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Kapitel 3

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Oktober 1990

Erik steht hinter mir, schlingt seine Arme leidenschaftlich um meine Taille und ich schließe für einen Moment die Augen. Wie schnell sich mein Leben gerade ändert!

„Mein Papa ist total eifersüchtig auf dich.“

„Ja, das Gefühl habe ich auch. Er sieht mich immer so grimmig an. Dabei mochte er mich anfangs so gern.“

„Er hasst es, wenn ich bei dir bin. Und er hasst es, dass du mich vor seinen Augen küsst.“

„Dabei bin ich ein so sympathischer Nachbarsjunge“, scherzt Erik in mein rechtes Ohr.

„Stimmt, meine Mama fand dich von Anfang an klasse“, entgegne ich schmunzelnd. Sein Zimmer ist sehr groß und über und über mit Postern von Iron Maiden, Guns’n’Roses und Metallica beklebt. Ein schwarzer Regenschirm hängt aufgespannt von der Decke und im Bücherregal stehen Klassiker wie ‚Die Blechtrommel’ und ‚Der Untertan’ neben Slayer- und Bon Jovi- CDs. In jeder Ecke baumeln graue und tarnfarbene Modelljets von der Decke. Kampfflugzeuge, überall. Ich deute mit dem Zeigefinger auf eines. „Was ist das für ein Jet?“

„Eine F 18 Hornet. Ein amerikanischer Kampfjet“, antwortet er und ein leises Lächeln huscht über sein Gesicht.

„Und der da drüben?“

„Eine F 16 Fighting Falcon. Sie ist klein und wendig. Man nennt sie auch Viper.“

Beeindruckt drehe ich mich um und küsse ihn auf die Nase, genau auf die Stelle seiner kleinen Narbe. „Möchtest du Kampfpilot werden? So wie in Top Gun?“

„Ja, das ist mein absoluter Traum. Tornadopilot bei der Luftwaffe. Und du, möchtest du die Freundin eines Piloten werden?“

Die Titelmelodie von Top Gun spielt plötzlich in meinem inneren Ohr und ich erinnere mich, wie ich den Film mit Freundinnen zum ersten Mal gesehen habe. Wir haben gelacht und waren gebannt, wie Maverick, Goose und Iceman ihre Manöver flogen. Sehnsüchtig haben wir dem ersten Kuss von Maverick und Charlie entgegengefiebert. „Habe ich eine Wahl?“, frage ich und male mit meinen Fingern Gänsefüßchen in die Luft.

„Nein“, grinst er und schlingt seine Arme fester um mich.

„Hilfe, ich bekomme keine Luft mehr! Hör bitte auf“, japse ich.

„Piloten sind einfach wild und ungestüm.“

„Noch bist du keiner“, kontere ich schmunzelnd.

„Was? Du zweifelst an mir?“, braust er auf, nimmt mich in seine Arme und wirft mich neckisch lachend auf sein Bett. Wir küssen uns lange. Meine Welt beginnt sich zu drehen. Seine Küsse werden wilder und energischer und Erik schiebt langsam seine Hand unter meinen Pullover. Ich zucke zusammen.

„Was ist?“, flüstert er.

„Ich … äh … da hat mich noch niemand berührt.“

„Wirklich nicht?“

„Nein.“

„Gut. Ich werde dieses wundervolle Gebiet langsam erkunden.“

Unwohl rutsche ich ein bisschen zurück. „Können wir nicht noch etwas warten?“

„Becca, ich bin ganz sanft, vertrau mir. Komm, lass uns unter der Decke kuscheln.“

Unter der Decke! Das geht mir alles zu schnell! „Ich möchte lieber noch etwas warten.“

„Bitte, Becca, wir kuscheln nur, nicht mehr. Ich möchte dich einfach bei mir spüren.“

„Also gut, du hast gewonnen.“ Nervös krabbele ich unter die Bettdecke und fühle mich irgendwie unwohl. Mein Körper ist ganz steif, als wäre er ein frisch geschlagener Ast. Ich versuche ruhig zu atmen. Becca, was soll schon sein? Du liegst angezogen unter einer Decke, sonst nichts. Jetzt stell dich nicht so an!

Plötzlich schwingt die Tür auf und Eriks Vater steckt seinen Kopf in das Zimmer. Verwundert reißt er beide Augen auf und stockt für einen Augenblick. Dann findet er jedoch seine Sprache wieder, leider. „Bumst ihr hier oder was?“, schießt es aus ihm heraus.

Erik und ich sehen uns zögerlich an und schütteln vehement den Kopf. Schlagartig spüre ich, wie ich von meinen Wangen bis zu den Haarwurzeln tiefrot werde. Er starrt uns an, dann schließt er die Tür mit einem Ruck wieder.

Oh mein Gott, kann mich jemand unsichtbar machen oder wegbeamen wie in Raumschiff Enterprise? Wie furchtbar peinlich! Eine Weile liegen wir einfach nur da. Schließlich bricht Erik die unerträgliche Stille.

„Es tut mir leid. Mein Vater hat das bestimmt nicht so gemeint. Er ist eben manchmal ein Holzklotz, aber er ist sonst wirklich in Ordnung.“

Auf einmal fange ich an zu weinen. „Doch, er hat es so gemeint! Jetzt denkt er, wir haben es getan. Das ist schrecklich peinlich. Was, wenn er es meiner Mutter erzählt? Oder, noch schlimmer, meinem Vater?“

Erik springt mit einem Satz aus dem Bett. „Ich spreche mit ihm. Jetzt sofort.“

„Nein! Das macht alles nur noch schlimmer.“ Auch ich stehe auf, mit wackligen Beinen und einem nicht enden wollendem Gefühl von Scham. Tränen laufen mir herunter und ich verberge mein nasses Gesicht hinter meinen Händen.

Erik kommt auf mich zu, nimmt meine Hände herunter und streichelt mir über die Wange. „Bitte, Becca, sieh mich an. Es tut mir leid. Ich wollte nicht, dass das passiert. Das musst du mir glauben. Ich bringe es wieder in Ordnung. Ich spreche jetzt mit meinem Vater. Er kann nicht einfach so in mein Zimmer platzen.“

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„Du kommst über eine Stunde zu spät!“, donnert Papa. Es scheint, als hätte er hinter der Haustür auf mich gelauert. So als wäre ich ein Einbrecher und er vom Secret Service. Noch bevor ich den Schlüssel im Schloss hatte, riss er die Tür so heftig auf, dass ich den Luftzug zischen hören konnte. Nicht auch noch das!

„Ist doch nicht so schlimm“, maule ich patzig zurück.

Papa schnaubt wie ein Walross. „Non é possibile. So geht das nicht! Du musst dich an die vereinbarten Zeiten halten!“, brüllt er.

Meine Güte! Muss er so einen Aufstand machen? „Ich war nur nebenan.“

„Darum geht es nicht!“

„Worum dann?“

Papa wird immer wütender. „Du benimmst dich wie ein … ein leichtes Mädchen!“

Zorn kocht in mir hoch. Wie kann er so etwas behaupten? Das hat mir gerade noch gefehlt! Erst Eriks Vater und jetzt meiner. „Das stimmt nicht!“

„Was machst du mit ihm?“

„Papa, das geht dich nichts an!“

„Und ob, du bist minderjährig!“

„Was denkst du denn, dass wir machen?“, frage ich und will ihn auf einmal provozieren. „Wir haben Spaß!“

Jetzt wechselt Papas Gesichtsfarbe von dunkelrot zu schneeweiß.

„Was ist? Schockiert dich das?“

Urplötzlich holt er aus und versetzt mir eine heftige Ohrfeige. Mama kommt angerannt.

„Giovanni, was machst du? Du kannst Becca doch nicht schlagen!“ Sie ist den Tränen nahe. Fassungslos und geschockt halte ich mir meine brennende Wange.

„Geh in dein Zimmer!“, poltert er.

„Nichts lieber als das“, speie ich ihm entgegen, „du bist ein gemeiner Idiot!“ Dann rausche ich in mein Zimmer und schließe ab, Papas stampfende Schritte hinter mir. Er rüttelt am Türgriff.

„Mach die Tür auf! Sofort!“

„Nein! Geh weg!“, schreie ich zurück. Die Tränen, die ich gerade erst bekämpft und heruntergeschluckt hatte, schießen mir wieder in die Augen. Ich wische sie schnell mit dem Handrücken weg.

„Mach die Tür auf!“

„Nein!“ Papa schlägt kräftig mit seiner Hand gegen die Tür, Mama fängt an zu weinen. Mein Atem geht schneller und ich wische mir immer wieder die Tränen ab. Auf einmal höre ich ein Klopfen am Fenster. Überrascht schaue ich auf. Kann es noch schlimmer kommen? Leise öffne ich das Fenster. „Was machst du hier, Erik?“

„Ich wollte dich noch einmal sehen. Tiefe Sehnsucht. Tut mir leid, dass mein Pa gerade so doof war. Er hat sich bei mir entschuldigt.“ Erst jetzt bemerkt er meine Tränen. „Aber wie siehst du denn aus? Ist alles in Ordnung?“

Papa hat inzwischen aufgehört, wie ein schäumender King Kong gegen die Tür zu schlagen. Danke, Mama. Aber ich kann sie heftig diskutieren hören. Ich habe ihn noch nie so wütend erlebt.

„Äh, nein“, antworte ich leise und hoffe, dass meine brennende Wange mich nicht verrät. „Mein Papa ist etwas durchgedreht, wegen … uns.“

Erik blickt mich verständnisvoll an und streckt mir eine Hand entgegen. „Lass uns von hier verschwinden. Wollen wir in die alte Scheune gehen?“ Ich schüttele ängstlich den Kopf.

„Wenn ich jetzt auch noch abhaue, flippt er völlig aus.“

„Er muss ja nichts merken.“

„Ich weiß nicht.“

„Komm, Becca.“

Ich denke fieberhaft nach. Mein Zimmer ist im Erdgeschoss zum Garten. Die Zimmertür ist abgeschlossen und das Licht der Nachttischlampe ist an. Ich kann später auf demselben Weg zurück kommen. Schließlich atme ich sehr tief aus. „Gut, lass uns abhauen“, flüstere ich und springe aus dem Fenster.

Erik fängt mich gekonnt auf, lächelt mich aufmunternd an, gibt mir einen Stups auf die Nase und küsst mich dann zärtlich auf den Mund. Schlagartig fühle ich mich sicher und geborgen. So wie Jennifer Grey aus Dirty Dancing, als Johnny am letzten Abend der Saison zurückkehrt, um den abschließenden Tanz zu ‚The Time of My Life’ mit ‚seinem Baby’ zu tanzen. Erik nimmt meine Hand fest in seine und wir rennen los.

Weihnachten 1990

Es schneit. Alles ist in ein zauberndes, glitzerndes Licht gehüllt und die Luft ist so kalt, als könnte man sie in Scheiben schneiden. Unser Spaziergang im Wald ist wunderbar. Ich laufe so schnell ich kann und meine Lunge schmerzt. Erik ist direkt hinter mir. Seine Schritte knirschen im Schnee. „Gleich habe ich dich“, ruft er schnaufend und siegessicher.

„Niemals!“, schmettere ich ihm entgegen. Ich biege in den kleinen Waldweg ab und renne zu den großen Tannen. Sie werfen lange Schatten in den Schnee.

„Ein großer Fehler. Jetzt bist du mir ausgeliefert.“

Wir lachen und laufen und ich bekomme schlimmes Seitenstechen. Ich brauche eine Pause! Also, verstecke ich mich hinter den Bäumen, versuche mich so dünn zu machen wie ein Blatt Papier. Immer wenn Erik mich entdeckt hat, laufe ich kichernd einen Baum weiter.

„Becca? Wo bist du? Ich komme …“

Ich muss wieder ein Kichern unterdrücken. Nicht bewegen, nicht atmen. Ganz klein machen! Plötzlich schnellt er um den Stamm, erschrickt mich und drückt meinen Körper mit beiden Händen gegen die Tanne.

„Hey, das ist unfair“, beschwere ich mich schmollend.

„Nichts da. Ich habe gewonnen.“ Er beugt sich zu mir herunter und seine Lippen berühren sanft die meinen. Sie sind warm und ihre Berührung prickelt.

„Gut, du hast gewonnen.“ Eine Weile vergeht schweigend, in der wir uns einfach nur küssen.

„Das könnte ich ewig machen“, flüstert er an meinem Hals.

„Ich auch.“

„Weißt du, was ich wirklich gut finde?“, haucht er.

„Nein, verrate es mir.“

„Dass ich dein erster Freund bin. Ich bin der Erste, der dich berühren darf.“

„Und ich? Das ist gemein. Du hast schon einige Mädchen vor mir geküsst …“

„Aber mit noch keinem geschlafen.“

„Na immerhin“, necke ich ihn.

„Die anderen Mädchen sind mir scheißegal.“

„Ihr Vokabular ist bewundernswert, Herr Sonnberg. Sehr kreative Wortwahl.“

Erik nimmt seine Hände herunter, mit denen er mich gegen den Baum gedrückt hat. „Ich liebe es, wenn du mich bewunderst.“

„Du bist unmöglich!“, lache ich.

„Dann haben wir ja etwas gemeinsam …“, flüstert er. Sein Mund berührt meinen Nacken.

„Hahaha.“ Die Sonne schickt ihre Strahlen direkt auf sein Gesicht, was es leuchten lässt. „Weißt du, was ich mich frage?“

„Nein …?“

„Wie lange wir wohl zusammen bleiben.“ Ich stupse ihn mit dem Fuß an. Seine braunen Augen blicken mich lange an und sein Atem stößt kleine Dampfwölkchen in die Luft.

„So lange du mich willst …“, antwortet er trocken und hebt eine Augenbraue.

Darauf fällt mir keine Antwort ein. „Mir ist kalt und außerdem müssen wir zurück.“

Er nimmt meine Hände in seine und pustet seinen warmen Atem langsam darauf. „Besser?“

Ich drücke ihm einen Kuss auf den Mund. „Viel besser, Herr Sonnberg.“

„Lass uns zurückgehen. Nicht dass Weihnachten ohne uns beginnt.“

Mai 1991

„Ich verstehe nicht, was wir hier auf einer Bank in Lagerlechfeld machen, nachmittags um halb drei?“

„Ich möchte dir etwas schenken.“

„Ich hatte im Dezember Geburtstag“, antworte ich skeptisch schmunzelnd.

„Ich weiß.“

„Aha und warum ausgerechnet hier?“

„Das wirst du gleich sehen. Ich habe diesen Ort bewusst ausgewählt.“

Jetzt verstehe ich nur noch Bahnhof. Was hat Lagerlechfeld mit uns zu tun? „Jetzt sag mir doch endlich, was los ist! Langsam finde ich es echt merkwürdig.“

Gerade als Erik antworten will, starten zwei Jets des Jagdbombergeschwaders gleichzeitig in die Luft und fliegen eine Linkskurve. Der Abgasstrahl ist deutlich zu sehen und es ist extrem laut.

„Sieht das nicht großartig aus, Becca? Da werde ich auch einmal drinsitzen.“

„Sind das Tornados?“

„Ja. Sie fliegen im low level two ship.“

„Hä?“

„Tiefflug Zweier Formation.“

„Und das wolltest du mir zeigen? Ich meine, das sieht schon cool aus, aber …“

„Fliegen ist mein Traum. Es wäre schön, wenn du ihn mit mir teilst. Aber ich habe noch einen Traum.“

„Und welchen?“ Jetzt holt er eine kleine Schmuckschatulle hervor. Er will mir Ohrringe schenken! Oder eine Kette? Eine Uhr? Wie schön! Aber Weihnachten und mein Geburtstag waren doch schon. Ich verstehe gar nichts.

„Bei dir zu sein. Ich möchte uns beiden das hier schenken.“

Er schiebt mir die Schatulle hin und ich öffne sie zögerlich. Einen kleinen Augenblick bin ich sprachlos. Damit habe ich nicht gerechnet. Wir sind doch erst neun Monate zusammen. Ungläubig blicke ich ihn an. Ringe! Sie sind wunderschön silbern und glatt.

„Ich habe unsere beiden Namen eingravieren lassen.“ Langsam und andächtig streift Erik mir meinen Ring über den linken Ringfinger und nimmt meine Hand.

Glücklich ziehe ich seinen Kopf zu mir und küsse ihn. „Danke! Er ist wirklich sehr, sehr schön.“ Dann nehme ich seinen Ring und streife ihn über seinen Finger. Er grinst von einem Ohr zum anderen. „Aber wir sind jetzt nicht verlobt oder so?“, frage ich vorsichtig. Irgendwie macht mich die Sache ein klein wenig nervös.

Erik lacht schallend. „Nein. Ich wollte uns beiden einfach nur eine Freude machen. Außerdem wollte ich etwas haben, das uns immer verbindet.“

„Ah, gut. Ich dachte schon ...“

„Sieh ihn einfach als Geschenk.“ Er blickt wieder nach oben. „Weißt du was, vielleicht siehst du mich ja mal in einem Tornado Richtung Himmel fliegen?“

„Ja, das wäre cool. Aber noch bist du kein Pilot und das Auswahlverfahren soll ziemlich hart sein“, entgegne ich mit einem nachdenklichen Blick auf meinen Ring. Er ist schlicht und edel.

„Du wirst schon sehen“, kontert er verschmitzt und zwinkert mir zu. „Das schaffe ich.“

Während er lange völlig fasziniert in den Himmel sieht, erfasst mich ein seltsames Gefühl. Ein Gefühl, das Adrenalin durch meinen Körper schießen lässt. So, als ob man mit einem Fahrrad zu schnell einen extrem steilen Berg hinunterfährt, auf dem nasses Laub liegt. Und plötzlich kann man nicht mehr bremsen …

Ein ganzes Ja

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