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De rerum natura von außen – Titel, Geschichte, philosophischer Hintergrund
ОглавлениеDe rerum natura ist der Titel, unter dem das Gedicht des Lukrez firmiert, und zwar schon in den ältesten erhaltenen Abschriften (sonst wurden antike Werke häufig schlicht nach ihren Anfangsworten bezeichnet – eigene Buchtitel, wie wir sie heute kennen, waren eigentlich kaum gebräuchlich). Wie er adäquat ins Deutsche zu übertragen ist, dafür gibt es unterschiedliche Lösungen. Wörtlich übertragen bedeutet De rerum natura »Über die Natur der Dinge«, die rerum natura ist aber auch schlicht der lateinische Ausdruck für das, was wir als »Schöpfung« bezeichnen. Im Wort natura schwingen nämlich weit mehr Bedeutungen mit als in unserem Wort »Natur«: Es verweist nicht nur auf das Wesen und die Eigenschaften einer Sache (ihre »Natur«, also das, was geworden bzw. entstanden ist), sondern impliziert auch einen dynamischen Aspekt, der vom Ursprung des Wortes natura herrührt: Natura leitet sich vom Verb nasci (»entstehen«, »erzeugt werden«) ab und [12]bezeichnet damit auch das Werden, das heißt den Prozess der Entstehung einer Sache.
Aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive ergibt sich noch ein anderes Bild. Die griechischen Philosophen, die sich lange vor Lukrez mit Fragen nach dem Ursprung und der Erklärung aller Dinge beschäftigten, brachten eine Vielzahl von Werken ganz unterschiedlicher philosophischer Traditionen hervor, die aber alle den gleichen Titel tragen: Perí phýseos, was nichts anderes ist als die griechische Version von De rerum natura.
Diese Vielschichtigkeit des Titels De rerum natura spiegelt sich auch in den deutschen Übersetzungen wider: Hermann Diels orientierte sich 1923 mit »Von der Natur« an den griechischen Vorläufern, Georg Büchner wählte 1956 mit »Welt aus Atomen« einen auf den Inhalt bezogenen Titel, und Klaus Binder übertrug 2014 De rerum natura wörtlich mit »Über die Natur der Dinge«.
Wir können Lukrez’ Text wie auch die anderen antiken Texte heute nur noch lesen, weil sie immer wieder abgeschrieben und so weiter überliefert wurden. Der Text von De rerum natura hat es nur durch viele Zufälle in die heutige Zeit geschafft. Man hat nicht wie von manchen anderen Werken Hunderte Abschriften gefunden, sondern zunächst, in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, nur eine einzige Handschrift, vermutlich in einem Kloster in Süddeutschland (wie der Lukreztext gefunden und gerettet wurde und welchen enormen Einfluss er auf die geistesgeschichtliche Entwicklung Italiens und ganz Europas nahm, legte Stephen Greenblatt 2011 in The Swerve: How the World Became Modern dar [2012 auf Deutsch erschienen unter dem Titel Die Wende – wie die Renaissance begann]). [13]Dass das Werk aber auch in der Zeit nach seiner Wiederentdeckung noch nicht der »Gefahrenzone« der Vernichtung entkam, liegt an seinem Inhalt.
De rerum natura vermittelt die wesentlichen Säulen der epikureischen Philosophie. Epikur, der Begründer dieser philosophischen Schule, wirkte im 2. Jahrhundert v. Chr. und hat den (zweifelhaften) Ruf errungen, eine Philosophie der Lust begründet zu haben. Diese Zuschreibung greift aber zu kurz: Die drei Säulen der epikureischen Philosophie – Physik (Naturlehre), Kanonik (Erkenntnislehre) und Ethik (Verhaltenslehre) – dienten nicht dazu, dem Menschen ein ungezügeltes Schwelgen in Genüssen zu ermöglichen und die sinnliche Lust als Hauptziel eines erfüllten Lebens zu proklamieren. Ziel der epikureischen Philosophie ist es vielmehr, den einzelnen Menschen zu einem Leben frei von Unlust, das heißt von schädlichen Formen der inneren Erregung wie Furcht (vor allem vor den Göttern und dem Tod), maßloser Begierde oder Schmerz anzuleiten. Hat der Mensch einen solchen Zustand des Seelenfriedens (ataraxía, »Unerschütterlichkeit«), der zugleich auch der Zustand der höchsten Lust (hedoné bzw. voluptas) ist, erreicht, lebt er in Glückseligkeit (eudaimonía, eigentlich: »einen guten Daimon habend«).
Ein weiteres Schlagwort, das im Zusammenhang mit dem Epikureismus meist fällt, lautet: láthe biósas – »Lebe im Verborgenen«. Im Epikureismus wird gefordert, der Einzelne solle sich nicht politisch engagieren und im Gemeinwesen einbringen – vielmehr solle er ein Leben in Zurückgezogenheit und Abgeschiedenheit vom »Tagesgeschäft« führen. Auch diese Forderung muss man modifizieren, denn in bestimmten Situationen, die eine Gefahr [14]für das Gemeinwesen darstellen, ist der epikureische Weise durchaus aufgefordert, sich einzubringen.
Der epikureische Hedonismus und das zurückgezogene Leben des Einzelnen spielen in De rerum natura aber nicht die Hauptrolle. Lukrez befasst sich mit den Grundlagen der epikureischen Philosophie, der Physik.2 Die zentrale Annahme der epikureischen Naturlehre besteht darin, dass alles aus Atomen (átomos, »unteilbar«), also für das menschliche Auge unsichtbaren Teilchen besteht.3 Durch dieses Wissen lassen sich scheinbar unerklärliche und damit furchteinflößende Naturphänomene wie Erdbeben rational erklären, aber auch die Furcht vor dem Tod und vor allem vor dem, was nach dem Tod kommt, beseitigen. Anders als beispielsweise die Stoa geht der Epikureismus nämlich davon aus, dass auch die Seele sterblich ist. Lukrez beschreibt ihre atomare Struktur im Detail (s. S. 46–49) und hebt [15]hervor, dass sich die Atomverbindungen, die die Seele bilden, nach dem Tod wieder in einzelne Atome auflösen. Was von allem bleibt, sind die unzerstörbaren Atome. Dass die Seele in der Unterwelt Qualen erleidet, ist also unmöglich. Ebenso hat man zu Lebzeiten die Götter nicht zu fürchten: Auch sie bestehen aus Atomen und leben in ihren eigenen Welten, den sogenannten Intermundien (»Zwischenwelten«). Für die Menschen interessieren sie sich nicht; alle Gebete oder Opfer, die ihnen dargebracht werden, bleiben daher ohne Reaktion. Darin liegt ein für Lukrez ganz wesentlicher Punkt: Auch die Angst vor den Göttern und abergläubische Furcht (religio) ist unnötig, denn das Leben der Menschen hat nichts mit den Göttern zu tun. Diesen Gedanken wiederholt Lukrez in De rerum natura häufig und macht ihn durch Beispiele für irregeleitete Handlungen der Menschen anschaulich. Es ist also kaum verwunderlich, dass Vertreter der christlichen Kirche über die Verbreitung von De rerum natura lange Zeit nicht gerade begeistert waren.4