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Kapitel 5

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März 1993

Freiheit! Die große Freiheit! Endlich! Seit einem Monat habe ich meinen Führerschein. Es ist früher Abend und die Sonne wagt schon einen vorsichtigen Ausflug über die Felder. Ich düse durch Kaltenberg, drehe das Radio auf volle Lautstärke und Haddaway und ich singen in Dauerschleife ‚What is love?‘ Dann nehme ich die Ausfahrt Fürstenfeldbruck/Fliegerhorst und wenig später stehe ich mit dem braunen Wagen meiner Eltern vor der Kaserne. Der Schlagbaum ist unten und überall stehen Männer in Uniform. Ein kleines Wachhäuschen gibt es auch.

Ich gebe brav meinen Personalausweis an der Pforte ab und der Mann erfährt von mir, wen ich besuchen will. Er notiert sich meinen und Eriks Namen und beschreibt mir den Weg zu seiner Stube. Bereits am Schlagbaum merke ich, dass ich offen angestarrt werde. Überall drehen sich die Köpfe der Männer nach mir um, als ich langsam vorbeifahre. Eine völlig andere Welt ist das hier.

Ich fühle mich unwohl dabei, so direkt angegafft zu werden. Aber Hauptsache, ich kann Erik überraschen. Der denkt nämlich, ich muss für die Französischklausur lernen. Müsste ich auch, aber mache ich später. Pardon Monsieur Bachmann, aber die Liebe geht vor! Das Kasernengelände ist riesig, eine kleine Stadt umgeben von Zäunen. So groß hatte ich mir das gar nicht vorgestellt. Als ich vor dem großen, grauen Gebäude aussteige und versuche, die Stubennummer nicht zu vergessen, laufen ein Hauptmann und ein Oberstleutnant lächelnd an mir vorbei und tippen sich dabei kurz an ihre Kopfbedeckung. Ich habe die Dienstgrade auswendig gelernt und Erik damit eine Riesenfreude gemacht. Überrascht als Zivilist so offiziell begrüßt zu werden, laufe ich weiter und gehe durch die Eingangstür. Ein paar dunkle Gänge, Stubennummern und Treppenstufen später stehe ich endlich vor der richtigen Tür. Ich klopfe drei Mal.

„Becca?“ Erik schaut verdutzt und überglücklich zugleich. „Was für eine wunderschöne Überraschung! Ich dachte, du hättest keine Zeit? Müsstest du nicht Französisch lernen?“

„Ich hatte Sehnsucht nach dir.“

Erik zieht mich in seine Stube und küsst überschwänglich meinen Nacken. Gleichzeitig dreht er den Schlüssel im Schloss um.

„Du sperrst ab?“

„Tja, Becca Santini, warum auch immer Sie doch Zeit haben, Sie sind jetzt meine Gefangene und müssen mir vollends zu Willen sein.“ Seine Hände wandern zu meiner Taille.

Ich steige in das Spiel ein. „Was habe ich denn verbrochen?“

„Oh, da fällt mir viel ein. Sie sind stur, unpünktlich, ein Morgenmuffel dazu, rechthaberisch ohne Ende, Sie machen immer das, was Sie wollen, Sie gehorchen mir überhaupt nicht und …“

„Dir gehorchen? Warum sollte ich?“, kontere ich lachend und versuche, mich aus seinem festen Griff zu winden.

„Die Frau muss dem Manne untertan sein.“ Er drückt mich plötzlich und heftig gegen seinen Spind. Ein metallenes Klappern ertönt. Meine Hände hält er verschlungen mit seinen über meinem Kopf fest. Ein wohliges Zucken geht durch meinen Unterleib.

„Findest du das nicht etwas altmodisch?“, flüstere ich in sein Ohr, während er mich festhält.

„Ich habe noch nie etwas so modern gefunden wie das“, flüstert er zurück und küsst mich verlangend und viel zu wild. Was für ein herrliches Gefühl! Meine Hände lässt er nicht mehr los.

„Lass mich bitte los“, bettele ich gespielt.

„Niemals. Jetzt gehörst du mir.“ Sein Gesicht spricht tausend süße Bände und schon wieder klappert der Spind laut und metallisch. „Versprich mir aber, dass du später noch Französisch lernst, schließlich ist das dein Leistungskurs“, haucht er in meinen Hals.

„Schön, dass Sie sich so um mich sorgen, Herr Sonnberg“, wispere ich zurück.

„Immer, Frau Santini, ich sorge mich immer um Sie.“

„Erik, was sind AWACS?“

Auf seinem Schreibtisch türmen sich hohe, unstrukturierte Papierstapel und unzählige graue Leitz-Ordner. Ein Stoß würde alles in sich zusammenfallen lassen. Ganz oben liegt ein handschriftlicher Zettel auf kariertem Papier mit dem Titel „AWACS“.

„Ich muss morgen über die Flugzeuge der Luftwaffe ein Referat halten. Mein Thema sind AWACS. Eine Folie brauche ich auch.“

„Du hast meine Frage nicht beantwortet“, beschwere ich mich grinsend und wickele Haarsträhnen mit meinem Zeigefinger auf.

Der Kuss war Wahnsinn gewesen und ich weiß, ich werde mich noch lange daran erinnern. Erik liegt auf seinem Bett und sieht mich an. Wir haben das Zimmer wieder aufgesperrt, es ist schließlich ein Zweierzimmer und sein Zimmergenosse Axel könnte jeden Augenblick wiederkommen. Die beiden kennen sich schon von der Grundausbildung in Roth und sind inzwischen dicke Freunde geworden. Axel ist ein sehr ruhiger Typ, aber mit einem trockeneren Humor als Woody Allen. Er kann den ganzen Abend kaum fünf Sätze sprechen, aber wenn er etwas sagt, dann hat es Hand und Fuß. Sein Gesicht strahlt innere Ruhe und Wärme aus, während sein Verstand messerscharfe Bemerkungen hervorbringt.

„AWACS sind Aufklärungsflugzeuge. Die Abkürzung steht für Air Warning And Control System. Warum?“ Er zieht mich zu sich hinunter und küsst mich noch einmal.

Ich löse mich widerwillig. „So, Erik Sonnberg! Jetzt gehorchen Sie mir. Stehen Sie auf! Stramm stehen. Schneller!“

Zögernd steht er auf, sieht fragend auf mich herab und tätschelt meinen Po.

„Na, na, na, was sind denn das für Manieren, Flieger Sonnberg? Wo bleibt der militärische Gruß?“

Spaßeshalber salutiert Erik kurz vor mir, nimmt die Hand wieder herunter und berührt zärtlich meinen Bauch.

„Unterdrücken Sie Ihre niederen Triebe! Wir haben etwas Höheres vor. Wir machen Ihr Referat zusammen. Sie arbeiten sich in die Thematik von AWACS ein und ich mache die Folie mit einer großen Maschine drauf. Los, los, keine Müdigkeit vorschützen!“

Wir setzen uns gemeinsam vor den Papierberg und fangen an zu arbeiten. Dann hält Erik auf einmal inne, nimmt meine Hand und sagt: „Becca, du bist toll!“

Ein warmes Gefühl breitet sich in meinem Bauch aus und alles fühlt sich richtig an.

„Du auch“, flüstere ich zurück. Ich schiebe die fertige Folie zur Seite und lege den Stift hin. Wow, die Maschine ist echt gut geworden. Überrascht über meine zeichnerischen Fähigkeiten bezüglich militärischer Flugzeuge, halte ich die Folie in die Luft. Erik bewundert sie und beobachtet mich liebevoll, als ich ihm die einzelnen Details zeige.

Mir fällt etwas Wichtiges ein. „Erik? Am Freitagabend bin ich nicht da. Bille und ich wollen ins Enchilada nach Augsburg.“

„Das geht nicht. Da gehen wir zusammen ins Kino. Wir wollten einen Actionfilm anschauen, Malcom X.“

„Oh, das habe ich völlig vergessen. Können wir das mit dem Kino nicht verschieben?“

„Ich sehe dich die ganze Woche nicht und dann willst du am Freitagabend ohne mich weggehen?“

„Können wir nicht am Samstag ins Kino gehen?“

„Nein!“, schnaubt er.

„Willst du mir das etwa verbieten?“ Meine Stimme wird auf einmal lauter.

Erik seufzt tief. „Es ist deine Entscheidung.“

„Aber du siehst mich so an, als ob ich etwas verbrochen hätte“, werfe ich genervt ein.

„Hast du das denn vor, etwas verbrechen?“ Er sieht mich kritisch an.

„Verdammt noch mal. Wir wollen nur einen Mädchenabend machen!“, schreie ich schrill. Seine dämliche Anspielung macht mich rasend.

„Dann ist ja alles gut.“

„Nein, nichts ist gut. Du bist sauer auf mich.“

„Du bist diejenige, die herumschreit“, entgegnet Erik ruhig.

Wie kann er nur so beherrscht bleiben und mir das Gefühl geben, etwas falsch zu machen? Er ist wirklich unglaublich! Wütend stehe ich vom Schreibtisch auf und stoße ihn heftig zur Seite. Erik lässt es geschehen.

„Immer soll ich machen, was du willst!“, schleudere ich ihm entgegen.

„Ich würde mich sehr freuen, dich am Freitag zu sehen. Wenn du das nicht willst, ist das deine Sache“, bemerkt er gespielt gelassen.

„Ich will dich doch auch sehen.“

„Anscheinend nicht.“

Langsam platzt mir der Kragen. „Wieso bin ich überhaupt hierher gefahren?“

„Das frage ich mich langsam auch. Vielleicht wärst du besser nicht gekommen.“

„Du bist so ein Idiot, Erik Sonnberg!“

Gerade, als er etwas antworten möchte, geht die Stubentür auf und sein Kamerad Axel Sommer kommt herein. Er schenkt uns beiden ein verblüfftes, aber breites Lächeln.

Ich mag Axel sehr, nur leider ist er in einem äußerst ungünstigen Augenblick aufgetaucht. Ich packe meine Handtasche mit einem schnellen Griff und stehe abrupt auf. „Die Folie über die AWACS ist fertig. Den Rest kannst du allein machen!“ Dann nicke ich kurz in Axels Richtung, rausche zur Tür, knalle sie laut hinter mir zu – wohl wissend, dass Erik das hasst - und stürze den Gang hinaus.

Ich höre Schritte hinter mir und Eriks Stimme: „Becca, bitte bleib stehen. Es tut mir leid! Ich möchte nicht, dass du gehst. Bitte!“

Ich wirbele herum und schaue in sein trauriges, besorgtes Gesicht. Seine Augen flehen mich an, nicht weiter zu laufen. Für einen Moment vergesse ich, dass ich total wütend bin. „Bitte, Kleine. Natürlich kannst du einen Mädchenabend machen. Ich war bescheuert! Verzeih mir. Vielleicht bin ich einfach viel zu viel mit Soldaten zusammen? Coole Sprüche, hartes Rumgetue, Befehl und Gehorsam, der ganze blöde Testosteron-Bundeswehrscheiß, du weißt schon.“

Ich sehe zu ihm auf und erkenne den Anflug eines reumütigen Lächelns in seinen Augenwinkeln.

„Erik Sonnberg. Wenn ich dich nicht so verdammt lieben würde, dann …“

Im Bruchteil einer Sekunde drückt er mich gegen die Wand und küsst mich sanft auf dem Mund. Unsere Lippen berühren sich kitzelnd und fordernd und tausendfach Funken sprühend. Unfähig unseren Kuss zu beenden, lasse ich es zu, dass er meine Hände über meinem Kopf in seine nimmt und nun fester und leidenschaftlicher gegen die Wand drückt. Fast verzweifelt schmiegt er seinen Kopf in meine Halsbeuge und atmet ‚mich’ in tiefen Zügen immer wieder ein.

Juni 1993

Mir ist unendlich kalt! Es schüttet wie aus Kübeln. Ich habe mal wieder den blöden Bus verpasst und laufe jetzt nach Hause. Dass diese doofen Schulbusse auch immer auf die Sekunde genau abfahren müssen! Bis nach Hilberg brauche ich mindestens eine Dreiviertelstunde zu Fuß. Allein der Gedanke an diesen Fußmarsch lässt mich innerlich aufstöhnen. Natürlich habe ich keinen Schirm dabei. Heute Morgen war bester Sonnenschein. Ich mache einen Bogen um die großen Pfützen. Über die kleinen steige ich drüber. Als ich in die Fuggerstraße einbiege, spiele ich mit dem Gedanken, mich kurz beim Modegeschäft Schöffel aufzuwärmen - die haben da so eine tolle Esprit-Abteilung – oder einen Abstecher in die Buchhandlung Schmid zu machen, verwerfe ihn aber schnell. Ich bin bis auf die Unterhose durchnässt und ich habe Hunger. Oh Mann, es ist noch so weit bis nach Hause!

Plötzlich hält ein Motorrad, eine schwarz-gelbe Enduro, direkt neben mir, der Fahrer schiebt sein dunkles Visier hoch. Überrascht bleibe ich stehen, mit beiden Füßen in einer großen Pfütze.

„Hallo, Becca. Du bist ja völlig durchnässt. Soll ich dich mitnehmen?“

Verwirrt trete ich etwas näher. Erst jetzt erkenne ich ihn. „Oh, hallo, Paul!“ Am liebsten würde ich sofort auf seine Maschine hüpfen, aber mein Anstand hält mich zurück. „Du hast ja gar keinen zweiten Helm dabei.“

Paul nimmt seinen eigenen ab und hält ihn mir hin. „Du kannst meinen haben.“ Der Helm ist schwarz mit weißen Streifen darauf und sieht echt cool aus.

„Dann hast du ja keinen mehr. Das kann ich nicht annehmen.“

Paul atmet tief aus. Seine Haare sind inzwischen schon ganz nass und kleine Wassertropfen hängen in seinen dichten Wimpern. Er hält mir immer noch den Helm hin. „Ich gebe dir zwei Möglichkeiten, Becca. Möglichkeit A: Du nimmst meinen Helm, setzt dich auf mein Motorrad und ich fahre dich nach Hause. Möglichkeit B: Ich setze dir meinen Helm auf, setze dich auf mein Motorrad und fahre dich nach Hause. Für welche entscheidest du dich?“ Seine Stimme hat einen warmen Unterton, aber lässt keinen Raum für Widerspruch.

Zögerlich und dankbar nehme ich den coolen Helm und sage: „Dann nehme ich Möglichkeit A.“

Paul lässt sein Motorrad wieder an, ein angenehmes, lautes Brummen ertönt. Wir fahren los. Ich rutsche dicht an ihn heran, umfasse seine Taille mit meinen Armen und lege meinen Kopf auf seinen Rücken. Es fühlt sich erstaunlich gut an, hinter ihm zu sitzen und ihn zu spüren.

Jetzt, auf den vertrauten Straßen, schweifen meine Gedanken ab. Verwirrt erinnere ich mich an das spöttische Funkeln um seine Mundwinkel, als Paul mich zum ersten Mal ansah, damals im Schulbus. Und ich erinnere mich, wie er mit einem Blick alle tuschelnden Stimmen zum Schweigen gebracht hat. Der Regen klatscht nass und grau auf mein Visier, die Sicht verschwimmt und ich fühle Dankbarkeit dafür, dass er mich damals völlig ohne Worte vor den anderen Kindern in Schutz genommen hat. Nur durch den Ausdruck seiner Augen.

Juli 1993

Der Saal ist elegant und modern zugleich. Er ist festlich geschmückt. Überall stehen große, runde Tische, weiße Tischdecken reichen bis zum Boden. Die Luftwaffe hat sich nicht lumpen lassen. Im Hintergrund spielt leise Pianomusik. Alle Offiziersanwärter tragen ihre blauen Ausgehuniformen. Die meisten Mädchen haben schwarze Abendkleider an. Mein Kleid ist schulterfrei, tailliert und mit einem dezenten Petticoat. Als einer der Ausbilder eine Rede über die Tugenden der Offiziere, ihre Wirkung nach außen und die ihnen bevorstehende noch härtere Jet-Ausbildung in den USA hält, stehen wir alle auf und Erik nimmt meine Hand und drückt sie ganz fest.

„Du siehst bezaubernd aus, Becca“, flüstert er in mein Ohr und löst einen Schauer in mir aus.

„Und du bist jetzt Offizier“, wispere ich zurück. Ich komme mir komisch vor in diesem Abendkleid. Es fühlt sich so offiziell an und außerdem trage ich nie Kleider. Heute gehört es einfach dazu.

Alle Absolventen beginnen den Ball mit einem Walzer. Es ist großartig, in dieser wogenden Masse zu schweben, ein Teil davon zu sein. Erik und ich schwingen über das Parkett, und obwohl er mir immer wieder versehentlich auf den Fuß steigt, lasse ich mir nichts anmerken.

Wir tanzen nur kurz. Dann bringt Erik mich an unseren Tisch zurück und rutscht einen Stuhl für mich zurecht. Dort sitzt auch eine junge Frau, die uns als Ann-Kathrin vorgestellt wird. Sie ist schlank und recht hübsch, wobei mich ihr Gesicht ein bisschen an das eines Windhundes erinnert. Ihre Haut ist leicht gebräunt, ihr Make up dezent, aber ihr Mund hat etwas Verbissenes an sich. Mir fällt auf, dass sie ihren Freund anschmachtet wie ein kleines Kind, das vor einem Zuckerbäcker steht, ihr Freund allerdings nur dann und wann ein Lächeln für sie übrig hat. Als nach einiger Zeit alle Offiziersanwärter unseres Tisches die Damen für einen Besuch an der Bar allein lassen, fragt sie mich direkt: „Warum liebst du Erik?“

„Wie bitte? Wie meinst du das?“ Sie ist mir unsympathisch und ich wünsche mir, Erik würde sofort zurückkommen.

Sie lehnt sich vor und sagt: „Ich finde es toll, dass Tom Jetpilot wird. Ich wollte schon immer mit einem Piloten zusammen sein. Das hat so etwas Heldenhaftes, findest du nicht?“

Jetzt bin ich vollkommen sprachlos. Das kann nicht ihr Ernst sein!

„Findest du es nicht klasse, einen Piloten als Freund zu haben?“

„Äh, also … ich … äh … noch ist er ja kein Pilot, sondern Offiziersanwärter. Keine Ahnung … als Pilot wird er viel unterwegs sein. Ich bleibe allein zurück. Er muss nach Italien, in die USA oder nach Kanada. Das macht mir Sorgen. Abgesehen davon, ist Kampfjetfliegen gefährlich.“

Abschätzig blickt Ann-Kathrin auf mich herab. Sie ist sogar im Sitzen mindestens fünf Zentimeter größer als ich. „Das ist doch kein Problem. Du kommst eben mit und lebst dort, wo er stationiert ist.“

„Aber ich möchte studieren, da kann ich nicht einfach umherreisen. Ich muss lernen und Klausuren schreiben.“

Ihr Blick wird noch abwertender und sie fächert sich mit ihrer Serviette demonstrativ gelangweilt Luft zu.

„Schätzchen, wenn du mit einem Piloten zusammen bist, brauchst du keinen eigenen Beruf. Er verdient genug für euch beide.“

Nun werde ich ungehalten. „Es geht doch nicht ums Geld. Ich möchte einen eigenen Beruf haben. Wofür mache ich denn mein Abitur?“

„Was willst du denn studieren?“, bohrt sie nach.

Eine Frage, mit der mich meine Eltern neuerdings auch immer nerven. „Das weiß ich jetzt noch nicht. Vielleicht Lehramt?“

Ihr Blick bleibt weiterhin herablassend an mir und meinem Kleid hängen. Ihres war natürlich auch schwarz. Plötzlich schlingt Erik beide Arme von hinten um mich. Erleichtert drehe ich meinen Kopf zu ihm. Endlich! Er strahlt mich an und augenblicklich durchflutet Wärme meinen ganzen Körper. Tom setzt sich neben Ann-Kathrin und tätschelt ihr beiläufig die Hand. Sie starrt verbissen nach vorn. Erik fordert mich auf: „Lass uns noch einmal tanzen!“

Als ich aufstehe und seine Hand ergreife, spüre ich ihren eiskalten Blick in meinem Rücken. Ich seufze leise und wünsche mir für einen kurzen Augenblick, Erik hätte den Wehrdienst verweigert, anstatt mit vollen Segeln seine gesamte Zukunft diesem uniformierten Verein zu schenken. Lieber Gott, wird das alles gut gehen? Mit uns?

Juli 1994

„Weißt du, was ich wirklich fantastisch finde?“, fragt Erik und lässt sich schwungvoll auf sein Sofa fallen. Wir sind zur Abwechslung bei seinen Eltern. Es ist schön, hier zu sein. Nach all den Jahren ist es wie ein zweites Zuhause für mich geworden und ich besitze sogar einen eigenen Hausschlüssel.

„Verrate es mir.“

„Dass ich nicht nur eine Freundin habe, die total süß aussieht, sondern eine Freundin, die in wenigen Tagen ihr Abiturzeugnis bekommt.“

„Was?“, kommentiere ich gespielt geschockt, „du hast zwei Frauen?“ Jetzt müssen wir beide laut lachen und ich lasse mich auf seinen Schoß fallen.

„Stell dir vor“, schmunzele ich verschwörerisch, „ich habe einen Freund, der verdammt gut aussieht, und einen, der gerade Jetpilot wird.“

Erik sieht mich nickend mit einem bedeutungsschweren Blick an und grinst schelmisch. „Dann würde ich sagen, passen wir perfekt zusammen.“

„Ja, das könnte sein, wenn du auch so gut bist wie er. Er hat gerade das harte Screening in Phoenix überstanden. Viele sind ausgeschieden. Viele, von denen er gedacht hätte, dass sie es schaffen. Er ist zum ersten Mal geflogen. Zwar noch keinen Jet, aber ein Propellerflugzeug. Er meinte, das war so cool.“

„Das hat er dir erzählt? Was für ein Angeber!“, kontert er und wir müssen lachen.

Auf einmal werde ernst und drehe seinen Kopf zu mir. „Ich liebe dich und ich werde dich immer unterstützen. Aber für mich ist es nicht wichtig, dass du Pilot wirst, du könntest auch etwas anderes machen. Schornsteinfeger, Banker oder Koch. Ich würde alles toll finden!“

„Du bist ganz schön anspruchslos“, neckt er mich.

Ich bin nicht mehr in der Stimmung für Scherze, stehe auf und tigere unruhig durchs Zimmer. „Mit deiner Fliegerei bist du so viel unterwegs und ich bleibe allein zurück. Jetzt waren es zwei Monate Arizona, aber bald bist du wieder weg und ich werde dich wieder vermissen. Ich bin so oft allein. Ich werde mich nie daran gewöhnen.“

„Fliegen ist mir wichtig, aber du bist mir wichtiger. Das musst du mir glauben. Meine Liebe zu dir ist viel stärker als mein Wunsch zu fliegen.“

„Ich will ja nicht, dass du deinen Traum für mich aufgibst. Es ist nur schwer für mich. Du gehst und ich mache mir Sorgen.“

„Dass ich was mit einer anderen anfangen würde?“

„Nein, du Idiot! Dass dir etwas passieren könnte. Jeden Tag stürzen Flugzeuge ab. Warum verstehst du das nicht?“ Jedes Mal, wenn er wieder geht, habe ich Angst um ihn. Genervt davon, dass er meine Sorgen nicht teilt, drehe ich mich zu seinem großen Bücherregal und fange an, wahllos Bücher herauszunehmen und wieder einzusortieren, ohne auf die Titel zu achten.

Erik steht vom Sofa auf, stellt sich hinter mich, drückt seinen Körper sanft an mich und haucht einen Kuss auf meinen Nacken. „Mir kann gar nichts passieren. Ich trage doch immer deinen ‚Glücksbringerbrief’ in der linken Brusttasche von meinem Fliegerkombi.“

„Den Brief, den ich dir zu deinem allerersten Flug geschrieben habe?“

„Ja, genau den. Es ist nur ein Stück Papier mit Worten … deinen Worten. Ich weiß nicht warum, aber er gibt mir Sicherheit.“

Jetzt drehe ich mich zu ihm herum. Mit meinen Fingern berühre ich seinen Nacken.

„Du siehst gut aus in deinem Fliegerkombi“, bemerke ich und denke an das Bild, das ich von seinem ersten Soloflug auf meinem Schreibtisch stehen habe. Es hat den Moment festgehalten, als er die Hand seines Fluglehrers schüttelt und übers ganze Gesicht strahlt.

„Du sähest viel besser darin aus.“ Er überlegt kurz. „Zieh dich aus.“

„Was?“

„Zieh dich aus, Becca!“

„Ist das ein Befehl?“

„Ja, ein klitzekleiner. Und mein Dienstgrad ist höher als deiner. Also, los!“

Bitte! Ich habe gar keinen Dienstgrad, Witzbold! Unschlüssig ziehe ich mich bis auf die Unterwäsche aus und hoffe, dass Eriks Papa nicht ins Zimmer kommt. Er hat ein Talent dafür, in den unmöglichsten Augenblicken im Türrahmen zu stehen.

Erik hält mir einen grauen Ganzkörperanzug mit runden Fliegerpatches hin.

Nach kurzem Zögern schlüpfe ich hinein. Die Ärmel hängen mir weit über die Handgelenke. Ich muss lustig aussehen. Wie ein Kind in einem Riesenoverall.

Erik strahlt mich an. „Das sieht so süß aus! Der Kombi steht dir echt gut. Schade, dass Frauen keine Jets fliegen dürfen. Ich muss ein Foto von dir machen. Das klebe ich an meinen Spind. Die anderen Jungs werden mich beneiden.“ Erik saust davon und kommt mit einer Kamera bewaffnet zurück. Schnell schießt er ein paar Bilder von mir und ich stelle mich schüchtern lächelnd in Pose.

Während Erik die Kamera wegbringt, lasse ich gedankenverloren meine Hand wieder über die Buchrücken gleiten. Plötzlich rutscht ein Buch nach vorne und reißt einige Taschenbücher mit sich. Dazwischen liegt ein Brief.

Er ist nicht von mir. Ich hebe ihn auf. Er ist an Erik adressiert. Auf einmal klopft mein Herz stärker. Eine hässliche Angst lässt meine Hände zittern. Der Poststempel ist von August 1991. Ich drehe den Brief um. Absender: Svea Walzmann aus Lollar. Der Brief ist aus Hessen? Erik war vor drei Jahren zur Ferienarbeit dort. Svea? Wer ist Svea? Mein Magen zieht sich zusammen. Ein Brief von einem anderen Mädchen an meinen Freund? Es muss nichts bedeuten. Rein gar nichts. Vielleicht nur eine Bekannte oder eine Schulfreundin. Aber er hat mir nichts von einer Svea erzählt … Ich sollte den Brief einfach wieder zwischen die Bücher stecken. Mir ist ganz komisch und mir wird heiß. Eine hässliche Hitze überzieht meinen Körper. Ich kann nicht anders. Ich muss ihn öffnen. Ich nehme den Zettel heraus und stecke ihn sofort wieder zurück. Lass das, Becca! Man liest keine fremde Post. Erik würde dich nie betrügen. Doch meine Hand übernimmt das Kommando und überstimmt mein Herz. Nervös und wohl wissend einen Fehler zu machen, falte ich die Blätter auf und beginne zu lesen:

Lieber Erik,

nun bist Du schon seit zwei Wochen fort und ich kann Dich nicht vergessen. Ich denke jeden Tag an Dich. Am liebsten würde ich mich in den Zug setzen und Dich besuchen. Es war wunderbar, Dich kennenlernen zu dürfen. Der Abend mit Dir war wunderschön. Unvergesslich schön. Weißt Du noch, wie wir über den Jahrmarkt gelaufen sind? Und all die Lichter des Riesenrads! Schade, dass Du so weit weg wohnst und eine Freundin hast. Ich muss immer wieder daran denken, wie wir … na ja, du weißt schon. Vielleicht könntest Du …

Mein Herz rast. Tränen tropfen auf die handschriftlichen Zeilen, die mit blauer Tinte geschrieben sind und nun verschmieren. Ich kann nicht weiterlesen. Mir ist auf einmal schwindlig. Ich halte mich am Bücherregal fest. Einige Bücher fallen heraus. Ich hebe sie nicht auf.

Dann steht Erik vor mir. Er sieht mich bittend an und sagt: „Du musst ihn zu Ende lesen.“

Mehr nicht? Mehr hat er nicht zu sagen? Billes Worte hallen in meinem Gedächtnis wider: „Erik ist wirklich toll, aber keines der Mädchen konnte ihn auf Dauer halten. Er ist ein Sunnyboy und ich glaube, er hat es bisher nie ernst gemeint. Er meint es noch nicht mal böse, er ist einfach so.“

Ich muss weg von hier! Ich renne zur Tür und falle hin. Erik fängt mich auf und ich spüre den festen Griff um meinen Körper. „Bitte, Becca. Es ist nicht so, wie du denkst. Hast du den ganzen Brief gelesen?“ Er hält mich mit beiden Armen fest und lässt mich nicht los. Sein Blick strahlt unendliche Hilflosigkeit aus.

„Ich habe genug gelesen. Lass mich los! Du hast was mit einem anderen Mädchen gehabt und es mir die ganze Zeit verschwiegen!“

„Nein, das habe ich nicht. Das würde ich nie tun!“

„Was ist dann mit dieser … dieser Svea? Was für ein Scheißname!“

„Nichts. Ich wusste, du würdest so reagieren, deshalb habe ich dir nichts erzählt.“

„Was? Geht das schon länger?“

„Nein!“, schreit er.

„Lüg mich nicht an!“, brülle ich.

Ich will mich losreißen, aber er hält mich immer noch fest. „Bitte, Becca! Du verstehst das völlig falsch.“

„Dann erkläre es mir?“

„Ich habe sie vor drei Jahren, als ich zu Ferienarbeiten in Lollar war, kennengelernt und wir haben uns gut verstanden. Sie hat sich in mich verliebt. Aber ich mich nicht in sie!“

Ich versuche immer noch, mich freizukämpfen, aber Eriks Arme umschlingen mich wie ein Schraubstock. „Und deshalb gehst du gleich mit ihr aus?“, würge ich hervor.

„Ja“, antwortet er knapp.

„Auf einen Jahrmarkt? Wie romantisch!“

Er schweigt hilflos.

„Hast du sie geküsst?“

„Ja.“

Ich schnappe nach Luft und versuche meine Atmung zu kontrollieren.

„Du hast ein anderes Mädchen geküsst? Schon vor drei Jahren! Wie konntest du das tun?“ Bäche von Tränen strömen meine Wangen hinab und ich fühle mich hässlich und schwach.

„Sie hat sich so verzweifelt in mich verliebt, da bin ich eines Abends mit ihr auf die Kirmes gegangen und habe ihr erklärt, dass ich dich über alles liebe. Dann hat sie furchtbar geweint und ich habe sie in den Arm genommen.“

„Wie ritterlich von dir. Und dazu brauchst du die glitzernde Kulisse eines Riesenrads? Lass mich endlich gehen!“ Ich versuche mich erneut loszureißen, vergeblich.

Er redet verzweifelt gegen meinen Widerstand an, aber ich kann kaum folgen. Seine Worte schwirren im Raum umher. „Es ist alles ganz anders!“, fleht er.

Ich winde mich. Verdammt, er ist so viel stärker als ich. Diese blöde Bundeswehr hat ihn noch fitter gemacht. Mir ist heiß und mein Magen ist auf die Größe einer Faust geschrumpft. „Das glaube ich dir nicht. Wer weiß, was noch alles war? Du hast mich die ganze Zeit belogen. Warum schreibt sie dir Briefe? Warum versteckst du sie? Oh, mein Gott. Du schreibst ihr zurück, nicht wahr?“ Diese plötzliche Erkenntnis trifft mich wie ein Schlag in die Magengrube.

„Ja. Nein. Oh Mann!“ Er gerät ins Stocken. „Sie hat mir geschrieben und ich habe ihr geantwortet, freundschaftlich. Das musst du mir glauben!“

„Ich glaube dir gar nichts mehr! Nie mehr! Vor drei Jahren! Vor drei Jahren, Erik! Was würdest du denken? Du würdest vor Eifersucht explodieren! Würdest total ausrasten! Und ich soll ruhig bleiben? Sie schreibt dir und du behältst ihren Brief? Versteckst ihn sogar vor mir! Lass mich endlich los!“ Meine Stimme bricht, sie ist heiser vom Schreien.

Erik schüttelt immer wieder den Kopf und drückt mich viel zu fest. Ich kann seine Verzweiflung spüren, aber sie dringt nicht durch meine Wut. „Nein, ich lasse dich nicht los. Nie! Wir gehören zusammen! Es war bescheuert, ihr zu antworten. Nur ein Fehler! Ein bescheuerter Fehler!“ Dann ganz plötzlich, völlig unerwartet, lässt Erik meine Arme und meinen Oberkörper los, als hätte ihn alle Kraft verlassen. „Bitte, Becca, geh nicht“, flüstert er.

Ich stoße ihn mit aller Wucht zur Seite und hoffe ihm dabei weh zu tun. „Ich will dich nie wiedersehen. Nie wieder! Geh mir aus dem Weg!“ In dem viel zu großen Fliegerkombi renne ich die Treppe hinunter, Eriks Mutter Maria kommt mir mit einem besorgten Fragezeichen im Gesicht entgegen. Die Haustür fällt krachend hinter mir ins Schloss. Ich möchte niemanden sehen, mit niemandem reden.

Ich renne über die Straße und stolpere fast über die Bordsteinkante. Mein Herz schlägt schmerzhaft schnell, als ich vor der Haustür meiner Eltern stehe. Ich zittere und der verdammte Schlüssel will nicht ins Loch passen! Der Schlüssel dreht sich. Endlich. Ich stürze hinein und laufe in mein Zimmer, sperre ab. Oh nein, unser Zimmer! Überall hängen Bilder von uns. Ich werfe mich auf das Bett. Unser Bett … Weinend vergrabe ich mein Gesicht im Kopfkissen. Ich hasse ihn. Ich möchte ihn nie mehr wiedersehen! Wie konnte er mir das antun?

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