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Kapitel 4

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Juni 1992

Ich schrecke nervös hoch. „Da war ein Geräusch.“

„Das war nur der Wind“, antwortet Erik.

Wir sind in der alten Scheune am Wasserschutzgebiet. Unsere Scheune, die wir während eines plötzlichen Regengusses entdeckt hatten. Wir liegen in Unterwäsche auf einer alten Decke im Halbdunkel und es riecht muffig nach altem Stroh.

„Becca, komm her.“ Zärtlich streicht er mit dem Fingerknöchel über meine Wange. Er schließt die Augen mit einem Seufzen. „Ich brauche dich.“

„Ich dich auch.“ Er drückt meinen Kopf wieder auf seine Brust. Er riecht so gut. Ich kann kaum glauben, dass wir schon bald zwei Jahre zusammen sind.

„Becca, ich will dich. Ich kann nicht länger warten. Ich will dich endlich spüren. Alle anderen in unserem Alter haben es schon getan. Nur du und ich noch nicht.“

„Ich weiß. Ich habe nur große Angst davor.“

„Wovor denn? Ich würde dir niemals wehtun.“ Nachdenklich male ich kleine Kreise auf seinen nackten, flachen Bauch. Ich fahre mit meinem Finger die kleinen Wellen seiner Bauchmuskeln nach, bis hinunter zu der Stelle, an der kleine Härchen eine Bahn nach unten ziehen. Ich habe ihn dort schon oft berührt. Langsam lasse ich meine Hand weiter nach unten gleiten und Erik stöhnt hörbar auf. „Oh, Becca …“

„Ich vertraue dir doch, aber ich habe Angst davor, dass es wehtun wird“, wispere ich.

„Ich werde ganz vorsichtig sein. Versprochen.“

„Du kennst doch jeden Zentimeter meines Körpers.“

„Na ja, nicht ganz. Ein paar Zentimeter kenne ich noch nicht.“ Er drückt leichte Küsse auf meine Schulter. Sein Daumen fährt über meine linke Brust und ein Schauer überkommt mich. Meine ganze Haut prickelt und ich bekomme eine Gänsehaut.

„Sie sind wunderschön, deine Brüste. So rund und fest … und sie passen genau in meine Hand.“

„Erik, ich weiß nicht, ob …“

Erik bringt mich mit einem Kuss zum Schweigen, dann löst er seine Lippen von meinen und haucht: „Psst.“ Er packt mich mit beiden Händen am Po und zieht mich ganz zu sich. Ganz langsam schiebt er meinen Slip an den Beinen hinunter. Mich überläuft ein wohliger Schauer. Das fühlt sich fantastisch an. Seine Nase berührt meine. Sein Atem geht schneller und ich kann seine Erregung spüren. Im nächsten Moment liegt er auf mir und seine Hände gleiten langsam an meiner Hüfte entlang. Ich habe angefangen leise zu stöhnen. Er presst seine Hüfte gegen meine und wir beginnen uns langsam rhythmisch zu bewegen. Ich schnappe nach Luft. Jede Bewegung löst ein inneres Erdbeben aus. Er öffnet meinen BH …

„Ich möchte dich endlich spüren. Voll und ganz. Ich will dich. Jetzt“, flüstert er an meinem Nacken.

Plötzlich bekomme ich Panik, meine Gedanken wirbeln herum wie Federn aus einem aufgeschlitzten Kissen und ich stoße ihn heftig zur Seite. Mir wird kalt und ich habe auf einmal Angst. Hektisch suche ich nach meinem BH.

„Becca, was ist? Habe ich etwas falsch gemacht?“, fragt er bestürzt.

„Keine Ahnung, woher soll ich das wissen?“, bringe ich verwirrt hervor. „Oder doch? Ja, du bedrängst mich! Ich bin noch nicht so weit.“

„Becca, es tut mir leid. Natürlich kann ich noch etwas warten. Wir machen es nur, wenn du es wirklich willst. Irgendwann ist der richtige Moment, wenn nicht heute, dann vielleicht in ein paar Wochen oder Monaten.“ Er streichelt meinen Rücken und ich fange an zu schluchzen. „Bitte nicht weinen! Alles ist gut. Ich bin ein Hornochse, ein tierisch verliebter Hornochse. Es tut mir leid.“

Verdammt! Ich fühle mich furchtbar. Wie ein Versager. Ich wollte es doch auch, oder nicht? Wir haben schon so lange gewartet. Tue ich ihm Unrecht? Warum muss immer alles so verwirrend sein?

Juli 1992

„Erik, es ist schon morgen. Du musst jetzt langsam gehen.“ Aus meiner Stereoanlage ertönt Nirvana, „Smells Like Teen Spirit“. Ich liebe dieses Lied und summe den Refrain mit. Natürlich hassen meine Eltern diesen Sound. Dabei ist Grunge gerade total in. Sie denken, es sei fürchterlicher Krach. Aber was soll man schon von Menschen erwarten, die Peter, Paul and Mary’s ‚Puff the Magic Dragon’ hören – freiwillig!

Erik hat mir die Nirvana-CD gestern mitgebracht. Wahnsinn, dass man jetzt nur noch eine so kleine Scheibe braucht und keine Vinylplatten mehr! Es erstaunt mich immer noch, dass da so viel Musik draufpasst.

„Geh jetzt. Ich muss gleich zum Frühstück“, sage ich und schalte die Musik aus.

„Warum nimmst du mich nicht einfach mit?“ Erik zieht sich seine 501-Jeans hoch und schlüpft in ein graues Poloshirt. Er sieht unglaublich sexy aus.

Seit einigen Monaten klettert Erik nachts durch mein Fenster in mein Zimmer und bleibt bis zum Morgengrauen. Es hat was von Romeo und Julia und es ist herrlich, mit ihm zusammen zu sein. Er kitzelt mich durch bis ich nach Luft japse, hört sich mein Referat über Reiner Maria Rilke an und schleudert mit mir im Doppel Tennisbälle übers Netz - wir haben tatsächlich den 3. Platz bei den Mixed Meisterschaften im Verein gewonnen. Zuerst war er etwas zerknirscht, weil er unbedingt gewinnen wollte. Aber dann hat er sich sehr gefreut. Jeder von uns bekam einen großen Pokal und unsere beiden Namen wurden nebeneinander eingraviert. Nach der Siegerehrung wirbelte er mich überglücklich im Kreis herum.

Ich reiße mich aus meinen Gedanken. „Erik, bist du wahnsinnig? Du hast hier offiziell nicht übernachtet. Du bist bei dir, in deinem Zimmer bei deinen Eltern. Hast du das vergessen?“

„Deine Eltern sind doch nicht doof. Sie wissen sicher, dass ich fast jede Nacht hier schlafe. Nur, um mich dann wie ein Räuber über dein Fenster davonzustehlen. Ich finde das langsam albern“, protestiert er und stemmt seine Hände in die Hüfte.

„Ich weiß nicht. Ich bin froh, dass mein Vater inzwischen akzeptiert hat, dass ich einen Freund habe. Weißt du noch, wie er sich am Anfang aufgeführt hat? Ich will einfach nichts riskieren. Er ist in dieser Hinsicht schwierig.“

„Immerhin redet ihr wieder miteinander. Er schleppt dich nicht mehr ins Schwimmtraining und ich glaube, er fängt an, mich zu mögen. Inzwischen hat er verstanden, dass du nicht wegen mir aufgehört hast.“ Erik fährt sich lächelnd durch die Haare und blinzelt mir mit einem Auge zu.

Ich habe tatsächlich mit dem Schwimmen aufgehört. Bei den letzten Langstreckenmeisterschaften stand ich für die 800 Meter Kraul vor dem Startblock und etwas Seltsames ist passiert. Das ganze Schwimmbad war voller jubelnder Menschen und Fähnchen und die Atmosphäre war zum Zerreißen gespannt. Sonst schlug mir das Herz immer bis zum Hals, wenn ich vor dem Block stand und wusste, der Kampfrichter pfeift gleich zum Start. Aber dieses Mal spürte ich nichts. Keine Aufregung, kein Kribbeln in den Beinen, nichts. Die ersten Meter im Wasser kamen mir fremd vor und ich spürte keinen Drang schnell zu schwimmen. Im Gegenteil. Ich badete die Bahnen herunter, als wäre ich an einem sonnigen Tag im Baggersee. Mein Wille zu siegen war weg. Auf einmal, nach 12 Jahren Leistungssport! Als ich mit einer völlig inakzeptablen Zeit, die meinen Verein bestimmt jede Menge Bußgeld kosten würde, anschlug, beschloss ich, das Schwimmen an den Nagel zu hängen. Alle waren schockiert. Mein Trainer Gerry, meine Schwimmerfreundin Melanie, aber vor allem Papa. Wochenlang haben wir kein Wort miteinander gesprochen. Wäre es nach ihm gegangen, dann wäre ich bis zu meinem Lebensende Wettkämpfe geschwommen, er hätte am Beckenrand gestanden und hätte mich mit ‚Go Becca!’ lauthals angefeuert. Aber damit ist jetzt Schluss.

„Er mag dich, sonst hätte er dich schon längst getötet.“

Jetzt müssen wir beide kurz lachen, dann verlangt Eriks Blick eine Entscheidung. Mir ist mulmig zumute.

„Also, ich schleiche mich nicht wieder weg. Das ist doch lächerlich. Wir leben nicht mehr im Mittelalter.“ Erik streckt seine Hand nach mir aus und sieht mich mit einem Lächeln souverän an.

„Ganz ehrlich, ich habe ein bisschen Angst. Was, wenn er ausflippt?“ Ich fühle leichte Panik in mir aufsteigen.

„Glaube ich nicht. Außerdem bin ich größer als dein Papa. Jung, dynamisch und stark.“ Erik zeigt mir spaßeshalber seinen linken Bizeps und der kann sich wirklich sehen lassen.

„Ich halte das für keine gute Idee, ehrlich nicht.“

„Wir sind seit fast zwei Jahren ein Paar. Wir sind jeden Tag zusammen, wir rauchen nicht, wir nehmen keine Drogen, wir lassen uns kein Tattoo stechen, obwohl das gerade so ziemlich jeder macht.“

„Eine offizielle Übernachtung ist etwas anderes. Mein Papa ist Sizilianer, da kommt so etwas einer Verlobung gleich!“

Erik sieht mich selbstsicher an, sagt aber nichts. Er scheint offensichtlich großen Spaß an unserer Diskussion zu haben.

„Weißt du, es ist nach dem Motto: Du hast meine Tochter verführt und jetzt kommst du auch noch zum Frühstück!“, füge ich hilflos erklärend hinzu.

Ich habe mich über seinen Schreibtisch gebeugt, um mir seine Fliegerunterlagen anzusehen, Karten, Flugablaufpläne. Plötzlich steht er hinter mir und zieht mich hoch, spontan, unvorbereitet und voller Kraft. Er presst seinen Unterleib gegen meinen und küsst zärtlich meinen Nacken. „Ich liebe dich, mehr als du dir nur vorstellen kannst“, haucht er. Ich erschauere, genieße das kribbelnde Gefühl, schließe die Augen und lasse es geschehen, einfach so. Irgendetwas ist in diesem Moment anders, das spüre ich. Er umfasst meine Hüfte und diese Berührung lässt meinen gesamten Körper erbeben. In großen Wellen. Er löst eine Hand und lässt sie zärtlich vom Nacken bis zu Po gleiten. Alles in mir zieht sich wohlig zusammen und ich will mehr, viel mehr. Mein Körper entflammt.

„Du machst mich total heiß“, flüstert er in meinen Nacken.

„Hör nicht auf“, bettele ich.

„Womit denn“, fragt er scheinheilig und lässt dabei seine Hand zwischen meine Beine gleiten.

„Mich willenlos zu machen“, flüstere ich zurück und drehe mich zu ihm um.

Er mustert mich mit einem Blick, der vollkommen neu ist und der mich durchdrehen lässt. „Süße, dein Wunsch ist mir Befehl.“

Er beginnt meine Bluse langsam aufzuknöpfen. Dabei sehen wir uns unentwegt in die Augen. Als er meinen BH öffnet und seine warmen Hände meine Brüste umfassen, lasse ich meinen Kopf in den Nacken fallen und ziehe ihn näher an mich heran.

„Lass es raus“, haucht er, „alles was du fühlst.“

„Mach weiter“, fordere ich ihn auf und spüre, dass wir heftig zu atmen begonnen haben. Wir fangen an uns gegenseitig auszuziehen, hektisch und unanständig und wild. „Lass es uns machen“, fordere ich leise.

Erik trägt mich zum Bett. Alles in mir verlangt nach ihm und will ihn spüren, endlich. Als Erik sich auf mich legt, fühlt sich seine Schwere an, wie ein wundervolles Geschenk. Ein Geschenk von dem ich nicht genug kriegen kann und will. Er drückt mich tiefer in die Laken, schiebt meine Beine leicht auseinander, küsst mich immer wieder und flüstert in meine Lippen. „Bist du dir wirklich sicher?“

„Ja“, hauche ich ihm entgegen. „Mach weiter, sonst werde ich noch verrückt! Ich kann nicht länger …“

Erik bringt mich mit einem Kuss zum Schweigen und beginnt sich langsam rhythmisch zu bewegen. Dabei entfesseln seine Finger einen Sturm der Leidenschaft und ich erglühe vollends. Alle Gedanken fallen von mir ab, wie Blätter von einem Baum, und ich passe mich seinen Bewegungen an, intuitiv, fließend und natürlich. Zeit und Raum lösen sich auf. Ich gehöre nur ihm und er gehört nur mir. Als es so weit ist, spüre ich nur tiefe, unendliche Liebe und das große Verlangen nach viel mehr.

Erik lehnt mit dem Rücken an meinem Kleiderschrank und hat die Arme locker verschränkt. Ein belustigter Zug auf seinem Gesicht sagt mir, dass er meine Sorge bezüglich Papa überhaupt nicht teilt.

„Punkt 1 ist richtig. Ich habe seine Tochter verführt und es war der Wahnsinn! Sie endlich voll zu spüren und ihr Laute zu entlocken, die ich bei ihr noch nie gehört habe, bringen mich fast auf die Idee es gleich wieder zu tun, wenn ich nicht gerade Bärenhunger hätte. Und Punkt 2, das Frühstück … tja, daran arbeite ich gerade.“

Wie kann man nur so frech sein? OK, bitte schön! Ich hole tief Luft und atme aus. „Also gut, du hast gewonnen. Wir gehen gemeinsam in die Küche. Sie werden wissen, dass du hier übernachtet hast und werden sonst was denken. Ich habe jetzt schon weiche Knie!“

„Genau so machen wir es. Sie wissen sowieso, dass ich die ganze Nacht hier bin, also kann ich auch gleich mit frühstücken. Vielleicht hole ich beim nächsten Mal sogar Semmeln und Brezen?“ Erik nimmt meine Hand fest in seine und gemeinsam gehen wir Richtung Küche. Ich hole noch mal tief Luft und dann öffnet Erik die Tür. Er hat überhaupt keine Angst. Im Gegenteil, er sieht fast so aus, als hätte er ein schelmisches Grinsen im Gesicht.

Einen Moment lang herrscht entsetzliches Schweigen. Mein Papa fixiert uns beide stumm, danach nur Erik. Mein Herz klopft so sehr, dass ich Angst habe, es könnte aus meinem Hals heraushüpfen und nie mehr zurückkehren. Mit den Augen hat Papa Erik brutal erdolcht. Ich kann das Blut beinahe in großen Fontänen an unsere Küchenwand spritzen sehen.

Erik bleibt cool, unbekümmert und gelassen. Sein „Guten Morgen“ klingt lässig, charmant und selbstbewusst. Mama springt auf und rettet die Situation. Das Rutschen ihres Küchenstuhls durchdringt als einziges Geräusch die lähmende Stille.

„Also, dann lege ich noch ein Gedeck hin. Setzt euch doch. Es ist genug da.“

Und dann geschieht ein Wunder! Papa zuckt kurz mit den Mundwinkeln, schiebt einen Stuhl für Erik zurecht und knurrt mit dem Hauch eines Lächelns in seinen Mundwinkeln: „Buon giorno.“

August 1992

„Becca?“ Erik zupft mir zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn.

„Ja, Erik?“

„Ich möchte mit dir schlafen.“ Sein Blick ist intensiv und glühend.

„Hier? Wirklich?“ Meinst du das ernst! Wir sind an einem öffentlichen Baggersee. Dem kleinen Waldsee bei Langenhof.

„Es ist perfekt hier, nur du und ich, der See und die Felder und die Vögel. Es ist spät, die Sonne geht schon fast unter. Die letzten Leute sind gerade weggefahren.“

„Eben, es ist ein öffentlicher See. Wenn doch noch jemand kommt?“ Wir liegen auf dem Kies und beobachten die letzten verstohlenen Sonnenstrahlen. Die Blätter rascheln sanft im lauen Wind. Unser erstes Mal ist noch gar nicht lange her, es war die totale Katastrophe! Wir waren beide furchtbar verkrampft und nervös, unsere Hände zitterten. Ich schüttele diese unangenehme Erinnerung ab. Unser zweites Mal war dafür himmlisch! Ein wohliges Schauern durchfährt mich, wenn ich daran denke, wie er plötzlich hinter mir stand. Trotzdem zögere ich. „Ich weiß nicht, Erik, man könnte uns sehen, meinst du nicht? So etwas haben wir noch nie gemacht.“

„Stimmt. Aber der See liegt inmitten von vielen Feldern, nur ein alter Feldweg führt hierher. Und wir sind allein. Jetzt kommt niemand mehr. Nur du und ich. Ich beschütze dich“, sagt er und grinst mich teuflisch an.

„Wovor? Vor dir?“ Lachend kneife ich ihm in den Oberarm, was er sich natürlich nicht gefallen lässt. Ich laufe weg, so schnell ich kann. Er springt auf und jagt mir hinterher. Wir müssen beide lachen, immer wieder. Nach ein paar atemlosen Runden um die leere Liegewiese hat er mich gefangen. Es war herrlich, albern und schön. Erik trägt mich auf Händen und schreitet würdevoll langsam zum Wasser. Ich lasse es geschehen. Einfach so. Wir sind allein.

„Becca Santini. Bekennen Sie sich schuldig, mich tätlich angegriffen zu haben?“ Er macht ein gespielt ernstes Soldatengesicht und ich spüre seine kräftigen Arme an meinem Körper.

„Niemals! Das war eine Provokation Ihrerseits, jawohl!“

Kopfschüttelnd watet Erik mit mir ins Wasser. Ich fürchte die Kälte, aber es ist warm, viel wärmer als gedacht, und bald umgibt uns nur noch die untergehende Sonne und der See.

„Becca Santini, Ihre Schuld ist unabwendbar. Sie werden dazu verurteilt, sich mir völlig zu unterwerfen.“

„Sie sind ein Tyrann. Das hätten Sie wohl gerne!“, schimpfe ich lachend. Er hebt mein Kinn, küsst mich lange und trägt mich weiter ins Wasser hinein.

„Ja, das hätte ich gerne. Sehr gerne sogar.“

„Warum liebst du mich?“, frage ich ihn flüsternd. Das Wasser berührt nun unsere Schultern und fühlt sich weich und warm an, irgendwie beschützend.

„Oh, das würdest du wohl gerne wissen, aber das ist top secret. Wenn ich dir das verrate, müsste ich dich hinterher töten”, antwortet er augenzwinkernd.

„Oh Erik, du bist einfach verrückt.“ Wir lachen beide laut und sind bald bis zu den Köpfen ins Wasser eingetaucht.

September 1992, Auensfeld

Mir ist schwindlig, laute Musik dröhnt wummernd von der Tanzfläche. Wie immer ist der Schlossbergkeller total überfüllt und ich werde von der tobenden Masse nach rechts und links geschubst. Außerdem ist es viel zu heiß. Ich vermisse Erik.

Er ist noch beim Kellnern in der Pizzeria „Da Giovanni“. Das macht er jetzt schon seit er sein Abitur hat. In ein paar Tagen muss er zur Grundausbildung nach Roth … Er hat tatsächlich alle Eignungstests für die fliegerische Laufbahn der Luftwaffe bestanden. Er wird wirklich Soldat! Ein seltsamer Gedanke. Erik in Uniform …

Die ersten Klänge von „Losing My Religion“ von R.E.M. ertönen und alle strömen zur Tanzfläche. Diese Band ist gerade total angesagt, ein völlig neuer Sound. Ich lasse mich mitreißen und meine langen Haare fallen mir ins Gesicht, während ich mich zur Musik bewege. Bille tanzt auch mit. Meine und Bille’ s Jackcola stelle ich vor der Box beim DJ ab. Eigentlich mag ich keinen Jack Daniel’ s, ich mag überhaupt keinen Whiskey. Aber alle trinken ihn. Von hinten schlingen sich zwei Arme um mich. Kräftige Arme und ich spüre warmen Atem in meinem Nacken. Ein prickelndes, angenehmes Gefühl, wunderbar. Ich drehe mich um. Es ist Robert, mein Klassenkamerad. Lachend schubse ich ihn zur Seite. Also, wirklich! „Such dir jemand anderen“, schimpfe ich ihn.

„Schade, ich wollte aber dich.“ Schmollend zieht er weiter und wirft mir einen Luftkuss zu.

„Mensch Becca, lass uns weiter tanzen. So richtig wild!“, ruft Bille kichernd, „gerade läuft ‚Jump’ von Kris Kross.“ Wir lachen, tanzen, springen und grölen den Text mit.

Plötzlich sehe ich ihn: Erik. Sein Blick ist finster. Er nimmt meine Hand, zerrt mich von der Tanzfläche weg und bahnt uns einen Weg nach draußen. Er drückt bestimmend Leute zur Seite, nickt Bekannten kurz zu und winkt Einladungen an die Bar unwirsch ab. Er blickt einfach geradeaus und zieht mich immer weiter. Er sagt nichts. Einfach nichts. Ich fühle mich elend und schuldig, dabei habe ich doch nichts getan! Ich habe nur getanzt und … ein wenig getrunken. Erik war häufig auf Partys viel betrunkener gewesen als ich. Wer ist er? Mein großer Bruder?

„Was ist los mit dir? Was soll das?“, frage ich, als wir schon fast an seinem Auto sind.

„Wir fahren nach Hause, ganz einfach!“

„Ich glaube, du hast da was falsch verstanden!“, verteidige ich mich und versuche meine Hand wegzuziehen.

„Ich habe gesehen, wie er dich umarmt hat.“

„Dann hast du auch gesehen, wie ich ihn weggestoßen habe. Was soll dieser Auftritt also? Warum müssen wir jetzt gehen? Es ist gerade mal Mitternacht. Meine Eltern haben mir heute ausnahmsweise erlaubt, bis eins zu bleiben.“

„Er hätte dich beinahe geküsst!“ Wütend steigen wir beide ein und Erik lässt den alten, dunkelgrünen BMW an.

„Ich habe mich so auf dich gefreut. Heute Abend war verdammt viel los, die totale Hektik. Danach musste ich noch Kasse machen. Endlich bin ich bei dir und als Erstes sehe ich diesen Typen aus deinem Jahrgang, wie er …“

„Du hast das in den falschen Hals bekommen. Robert weiß doch, dass wir zusammen sind! Er war halt angetrunken! Und jetzt lass mich sofort wieder aussteigen! Halt an!“

„Nein, wir fahren nach Hause.“

„Halt das verdammte Auto an!“

„Nein, ich möchte jetzt nach Hause fahren. Mir ist die Lust auf Party machen völlig vergangen. Es tut mir leid, Becca, ich weiß, du wolltest Spaß haben und tanzen.“

„Bitte halt endlich an!“

„Nein.“ Das letzte ‚Nein’ kommt jetzt ruhiger und er blickt stur geradeaus. Er tritt aufs Gaspedal, die Felder ziehen im Dunkeln an uns vorbei und ich wüsste zu gern, was er wohl denkt. Irgendwann dreht er das Radio auf. Es läuft schon wieder ‚Losing My Religion’! Ich möchte vor lauter Wut schreien und beiße mir auf die Innenseiten meiner Wangen. Mir ist heiß und unwohl und ich könnte aus der Haut fahren.

Irgendwann legt Erik seine Hand auf meinen Oberschenkel. Wie kann er es wagen! Am liebsten würde ich sie brutal wegschieben, aber ich kann nicht. Seine Berührung fühlt sich gut an, warm und vertraut. Wieso reagiert mein Körper so extrem auf seine Berührungen? Das ist völlig unpassend, aber seine Hand schickt kleine Stromschläge durch meinen Bauch. Ich kämpfe dagegen an. Zwecklos. Es wird immer schlimmer. Ich halte diese Spannung kaum aus! Ich muss etwas tun.

„Erik?“, frage ich nervös, ohne ihn anzusehen.

„Ja?“ Seine Stimme klingt zärtlich, aber an seinem Ausdruck hat sich nichts verändert.

„Halt an und küss mich.“

Erst jetzt dreht er den Kopf zu mir herüber, verzieht aber keine Miene und wirkt ungerührt. Ruckartig tritt er auf die Bremse, setzt den Blinker und fährt auf einen verlassenen Feldweg, genau zwischen zwei Maisfelder. Mein Herz schlägt wild gegen meine Rippen, gleichzeitig bin ich immer noch extrem wütend auf ihn.

Sein Blick weicher, viel weicher. So weich und heiß wie eine volle Tasse Schokolade. „Gut, genau das möchte ich auch, Baby.“ Seine Stimme ist dunkel und fest, aber voller Verlangen. Erik beugt sich zu mir herüber und seine Lippen treffen meine. Heftig und wild. Ein großer Schauder überfällt mich und hält mich gefangen wie das Seil eines gordischen Knotens, der sich nie wieder lösen lässt.

Viele Augenblicke später fährt Erik wieder los. Meine Wut ist gänzlich verraucht und dieses Mal lehne ich mich an seine Schulter. Geborgen und sicher.

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„Und du meinst, Orange ist die richtige Farbe?“ Bille lackiert sich die Fingernägel, sitzt im Schneidersitz auf dem Bett und sieht mich fragend an. Orange ist nicht gerade meine Lieblingsfarbe, aber das würde ich Bille nicht sagen. In diesem Punkt ist sie zu sensibel.

„Ja, Orange ist cool!“, lüge ich deshalb.

Bille spreizt ihre Finger aus und betrachtet ihr Werk, während sie gleichzeitig auf ihre Nägel pustet.

„Jetzt bist du also die Freundin eines Offiziersanwärters“, sagt Bille hochoffiziell und blickt mich staatstragend an.

„Ja. Erik hat die Aufnahmeprüfungen alle bestanden.“

„Tja, und jetzt?“

„Seine blaue Luftwaffenuniform steht ihm ziemlich gut. Ich weiß nicht warum, aber so eine Uniform ist wirklich anziehend. Bei seiner Vereidigung stand er mit vielen Soldaten in einer Reihe und wirkte so stolz, weil er endlich die Ausbildung zum Jetpiloten machen kann. Maria und Conrad haben mich mitgenommen. Er hat sich wahnsinnig gefreut.“

„Hat der Bund ihn schon irgendwie verändert?“

„Charakterlich nicht, nur seine Haare! Ratzeputz kurz haben sie sie geschoren. Er sieht wirklich anders aus, aber gut.“

„So wie in Top Gun?“

„Ja genau so! Er sieht exakt so aus wie einer dieser Jetpiloten. Und Top Gun ist sein absoluter Lieblingsfilm. Ich musste ihn schon mindestens sechs Mal mit ihm ansehen. Inzwischen kann ich die meisten Passagen synchron mitsprechen.”

„Mustang, hier ist Maverick mit der Bitte um Überflug.“

„Negativ, Ghostrider, der Luftraum ist voll.“

„Goose, du toller Hengst, schaff mich ins Bett oder ich wechsle das Revier.“

Danach spiele ich ihr den Ausschnitt von der ersten Flugbesprechung vor, wie die blonde, sexy Ausbilderin den Gebrauch des Mittelfingers diskutiert.

Bille bekommt einen langen, hysterischen Lachanfall. „Oh je, du Arme!“

Ich grinse kurz zurück, zucke mit den Schultern und schaue dann nachdenklich aus dem Fenster.

„Hey, Becca, was ist?“

„Auf der Schlossbergkeller Party ist etwas passiert, das mich verwirrt.“

Bille nimmt besorgt meine Hand. „Was hast du denn? Was Schlimmes?“

Meine Stimme ist ganz leise. „Robert hat kurz seine Arme um mich geschlungen.“

„Habe ich gesehen. Ja und?“

„Ich fand das Gefühl toll.“

„Aber du stehst doch nicht auf ihn?“

„Nein! Um Gottes Willen! Gar nicht. Das ist es ja! Aber warum hat es mir trotzdem gefallen?“

„Vielleicht weil du noch nie etwas mit einem anderen hattest? Vielleicht musst du dich austoben?“

„Nein, das ist es nicht“, wehre ich sofort ab.

„Du und Erik, ihr seid seit über zwei Jahren zusammen. Er wohnt bei euch. Ich meine, er ist tatsächlich bei euch eingezogen. Mit Schrank und Ordnern und Pullis und allem Drum und Dran. Erik repariert die kaputten Küchenregale deiner Mum, kocht für alle Nudelauflauf und geht mit deinem Pa in den Baumarkt. Und ja, er bringt dich zum Lachen. Aber euch gibt es nur im Doppelpack. Es gibt kein anderes Thema als ihn! Erik, Erik, Erik! Du bist 17 und lebst wie in einer Ehe. Und wenn wir Freundinnen weggehen, klinkst du dich immer aus.“

„Aber das stimmt doch gar nicht!“

„Oh doch, das stimmt!“

„So ein Quatsch“, zische ich wütend und springe auf. „Du übertreibst!“

Bille bleibt sitzen, dreht den Nagellack zu und sagt: „Ihr seid viel zu eng! Ja, er ist ein toller Freund, aber es ist ein Wunder, dass ihr dem Anderen überhaupt erlaubt, allein zu atmen.“

„Allein zu atmen? Das ist nicht wahr! Spinnst du? Nimm das zurück!“

„Tut mir leid, Becca, aber genau so ist es.“ Jetzt steht sie demonstrativ auf, ihr Kinn in die Höhe gereckt, packt die schmutzigen und stinkenden Nagellack-Wattebäusche und rauscht aus ihrem Zimmer.

Ich bleibe aufgewühlt, aber auch ein bisschen verwirrt zurück. Quatsch, sie hat Unrecht, das ist überhaupt nicht wahr! Aber gut, ich werde ihr hinterherlaufen. Sie beruhigt sich schon wieder. Erik und ich, wir sind … Meine Gedanken verheddern sich. Ein seltsames Gefühl überkommt mich, wie ein unheilvoller böiger Wind, der einem um die Beine streicht, kurz bevor der Himmel gewitterschwarz wird.

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„Na, stehst du wieder im Gang mit all den anderen Soldaten, die telefonieren wollen?“

„Ja“, seine Stimme klingt sehr, sehr müde. Vor meinem inneren Auge sehe ich ihn mit dem Rücken an der Wand lehnen, in grüner Tarnuniform, das Schiffchen in eine Brusttasche gestopft. Die linke Hand am Hörer, die rechte ganz locker in der Hosentasche.

„Und wie läuft’ s?“

„Wieder ein Scheißtag – ohne dich! Gestern hatten wir Geländetag, das heißt, den ganzen Tag auf den Füßen und mit dem schweren Gepäck marschieren: Rucksack, Essbesteck, Essgeschirr, ABC-Tasche, Helm, Spaten, 4 Magazine und G3. Wir armen Schweine mussten natürlich gleich 20 km zum Eingewöhnen laufen, während die normalen W12er nur 7-8 km unterwegs waren.“

„Ganz schön gemein. Das wäre die Hölle für mich!“

„Nicht nur für dich. Ich habe an beiden Fersen Blasen. Jeder hier, der herumläuft, humpelt irgendwie, hinkt, stöhnt, jammert und geht wie auf Eiern. Die blöden Stiefel sind so unbequem.“

„Oh je, du tust mir so leid. Das klingt echt hart.“

„Heute steht auf dem Dienstplan auch noch ‚Dauerlauftraining bzw. 5000 m-Lauf’, aber ich glaube das müssen die wieder streichen, da keiner richtig laufen kann.“

„Das musst du alles in deiner Grundausbildung machen?“

„Sieht so aus.“ Er seufzt. „Ach, Becca, ich möchte dich so gerne spüren, dich halten, riechen, küssen und schmecken, dir den Rücken massieren, dich streicheln und dir leise und zärtlich ins Ohr flüstern, wie sehr ich dich ...“

„Ich vermisse dich auch sehr“, unterbreche ich ihn. „Es ist komisch, dich nur noch am Wochenende zu sehen. Dafür habe ich dein Soldatenbild immer in meinen Geldbeutel dabei.“

„Echt?“

„Ja.“ Ich lächele. Ich mag die kleine, schwarz-weiße Fotografie, auf der er so ernst schauen musste.

„Oh Becca, ich muss Schluss machen, die anderen schauen schon ganz ungeduldig.“

„Na gut. Ach ja, und danke.“

„Wofür?“, fragt er ahnungslos.

„Dafür, dass du mit mir vier Stunden Integrale für diese blöde Matheklausur gerechnet hast.“

„Gern geschehen. Mathe ist wichtig.“

„Ist es nicht!“

„Doch. Der Lehrer fragt: Becca, wie viel ist vier und vier? Becca: Acht. Richtig, zur Belohnung bekommst du acht Bonbons von mir. Wenn ich das gewusst hätte, entgegnet Becca, hätte ich hundert gesagt!”

„Hahaha, sehr lustig“, antworte ich kichernd und gespielt beleidigt. „Kreativer Mathewitz, Herr Sonnberg. Sie waren übrigens ein strenger Mathelehrer! Viel schlimmer als mein Grundkursleiter. Und vor dem haben alle Mädchen Angst.“

Er lacht kurz: „Ich dachte, meine Schülerin brauchte das so. Sie war am Anfang recht begriffsstutzig.“

„Pfff!“ Ich und begriffsstutzig! „Nur weil ich wissen wollte, wofür man diese vermaledeiten Nullstellen überhaupt ausrechnen muss!“ Gut OK, ich habe für die Infinitesimalrechnung stolze 14 Punkte bekommen, eindeutig Eriks Verdienst.

„Becca?“, sagt er nun leise. „Ich möchte dich an meiner Seite haben. Immer.“

„Ich bin doch immer an deiner Seite. Auch jetzt. Und so oft in Gedanken.“

„Das ist schön. Wenn ich am Wochenende wieder da bin, koche ich uns was Leckeres. Lass dich überraschen. Ich muss jetzt auflegen. Die anderen Jungs hier killen mich schon mit Blicken.“

„Na gut, wenn’s sein muss. Ich freue mich auch aufs Wochenende. Du kochst so lecker! Wenn du nicht Pilot werden würdest, müsstest du Koch werden.“

Er lacht laut auf und ich muss sofort mitlachen. Sein Lachen ist unverkennbar und ansteckend. Er kann gar nicht mehr aufhören.

„Was hast du denn?“

„Ich habe mir gerade vorgestellt“, beginnt er, „wie ich mit Schürze und Kochmütze aussehen würde.“

Jetzt müssen wir wieder beide lachen und mir kommen schon fast die Tränen.

„Becca, ich muss wirklich Schluss machen. Die anderen haben gerade angedeutet, mich gnadenlos an die Wand zu tackern, wenn ich nicht sofort auflege. Bis zum Wochenende, meine Süße. Ich vermisse dich abartig.“

Wir legen auf. Es war herrlich, seine Stimme und sein einzigartiges Lachen zu hören. Nur jetzt fühle ich mich schrecklich allein, ohne ihn.

Aber hatte er nicht schon immer gesagt, er ginge zur Luftwaffe und würde Jets fliegen? Erik - mit dem verschmitzten Lächeln auf dem Gesicht, das Schiffchen auf dem Kopf, breite, sportliche Schultern in Uniform, das passt einfach zu ihm. Gäbe es im Duden neben jedem Begriff ein Bild, müsste sein Foto neben dem Wort ‚Pilot’ stehen.

Trotzdem habe ich Angst. Die Bundeswehr und sein Traum – ich befürchte, sie trennen uns!

Ein ganzes Ja

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