, die hinten auf meinem Gepäckträger eingeklemmt ist. Voll freudiger Erwartung gehe ich neben Erik zurück auf die Feststraße. Mein Herz hämmert so laut, dass er es eigentlich hören müsste.

Er sieht mich auf einmal ganz lange an, als müsste er mich studieren oder als tue ihm vielleicht etwas weh. „Also Becca, ich treffe mich mit meinen Kumpels im Zelt. Wir wollen ein paar Maß trinken. Ich denke, wir sitzen so im vorderen Drittel, wenn was ist. Wir treffen uns um neun wieder.“ Erik gibt mir einen freundschaftlichen Klaps auf meine linke Schulter und geht schnellen Schrittes zum Zelteingang.

Ich stehe da wie eine kleine, blonde Salzsäule. Er ist tatsächlich gegangen und hat mich allein gelassen! Scheiße! Wie konnte ich nur denken, er würde den Abend tatsächlich mit mir verbringen? Alle Mädchen sind in ihn verliebt, und ich bin nur ein Niemand. Ein Niemand mit viel zu kleinem Busen! Mit einem Gesicht wie eine Dreizehnjährige! Ich verstehe gar nichts mehr. Warum ist er überhaupt mit mir hierhergefahren? Enttäuschung steigt in mir auf. Einen kurzen Augenblick kämpfe ich mit den Tränen und würge sie herunter. Der kann mich mal! Ich werde ganz bestimmt nicht um neun Uhr im Zelt bei ihm vorbeischauen. Ich bin fast sechzehn, alt genug, um alleine Spaß zu haben!

Plötzlich ruft jemand meinen Namen: „Mensch, Becca! Das ist ja schön, dich zu sehen. Hat dein Alter dich auch mal weggehen lassen?“

Ich schlucke etwas bei dem Wort ‚Alter’, womit wohl mein Vater gemeint ist. „Hallo, Robert. Ja, ich habe heute Ausgang.“ Er lächelt mich an und hakt sich bei mir unter. Obwohl ich Robert, unseren Klassensprecher, nur wenig kenne, fühlt es sich gut an ihn zu sehen.

„Bist du allein unterwegs?“

„Ja, klar“, lüge ich und versuche nicht, an Erik zu denken.

Ein Fragezeichen erscheint in Roberts Gesicht und ich werde unsicher, aber er geht nicht näher darauf ein. „Was wollen wir als Erstes machen? Leopardenspur fahren oder Autoskooter?“

„Eindeutig Leopardenspur!“ Ich schlucke den Unmut und die Enttäuschung über Eriks Abgang herunter. Große Mädchen lassen sich nichts anmerken. Und plötzlich fühlt sich dieser Abend gut an.

„Ach ja, und Becca?“

„Was ist?“

„Es ist wirklich toll, dass wir uns getroffen haben.“ Er zögert einen kurzen Moment. „Du siehst heute sehr hübsch aus, das wollte ich noch sagen.“

Jetzt fühlt sich dieser Abend noch besser an. Ich merke, wie mein Mund von einem Ohr zum anderen grinst. „Danke.“

In der Leopardenspur sitze ich innen, so dass die Drehgeschwindigkeit mich an Roberts Körper presst. Wir lachen laut und der enge Kontakt stört mich nicht im Geringsten. Wir haben viel Spaß. Beim Autoskooter sitzt jeder in seinem eigenen Wagen, wir liefern uns harte Kämpfe. Bon Jovis „Run away“ dröhnt aus den Boxen, und ich sehe viele meiner Klassenkameraden oder Schüler aus Parallelklassen. Später kaufen wir uns eine große Portion klebrige Zuckerwatte, die wir gemeinsam vertilgen, während wir dabei ständig versuchen, dem anderen einen Fetzen weißer Watte an die Wange zu kleben. Es ist herrlich! Da ich nicht so groß bin, muss ich mich ganz schön strecken, damit ich Roberts Gesicht treffe. Der wiederum duckt sich und greift mich von unten an. Danach holen wir uns noch gebrannte Mandeln. Robert versucht geschickt die Mandel in die Höhe zu werfen und mit seinem offenen Mund wieder zu fangen. Da ich in so einer Geschicklichkeitsübung total versagen würde, lasse ich ihm den Vortritt und jubele bei jedem Treffer.

Es ist inzwischen dunkel und der Wind hat ein bisschen zugenommen.

„Lass uns ins Zelt gehen und was trinken“, schlägt er vor. Drinnen ist es pudelwarm und ich bin froh, mich aufwärmen zu können. „Wie wäre es mit einem Radler?“ Robert eilt davon und kommt mit einem Maßkrug wieder.

Wir sitzen uns gegenüber und jeder nimmt einen großen Schluck. Er erzählt mir von seinen letzten Schulaufgaben und wie sehr er Englisch hasst. Ich sage ihm besser nicht, dass das eines meiner Lieblingsfächer ist. Dafür liebt er Mathe und Physik! Na ja, es muss wohl auch solche Menschen geben.

Wir machen uns wieder auf den Weg nach draußen und schwingen die Zeltplane zur Seite, als plötzlich Erik vor uns steht. Wütend sieht er zuerst mich an, danach Robert, dann wieder mich.

„Wo warst du die ganze Zeit, verdammt? Ich habe dich überall gesucht!“ Obwohl er mit mir spricht, fixiert Erik Robert mit funkelnden Blicken.

„Ist das etwa dein Freund?“, fragt Robert höflich. Er wirkt gelassen und ruhig, ist jedoch sichtlich überrascht.

„Nein!“, schießt es unwirsch aus meinem Mund. „Er ist nur … nur … mein … Nachbar.“ Ich versuche, unbeeindruckt zu klingen und meiner Stimme einen verächtlichen Unterton zu verleihen.

„Becca, weißt du eigentlich, wie viel Uhr es ist?“ Erik deutet wutschnaubend auf seine digitale Armbanduhr. Ohne meine Antwort abzuwarten, donnert er los: „Gleich Viertel vor zehn!“

Jetzt blickt Robert verständnislos zwischen Erik und mir hin und her. Dann lässt er meinen Arm los und meint: „Äh, ich glaube, ihr zwei müsst da irgendetwas klären. Ich gehe dann mal. Ist eh schon spät. Becca, du kannst mich ja anrufen? Würde mich freuen.“ Und dann ist er auch schon weg und Erik und ich stehen uns aufgebracht gegenüber.

„Du musst mich nicht nach Hause begleiten“, knurre ich. „Ich kenne den Weg auch allein.“ Ich mache kehrt und gehe voller Zorn zu meinem Fahrrad. Der Wind ist inzwischen sehr stark und die ersten Regentropfen fallen vom Himmel. Egal, der Abend ist gelaufen und ich muss heim. Wenn ich ordentlich in die Pedale trete, schaffe ich es vielleicht, noch pünktlich zu sein. Dann höre ich Erik hinter mir und seine Schritte klingen laut und entschlossen. Also gehe ich noch schneller, denn ich habe keine Lust, mit ihm zusammen nach Hause zu radeln. Als ich unter den Ahornbäumen ankomme, reißt Erik mich unsanft herum und hält meine beiden Arme mit seinen Händen fest.

„Aua, das tut weh! Lass mich los! Was soll das?“

Erik drückt seine Hände noch fester in meine Arme. „Wir hatten abgemacht, dass du um neun ins Zelt kommst“, schnaubt er und seine Augen funkeln böse in der Dunkelheit.

„Ja und?“ Ich bin sehr stolz auf den festen Klang meiner Stimme.

„Ich habe dich überall gesucht! Es war schon dunkel und ich konnte dich nirgendwo finden. Ich habe mir wirklich Sorgen gemacht. Verdammt!“

„Sorgen? Dass ich nicht lache! Du warst doch bei deinen Freunden im Zelt.“

„Nicht lange, Becca. Dann bin ich los, um nach dir zu sehen. Schon lange vor neun Uhr.“

„Das ist dein Pech. Wieso hast du mich heute Abend überhaupt mitgenommen und dann stehen lassen? Das war echt gemein von dir! Du hast dich benommen wie ein Arsch.“ OK, wie ein gutaussehender Arsch, aber Arsch bleibt Arsch!

„Ich habe mich bescheuert verhalten.“ Jetzt werden seine Augen sanfter. „Das tut mir echt leid, war blöd von mir. Aber warum bist du nicht um neun ins Zelt gekommen?“

Ich habe keine Lust, mich zu rechtfertigen. Ich hatte einen tollen Abend, auch ohne ihn. „Geht dich einen Scheißdreck an!“

Oh Gott, ich habe noch nie vorher Scheißdreck gesagt! Ich schicke wilde Wünsche ins Universum, dass mir Erik Sonnberg in Zukunft gestohlen bleiben kann!

Ein paar Augenblicke sagen wir nichts. Dann atmet er tief ein. Plötzlich lässt er meine Arme los und nimmt stattdessen meine rechte Hand. Ich habe das Gefühl, er ringt mit sich. Er schaut zur Seite, schnaubt laut und fährt sich mit der freien Hand durch seine braunen, stufig geschnittenen Haare. „Tut mir leid, Becca. Ich wollte nicht, dass der Abend so läuft. Ich hatte mir das ganz anders vorgestellt. Ich wollte den Abend wirklich mit dir verbringen …“ Seine Stimme wird weicher und leiser. „Oh Mann! Du bist die Tochter unserer Nachbarn. Ein kleines Ding. Du wirkst noch so jung. Aber dann, wenn ich dich mit einem anderen Jungen reden sehe, könnte ich durchdrehen. Du ziehst mich magisch an. Immer wieder. Ich muss dauernd an dich denken. In der Schule, beim Tennisspielen, beim Aufwachen, beim Einschlafen. Wenn ich überhaupt schlafen kann. Ich bin seit Wochen völlig durch den Wind. Keine Ahnung, Scheiße verdammt! Du bist so anders, sagst, was du denkst. Und wenn du wütend bist, beben deine Nasenflügel, wie gerade jetzt. Deine Füße sind winzig und du hast Sommersprossen auf der Nase. Bisher hatte ich mich immer gut im Griff, war nicht leicht aus der Ruhe zu bringen, bis du kamst. Becca, ich glaube, ich habe mich in dich verliebt!“

Ich traue meinen Ohren nicht: Mein ultracooler Nachbar hat sich verliebt? In mich? Sommersprossigen, flachbrüstigen, winzigen Niemand? Das ist nicht wahr. Erik Sonnberg empfindet etwas … für mich!?

Jetzt fängt es richtig an zu regnen. Die Ahornblätter über uns rascheln wild gegen den Wind an, und die Menschen rennen blitzschnell über den Festplatz, um noch einen trockenen Unterstand zu finden. Ein paar Mädchen kreischen wie wild gewordene Hühner. Überall ist Fußgetrappel zu hören und das Geräusch von Regenschirmen, die aufgespannt werden. Wir bleiben beide regungslos unter dem Ahornbaum stehen. Der Regen prasselt auf uns nieder, unsere Füße stehen bald bis über die Sohlen im Wasser, meine Bluse ist durchnässt und ich spüre, wie meine perfekt geschminkten Wimpern einen schmierigen Abgang über meine Wangen machen. Ich muss fürchterlich aussehen, denke ich, während Erik immer noch meine Hand hält und mich wutentbrannt ansieht. Jungen und Mädchen rasen an uns vorbei, mit und ohne Schirm. Einige halten sich Plastiktüten über ihre Köpfe. Ältere Pärchen ziehen schnellen Schrittes zum Parkplatz. Aber wir bleiben stehen.

Plötzlich zieht Erik mich zu sich und beugt seinen Kopf zu mir herunter. Wieder durchzuckt dieses Stechen meinen Magen. Viele kleine Blitze. Er nimmt meinen Kopf in seine Hände, sieht mich lange an und küsst mich schließlich sanft auf den Mund. Unsere Gesichter sind nass vom Regen, das Geräusch der vorbeieilenden Menschen verstummt. Der Regen verliert seine Kälte. Ich spüre, wie mein Herz gegen meine Rippen hämmert und dann öffnen wir unsere Lippen. Schnelle und langsame Tropfen fließen an unseren Wangen herunter. Seine Zunge gleitet über meine und lässt mich wohlig erschauern. Plötzlich zieht er mich heftig zu sich und sein Kuss wird fordernder und wilder und tiefer. Berauschende Gefühle explodieren wie kleine Bläschen in mir und wir fangen kaum hörbar zu stöhnen an. So fühlt sich also ein Kuss an! Herrlich, himmlisch, gigantisch, phantastisch, wunderbar, neu. Er hält meinen Kopf viele Minuten in seinen Händen und seine Finger graben sich in meinen Nacken.

„Du machst mich völlig verrückt“, haucht er schließlich und seine Nasenspitze berührt sanft meine Stirn.

„Das war mein erster Kuss“, flüstere ich in seine Lippen, völlig überwältigt von den in mir erwachenden, intensiven Gefühlen.

Eriks Augen sehen mich nun verschmitzt an. „Nein, dein zweiter. Bei deinem ersten hast du dich ziemlich gewehrt.“

Ein ganzes Ja

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