Читать книгу Virenkrieg I. Komplettversion - Lutz Büge - Страница 4

Оглавление

Prolog 1

9. September 2022

Seattle, Lakeside Avenue

Der Himmel war tiefblau, als habe ihn ein unerbittlicher, stählerner Besen leergefegt. Die Sonne glitzerte auf den Wellen von Lake Washington, die von einigen dahinschnellenden Segelbooten durchschnitten wurden, und in der klaren Luft erhoben sich weit jenseits des Sees in der Ferne die schneebedeckten Viertausender-Vulkane der Cascade Range. Nur im Südosten, wo Mount Rainier thronte, ballten sich Wolken. Der mächtige Vulkan entzog sich häufig den Blicken der Tiefländer.

Samuel McWeir liebte dieses Panorama. Hier oben im Nordwesten war die Welt noch in Ordnung. Das ließ sich sonst nur noch von sehr wenigen Orten auf diesem Planeten behaupten. Stundenlang konnte Samuel auf der Terrasse seiner Villa sitzen, besonders wenn er, wie jetzt, von einer längeren, erschöpfenden Reise durch mehrere US-Bundesstaaten zurückgekehrt war, in deren Verlauf er sich mit viel Banalem hatte abgeben müssen. Er liebte das sanfte Glucksen, mit dem Lake Washington um die hölzernen Fundamente der Terrasse spülte, und er liebte es, sein Leben, das weitgehend hinter ihm lag, mit dem Blick auf die Cascade Range zu vergleichen. Dabei war ihm völlig klar, dass etwas Anstrengung nötig war, um den Anblick einer Gipfelkette nicht etwa mit einer Kurve von Börsennotierungen eines Unternehmens zu assoziieren oder mit dem Auf und Ab eines menschlichen Lebens, sondern mit einer immerwährenden Erfolgsgeschichte, einem permanenten Gipfelsturm, der nur eine Richtung kannte: aufwärts.

Samuel empfing gern Journalisten, damit sie über ihn berichteten, aber vor ungefähr einem Monat, vielleicht auch erst vor drei Wochen – jedenfalls vor seiner Reise nach Arkansas – hatte er eine junge Frau hinausgeworfen. Sie hatte ihn von Anfang an mit Misstrauen erfüllt, unter anderem weil sie von einem dieser Blogs kam, die in der Medienarbeit mittlerweile so wichtig waren wie Fox News. Raphael, Samuels Medienberater, hatte ihm geraten, die Journalistin zu empfangen, aber kaum hatte er sie gesehen, da wusste er schon, dass es in die Hose gehen würde. So freundlich, so herzlich – und so ehrgeizig! Die Sprache kam auf seine Arbeit, und statt der üblichen Fragen – „Wie haben Sie sich gefühlt, Sir, als Sie den Nobelpreis in Empfang nahmen? Meinen Sie nicht, Sir, dass Sie den Nobelpreis schon mindestens zwei Jahre früher verdient hätten?“ und derlei –, statt solche Fragen zu stellen, hatte diese Frau wissen wollen:

„Mr. McWeir, glauben Sie wirklich, dass Sie den Nobelpreis verdient haben?“

Der Affront beschäftigte ihn noch heute, Wochen später. Die Frage hatte etwas in ihm aufgerührt. Ja, er war überzeugt davon, dass er den Preis verdient hatte, denn er hatte viel geleistet. Er verstand nicht, wie jemand daran offenbar zweifeln konnte. War das etwa ein Vorbote dessen, was in linken Medien gern als „kritische Würdigung“ bezeichnet wurde? Durfte man denn nicht mehr seine Meinung sagen? Samuel stand dazu, was er der Nation neulich in jenem Time-Interview zu amerikanischen Werten und Tugenden gesagt hatte, aber vielleicht wäre es doch klüger gewesen, hätte er diese Gedanken für sich behalten. Dann hätte er seinen Frieden gehabt und könnte so sterben, wie er es sich immer vorgestellt hatte, ganz schlicht, zurückgelehnt im bequemen Liegestuhl, vor sich auf dem Tisch eine Tasse Tee, die Maggie ihm gerade serviert hatte, die nagenden Geräusche des Wassers im Ohr, und das letzte, was er auf Erden sähe, wäre dieses unglaubliche Bergpanorama.

Er war unruhig. Immer wieder sah er auf die Uhr, die inzwischen 3:20 nachmittags zeigte, und schüttelte den Kopf. Es war nicht Michaels Art, sich zu verspäten. Zumindest würde er etwas von sich hören lassen, eine erklärende SMS, ein kurzer Anruf. Um 17 Uhr kamen die Gäste zur jährlichen Soirée, und zwischen Samuel und Michael war verabredet, dass sie sich vorher in Ruhe ein wenig unterhalten wollten. Samuel freute sich darauf, den jungen Professor von seiner in Schwung kommenden Karriere berichten zu hören, von den Projekten mit all dem unerforschten Leben, das er da unten in Phoenix auf den Labortisch bekam. Michael berichtete zwar in regelmäßigen Mails, wie es ihm erging, aber es war doch etwas anderes, wenn man sich beim Erzählen gegenübersaß. Samuel war vor allem auf die Dinge neugierig, von denen Michael in seinen Mails wohlweislich nichts schrieb.

Samuel hatte die Universität von Phoenix dezent auf den jungen Mann hingewiesen, als er von dem Projekt mit Fupro gehört hatte. Dieses Projekt entsprach in seiner Bedeutung dem Human Genom Project, in dem Ende des vergangenen Jahrtausends das menschliche Erbgut komplett kartiert worden war. Am CER – dem Center for Epidemiological Research – wollten sie etwas Ähnliches mit der Welt der Mikroben versuchen, doch dagegen war das Human Genom Project ein Kinderspiel. Samuel schätzte, dass weniger als ein Tausendstel aller auf Erden existierenden mikroskopisch kleinen Lebensformen überhaupt bekannt, geschweige denn systematisch erfasst oder gar erforscht worden war. Über die großen Menschheitsgeißeln wie die Erreger der Pest oder der Lepra wusste man natürlich eine Menge, aber es gab unzählige weitere mikroskopisch kleine Organismen, über die sich kaum jemals ein Wissenschaftler den Kopf zerbrochen hatte, einfach weil sie noch niemand bemerkt hatte. In dieser Welt des Mikroskopischen stand die Wissenschaft immer noch ganz am Anfang. Selbst in Sachen Tiefseeforschung war man inzwischen weiter. Und jenseits des Mikroskopischen, in Bereichen, die kein konventionelles Lichtmikroskop mehr erhellen konnte, wartete das Universum der Viren auf Erforschung. Dafür war Michael Schwartz genau der Richtige.

Sie suchten also einen Mikrobiologen und Genetiker dort unten in Arizona. Eigentlich hatten sie nach jemanden mit etwas mehr Erfahrung Ausschau gehalten, doch wenn ein Nobelpreisträger jemanden empfahl, dann schaute man sich den Kandidaten zumindest einmal genauer an. Samuel hatte gewusst, dass es passen würde. Michael war sein bester Student, eine Art Meisterschüler, und das wollte etwas bedeuten, denn im Laufe der Jahre hatte Samuel etliche junge Leute ausgebildet. Michael war etwas Besonderes. Samuel hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn auch über den Zeitpunkt seiner Emeritierung hinaus zu unterstützen, so wie er selbst damals unterstützt worden war. Er hatte denen in Phoenix nichts aufgeschwatzt, im Gegenteil: Er hatte ihnen ein Jahrhunderttalent vermittelt. Manchmal genügten eben ein paar Worte, um Großes zu bewirken. Man musste nur die richtigen Menschen zusammenbringen.

Seit zwei Monaten war Michael nun in Phoenix. Zuletzt hatte sich der Tonfall seiner Mails verändert. Es musste mit dem Tod seines Vaters zusammenhängen. Samuel hatte natürlich sein Beileid ausgesprochen, das Unglück aber ansonsten nicht kommentiert. Philipp Schwartz, Senator von Vermont, war ein demokratisches Weichei. Einer, der hinter jeder noch so geringfügigen Kooperation gleich finstere Machenschaften des militärisch-industriellen Komplexes witterte. Samuel hatte stets seinem Land und seinen Präsidenten gedient, auch der Präsidentin. Für Bedenkenträger wie diesen Senator hatte er nichts als Verachtung übrig, aber zu Michael hatte er darüber natürlich kein einziges Wort verloren. Michael war völlig anders als sein Vater, er war einer von denen, die das Land voranbringen wollten, einer von denen, die neugierig voranstürmten und sich beim Anblick eines Busches nicht als erstes fragten, welche Gefahr dahinter lauern mochte. Aber der Tod seines Vaters hatte ihn natürlich verstört. Das war nur normal.

Schade war allerdings, dass Michael auch in Phoenix kein Glück bei den Frauen zu haben schien. Das las Samuel zwischen den Zeilen heraus, und diese Frage hatte er vor allen anderen heute Nachmittag ansprechen wollen. Michael musste unbedingt daran denken, seine Gene weiterzugeben! Das Projekt, die Arbeit – alles wunderbar. Doch darüber durfte Michael nicht vergessen, Kinder zu zeugen. Leider waren die Frauen heute völlig anders als damals, viel komplizierter, viel mehr darauf erpicht, selbst Karriere zu machen, statt sich darum zu kümmern, ihrem Mann im Hintergrund den Rücken frei zu halten und ihm Kinder zu gebären. Dafür war natürlich die demokratische Gleichmacherei verantwortlich. So eine wie Maggie, die Samuel durchs Leben begleitet und ihre fünf Kinder erzogen hatte, so eine Frau war heutzutage leider kaum noch aufzutreiben. Samuel verstand nicht, warum die Frauen vielfach nichts mehr von den Vorzügen der klassischen Arbeitsteilung hielten. Dabei war Michael doch ein gutaussehender Mann!

3:30 Uhr. Noch immer kein Ton von Michael. Sie waren für drei Uhr verabredet gewesen.

Irgendetwas muss passiert sein, dachte Samuel McWeir.

Fragend sah er Maggie an, die ihm gegenüber am Tisch auf der Terrasse über den Wellen von Lake Washington saß und so oft wie möglich tief durchatmete, bevor die Gäste kamen, denn sie mochte diese Akademiker-Soirées nicht.

Sie erfasste, was in Samuel vorging, und zuckte mit den Achseln.

„Das Flugzeug aus Phoenix, mit dem er kommen wollte, ist vor drei Stunden gelandet“, sagte sie, bevor er fragen konnte. „Michael war nicht an Bord.“

Sie hatte im Netz nachgesehen, auf seinen Wunsch hin mehrfach.

„Es muss etwas passiert sein“, wiederholte Samuel laut seinen Gedanken. „Das ist nicht Michaels Art.“

„Ach, Sam, verstehst du die Welt noch?“

Samuel runzelte die Stirn.

„Ich bilde es mir ein“, gab er zurück, „aber was hat das mit Michael zu tun?“

„Gar nichts, du hast recht“, sagte sie seufzend.

Wie immer gab sie nach, sobald er nachhakte. Sie wich jeder ernsthaften Diskussion aus, um des lieben Friedens willen.

Es klingelte an der Tür.

„Das wird er sein“, sagte Samuel, und Maggie stand ächzend auf und schlurfte von der Terrasse ins Haus. Es klingelte erneut, bevor sie die Haustür erreichte.

Samuel setzte sich aufrecht hin und machte sich bereit, in jugendlicher Frische aufzuspringen und seinem vielversprechendsten Studenten freudig entgegenzueilen. Doch anstelle von Michael kam ein unbekannter Mann hinter Maggie auf die Terrasse, der einen billigen Anzug trug.

Samuel runzelte die Stirn.

„Wer ist das denn?“

„NSA, sagt er“, antwortete Maggie.

Da zeigte ihm der Agent seine Dienstmarke, die tatsächlich von der NSA war. Allerdings hielt er sie ein wenig ungeschickt zwischen Daumen und drei Fingern, und sein Mittelfinger klopfte zweimal gegen den Rand der Marke, als habe der Agent ein Nervenleiden. Doch Samuel erkannte das Zeichen. Er blickte erstaunt auf.

„Fredrick Johnson“, sagte der Agent. „Osborne schickt mich. Ich habe ein paar Fragen an Sie, Sir.“

„Osborne?“, wiederholte McWeir ungläubig. „Osborne schickt jemanden? Warum benutzt er nicht das Net?“

„Bitte, Sir, es geht um Michael Schwartz. Können wir uns unterhalten?“

Samuel zuckte zusammen.

„Gehen wir in mein Arbeitszimmer“, sagte er und erhob sich schwerfällig. „Ist etwas mit Michael geschehen?“

„Er ist … verschwunden.“

McWeir registrierte das leise Zögern vor „verschwunden“.

„Kommen Sie“, sagte er.

Virenkrieg I. Komplettversion

Подняться наверх